VI

Der Herr erwartete sie. Er benutzte eine der Herbergen der Irren als Arbeitsraum und umgab sich dort mit ganzen Schubladen voller beschriebener Papiere. Var hatte den Zweck dieser Aufzeichnungen nie begriffen, doch stellte er die Weisheit seines Wohltäters nicht in Frage. Der Herr konnte lesen und schreiben.

Ehrfurchteinflößende, aber nutzlose Fertigkeiten. »Hier ist dein Krieger«, sagte Sola. »Var der Stockkämpfer, ein Mann in des Wortes wahrster Bedeutung.« Und mit rätselhaftem Lächeln ging sie zu ihrem eigenem Zelt. Der Herr stand in der gläsernen Drehtür der zylindrischen Herberge und begutachtete Var. »Ja, du hast dich verändert.

Weißt du jetzt, was es heißt, ein Geheimnis zu wahren? Es zu kennen und nicht weiterzuerzählen?«

Var nickte und dachte an das, was zwischen ihm und der Frau des Herrn geschehen war. »Ich habe ein Geheimnis für dich. Komm mit.« Ohne weitere Frage oder Erklärung führte der Namenlose ihn fort von dem Bau und ließ die Tür sich drehen. Var warf einen Blick zurück auf den funkelnden durchsichtigen Zylinder, der die Herberge und ihre geheimnisvollen Mechanismen krönte. Dann drehte er sich rasch um und folgte dem Herrn.

Sie marschierten eine Meile weit, vorüber an Kriegern und deren Familien, die ihren verschiedenen Beschäftigungen nachgingen – Waffenübungen, Ausbessern von Kleidung, Ausnehmen von Wild –, und tauschten unverbindliche Grüße aus. Der Herr hatte es nicht eilig. »Manchmal gerät ein Mensch in eine nicht selbst verschuldete oder gewählte Lage«, sagte er, »und er muß Schweigen bewahren, auch wenn ihm nach Reden zumute wäre. Die anderen halten ihn deshalb vielleicht für feige. Aber es gibt einen Mut, der anders ist als der im Ring geforderte.«

Var merkte, daß sein Freund ihm etwas Wichtiges sagte und daß das Geheimnis, das er ihm anvertrauen wollte, wichtig für sein ganzes Leben sein würde wie das Geheimnis Solas für seine Männlichkeit. Seltsame Dinge schienen sich vorzubereiten. Die Lage begann sich für ihn im Gegensatz zu früher völlig zu ändern.

Als sie außer Sicht- und Hörweite der anderen waren, verließ der Herr den ausgetretenen Pfad und fing zu laufen an. Gewichtig trabte er dahin, so daß der Boden erbebte, und sein Atem geräuschvoll keuchte, doch er lief sicheren Schrittes. Var lief mit, viel leichter und sehr neugierig. Er wußte wohl, daß der Herr ruhelos war – aber wohin führte er ihn jetzt?

Ihr Weg führte sie auf die hiesigen Ödland-Markierungen zu, sodann die Markierungspfähle entlang, endlich zwischen ihnen hindurch. Var hatte gedacht, der Waffenlose fürchte diese Gebiete seit seiner schweren Strahlenkrankheit, als sie einander begegnet waren. Damals hatte er Monate gebraucht, um wieder zu Kräften zu kommen. Und nachher hatte er die Folgen dieser Krankheit peinlich vor allen verborgen. Alle wußten, daß der Herr das Ödland mied und dabei äußerste Vorsicht walten ließ. Aber nun war klar, daß er sich nicht fürchtete. Warum hatte er die anderen in dem Glauben gelassen? War es das, was er gemeint hatte, als er von jener anderen Art von Mut gesprochen hatte? Aber welchen Grund konnte er dafür haben?

Tief drinnen im Ödland an einer Stelle, wo es keine Strahlung mehr gab, stand ein Lager. Es wurde von sonderbaren Kriegern bewohnt, von Männern, wie Var sie nie zuvor gesehen hatte. Sie trugen merkwürdige grüne Anzüge mit Knöpfen und Taschen, und auf den Köpfen trugen sie umgedrehte Töpfe. Sie hatten Metallbrocken in der Hand.

Der Anführer dieses merkwürdigen Stammes war sofort zur Stelle. Er wirkte klein und stämmig und hatte gelocktes gelbes Haar. Für den Kampf im Ring schien er ungeeignet. »Das ist Jim«, sagte der Herr. »Var der Stock«, setzte er hinzu, und damit war die Vorstellungszeremonie erledigt. Die zwei Männer beäugten einander argwöhnisch. »Jim und Var«, sagte der Herr voll Ingrimm. »Ihr kennt einander noch nicht, aber ich möchte, daß ihr mein Wort für bare Münze nehmt: Ihr könnt einander vertrauen. Ihr beide habt ein ähnliches Los – Jims Bruder ging vor zwanzig Jahren zum Berg. Var hat seine Angehörigen im Ödland verloren.«

Var war nicht weiter beeindruckt, und der andere schien seine Empfindung zu teilen. Ein Leben ohne Angehörige war kein persönliches Verdienst.

»Var ist ein Krieger, den ich persönlich ausgebildet habe. Seine Haut ist so strahlenempfindlich, so daß er – egal wohin er geht – jede Strahlung sofort spürt.«

Jims Interesse regte sich.

»Und Jim – Jim das Gewehr wenn du willst – kann lesen und schreiben. Ich habe ihn vor Jahren getroffen, als die… als sich die Notwendigkeit ergab. Er hat die alten Texte studiert und weiß von Schußwaffen mehr als jeder andere unter den Nomaden. Er bildet seine Gruppe in den alten Techniken der Kriegsführung aus.«

Jetzt erkannte Var die Waffe des Mannes. Es war einer jener Metallbrocken, die man in bestimmten Ödland-Gebäuden fand. Für den Einsatz im Ring schienen diese Dinger unbrauchbar. Es war daran keine scharfe Schneide zu sehen, und als Keule war die Waffe auch nicht einzusetzen, weil sie zu klein und zu plump war. Und schleuderte man sie einmal fort, dann war sie verloren.

»Var soll als Verbindungsmann zwischen dieser Gruppe und den anderen dienen«, sagte der Herr. »Sein Einverständnis vorausgesetzt. Später soll er als Späher arbeiten. Aber ich möchte auch, daß er schießen lernt.«

Jim und Var taten nichts weiter, als einander ansehen, »Nun, ich will das Eis brechen«, sagte der Herr. »Und dann muß ich zurück, ehe man mich vermißt. Var, würdest du mir den Krug holen?« Er deutete auf einen braunen Keramikkrug auf einem Baumstumpf.

Jim wollte etwas sagen, doch der Herr hob die Hand. Var lief zu dem Baumstumpf. Auf halbem Weg hielt er inne. Seine Haut brannte. Er ging ein paar Schritte zurück, wich seitlich aus und sah sich nach einem Weg aus dem Strahlungsbereich um.

Er brauchte dazu einige Minuten, schließlich aber fand er einen freien Zugang und holte sich den Krug. Er nahm denselben Weg zurück. Zu Jim und dem Herrn hatte sich ein Dutzend anderer gesellt, die schweigend zusahen.

Var brachte den Krug.

»Ja, es stimmt! Ein lebendiger Geigerzähler!« rief Jim verblüfft aus. »Den können wir tatsächlich gut gebrauchen.«

Der Herr gab Var den Krug zurück. »Sei so gut und stelle ihn in fünfzehn Meter Entfernung auf die Erde.«

Var kam der Bitte nach.

»Und jetzt zeige, was deine Schußwaffe kann«, sagte der Herr zu Jim.

Der Mann ging ins Zelt und kam mit einem Gegenstand wieder, der einem in der Scheide steckenden Schwert ähnelte. Er hielt ihn in die Höhe und richtete das schmale Ende auf den Krug.

»Es gibt ein lautes Geräusch«, warnte der Herr Var. »Es wird dir aber nichts ausmachen. Sieh genau zu dem Krug hin.«

Das tat Var. Plötzlich ertönte neben ihm ein Donnerschlag, der ihn hochspringen ließ und bewirkte, daß er nach seiner Waffe griff. Der in einiger Entfernung stehende Krug zersprang wie von einer Keule zerschmettert. Niemand hatte ihn berührt oder etwas danach geworfen.

»Das haben Metallstücke aus diesem Gewehr bewirkt«, erklärte der Herr. »Jim wird dir zeigen, wie es funktioniert. Wenn du willst, kannst du bei ihm bleiben. Ich komme in den nächsten Tagen wieder.« Und damit ging er und verfiel bald wieder in seinen Trab.

Jim wandte sich an Var. »Wie kommt es, daß du noch ungebunden bist, wenn er dich doch selbst ausgebildet hat und dich sogar in sein Geheimnis einweiht?«

Var ließ sich Zeit mit der Antwort. Ihm war bislang nicht klar gewesen, daß er zu niemandem gehörte. Er war nicht Mitglied des Imperiums des Namenlosen auch nicht Mitglied eines der unterworfenen Stämme, denn er war im Ring nie besiegt worden. Sein einziger Kampf war der um sein Mannestum gewesen. Für gewöhnlich schloß sich ein Krieger einem Stamm seiner Wahl an, indem er dessen Anführer zum rituellen Kampf herausforderte. Verlor er – was eigentlich unvermeidlich war, denn kein Neuling konnte es mit einem Anführer aufnehmen –, dann war er gemäß der Nomadenregel gebunden, und dem Willen des Anführers oder dessen Unterführers Untertan. Kämpfte er gegen einen Mann aus einem anderen Stamm und verlor er, dann ging seine Bindung an den anderen Stamm über. Gewann er, dann schloß sich der Verlierer seinem Stamm an. Seitdem Var Name und Armreif errungen hatte, war er frei in seinen Handlungen, solange, bis er diese Freiheit im Ring verlor.

Warum hatte der Waffenlose nie irgendwelche Verfügungen für Var getroffen? Und woher wußte Jim von diesem Versäumnis?

»Er achtete darauf, daß er seine Aufforderung in eine Bitte kleidete«, meinte Jim. »Das bedeutet, daß er dir nicht befehlen kann.«

»Ich… ich weiß nicht warum«, erwiderte Var. Und als er die Verblüffung in der Miene des anderen las, wiederholte er, diesmal um mehr Deutlichkeit bemüht: »Ich… weiß… nicht.«

»Nun, es geht mich ja nichts an«, versicherte Jim leichthin und tat so, als wäre ihm Vars unbeholfene Ausdrucksweise nicht weiter aufgefallen. »Ich jedenfalls mache mir diese Mühe nicht. Wenn ich dir sage, du sollst etwas tun, dann ist es kein Befehl, sondern nur ein guter Rat. Okay?«

»Okay«, wiederholte Var, dem diese Silben überraschend glatt von den Lippen gingen.

»Und ich werde dir sehr viel zu sagen haben, denn diese Waffen sind gefährlich. Sie können töten wie ein Schwert, und das aus großer Entfernung. Du hast ja den Krug gesehen.«

Var hatte ihn gesehen. An Stelle des Kruges hätte ein Mensch stehen können.

Jim faßte nach dem Metall an seiner Hüfte. »Jetzt die erste Lektion. Das hier ist eine Pistole, eine kleine Handfeuerwaffe. Eine von Hunderten, die wir in einem der Gebäude des Ödlandes in Kisten gestapelt fanden. Wir mußten diese Klicker-Dinger benutzen, um uns einen Weg ins Innere aufzuzeichnen. Ich weiß gar nicht, woher der Boß davon wußte. Ich leite dieses Lager seit drei Jahren, bilde die Leute aus, die er mir schickt… aber das ist jetzt nebensächlich.« Er machte etwas daran, und das Metall klappte auf. »Hohl, wie du siehst. Das ist der Lauf, und das ist eine Patrone. Man steckt die Patrone da hinein, klappt zu und wenn man diesen Abzug zieht – bumm! Die Patrone explodiert und ein Teil davon kommt hier heraus, ganz schnell. Wie ein Dolch, der geschleudert wird. Sieh gut zu.«

Er stellte ein Stück Holz auf, richtete das hohle Ende der Pistole darauf und drückte den Zeigefinger gegen das Ding, das er Abzug nannte. »Achtung«, sagte er und es knallte. Rauch kräuselte sich aus der Waffe, und das Holzstückchen tat einen Sprung.

Jim ließ nun die Waffe aufklappen und zeigte Var das Innere. »Siehst du, die Patrone ist weg. Und wenn du dir das Zielobjekt ansiehst – das Holz da drüben –, wirst du sehen, wo die Kugel eingeschlagen hat.« Er bot Var die Waffe an. »Und jetzt versuchst du es mal.«

Var nahm die Waffe und brachte mit etlicher Mühe eine Patrone hinein. Seine Hand aber konnte den Griff nicht richtig fassen, seine Finger waren zu dick und verformt, um den Abzug zu betätigen. Jim, der diese Schwierigkeit sofort erfaßte, gab ihm rasch eine größere Waffe. Mit dieser konnte Var umgehen.

Der Schock pflanzte sich in seinen Arm fort, doch war er leicht im Vergleich zu einem Hieb im Ring. Seine Kugel bohrte sich ins Erdreich. »Wir werden dir das Zielen schon noch beibringen«, versprach Jim. »Denk dran, die Knarre ist eine Waffe, aber anders als die Waffen, die du gewöhnt bist, kann sie auch ungewollt töten. Behandle sie daher so wie ein in Bewegung befindliches Schwert. Nämlich mit Respekt.«

In den folgenden Tagen lernte Var eine ganze Menge. Er hatte geglaubt, es gäbe nur noch wenig für ihn zu lernen, nachdem Sola ihn mit den wundersamen menschenfreundlichen Einzelheiten der Fortpflanzung des Lebens bekannt gemacht hatte. Jetzt zeigte Jim ihm die verheerenden menschenfeindlichen Einrichtungen, die Leben beendeten.

Wochen später kam der Herr, ihn zu holen. »Jetzt kennst du einen Teil meines Geheimnisses«, sagte er. »Und ich werde dir auch alles übrige sagen. Das hier ist eine Invasionstruppe. Wir werden eine Invasion gegen den Berg beginnen.«

»Den Berg!«

»Gegen den Berg des Todes, jawohl! Er ist nämlich nicht das, was du glaubst, was alle Nomaden glauben. Nicht alle, die dorthin gehen, müssen sterben. In seinem Inneren leben Menschen ähnlich den Irren, aber mit Waffen ausgerüstet. Sie nehmen Geiseln.« Er unterbrach sich und schwieg einen Augenblick. »Wir müssen den Berg erobern und diese Menschen heraustreiben. Erst dann ist die Sicherheit des Imperiums gewährleistet.«

»Ich verstehe das nicht.« Eigentlich klang Vars Frage nur wie ein fragendes Knurren.

»Sechs Jahre lang habe ich das Imperium an der weiteren Ausbreitung gehindert, weil ich die Macht der Unterwelt fürchtete. Aber jetzt bin ich für einen Schlag gegen die im Berg bereit. Ich will damit nicht sagen, daß es böse Menschen sind, aber sie müssen vernichtet werden. Und wenn dieser Feind erst erledigt ist, dann wird das Imperium sich rasch ausdehnen, und wir werden die Zivilisation über den gesamten Kontinent verbreiten.«

Also hatten sich die Gerüchte der Unzufriedenen auch in diesem Punkte geirrt! Der Waffenlose unterdrückte das Imperium nicht, wenigstens nicht für immer.

»Ich habe für dich einen gefährlichen Auftrag. Ich habe dir Handlungsfreiheit gelassen und dich nicht an mich gebunden, damit du dich selbst entscheiden kannst. Du wirst ganz allein arbeiten müssen, an sehr unwirtlichen Orten, und außer mir darfst du niemandem von deiner Mission und von deinen Abenteuern erzählen. Jim sagte ich, du seiest ein Verbindungsmann und Späher, aber es handelt sich um ein gefährliches Ausspähen, von dem er sich keine Vorstellung machen kann. Du wirst vielleicht einen gewaltsamen Tod erleiden, aber nicht den im Ring. Vielleicht wird man dich foltern. Du wirst womöglich von tödlichen Strahlen gefangen. Du wirst die Regeln des Ringes verletzen müssen, um deine Mission erfolgreich abzuschließen, denn wir haben es mit skrupellosen Menschen zu tun. Der Führer der Unterwelt hat für unsere Sitten und unsere Ehre nur Verachtung übrig.«

Der Herr wartete, doch Var gab keine Antwort. »Du darfst dir nach deiner Rückkehr etwas wünschen. Ich möchte dir fair entgegenkommen.«

»Wenn ich das getan habe«, formulierte Var sorgfältig, »werde ich dann zum Imperium gehören?«

Der Namenlose sah ihn erstaunt an. Dann fing er zu lachen an. Auch Var lachte, obwohl er nicht wußte, was daran so komisch war.