XIII

Nach einem Monat hatten sie das Einflußgebiet des Herrn bereits weit hinter sich gelassen. Var aber wagte keine Pause einzulegen. Der Namenlose mochte langsam sein, aber er war fest entschlossen, wie Var von ihrer ersten Begegnung her noch wußte. Er wußte, daß die einzelnen Stammesführer den Herrn über die Route der Flüchtenden unterrichteten. Ein Entkommen war also nur durch ständige Flucht gewährleistet.

Zunächst hatte Soli sich immer versteckt, wenn sie auf Menschen trafen, denn sie war ja offiziell tot. Dann aber kamen sie auf die Idee, daß sie als Junge auftreten, ja daß sie sogar die Stöcke tragen könnte. Niemand würde sie erkennen. So wanderten sie weiter, ein häßlicher Mann mit einem bildhübschen Jungen, und niemand forderte sie zum Kampf heraus.

Sie zogen westwärts, denn das Imperium des Herrn lag im Osten, und Soli hatte gehört, im Süden läge der Ozean. Ein ausgedehntes verlassenes wüstenhaftes Ödland zwang sie nach Norden. Sie gingen Schwierigkeiten meist aus dem Weg, doch wenn sie sich ihnen erbarmungslos in den Weg stellten, schlugen sie zurück. Einmal forderte ein grobmäuliger Schwertkämpfer Var heraus und nannte ihn etwas, das er nicht verstand. Nur eines merkte er: Es sollte eine Beleidigung sein. Er trat dem Schwertkämpfer im Ring entgegen, drückte ihm die Nase ein und schlug ihm mit den Stöcken über den Kopf. Keine schöne Sache. Ein andermal verweigerte ein kleiner Stamm ihnen den – Zutritt zur Herberge. Var schlug einen blutig, Soli einen zweiten, die übrigen ergriffen die Flucht. Die außerhalb des Imperiums lebenden Krieger waren schwache Kämpfer.

Im zweiten Monat stießen sie auf eine so ausgedehnte Wüste, daß sie umkehren mußten. Aus Angst vor dem Herrn hielten sie sich an die Wildnis und mieden die begangenen Pfade.

Die Nahrungsbeschaffung erwies sich in diesem kargen Hügelland als äußerst schwierig. Zum Fallenstellen oder Jagen blieb keine Zeit. Soli mußte sich wieder in ein Mädchen verwandeln, um Herbergen betreten und Essen holen zu können, während Var draußen allein herumlungerte. Sie kam mit der Nachricht wieder, der Waffenlose hätte dieses Gebiet zwei oder drei Tage nach ihnen passiert. Er befand sich nun außerhalb seines Imperiums, doch war dieses weißhaarige Ungeheuer von einem Mann unverwechselbar. Wenn er sprach, dann nur, um Var zu beschreiben und sich über seinen Weg Sicherheit zu verschaffen. Den Ring betrat er nicht. Für Vars kleinen Begleiter zeigte er kein Interesse.

Also stimmte es. Der Herr war ihm auf der Spur und hatte alles andere zurückgelassen. Var verspürte Angst und Bedauern. Er hatte gehofft, der Feldzug gegen den Berg würde den Namenlosen so in Anspruch nehmen, daß ihm die Mordlust verging, und daß er nur einen Häscher nach ihm ausschickte. Var fühlte sich durchaus in der Lage, einen solchen Mann im Ring zu besiegen. Nur dem Herrn selbst konnte er nicht entgegentreten, nicht aus Angst, obgleich er wußte, daß der Herr ihn töten würde, nein, allein deswegen, weil er sein einziger wahrer Freund gewesen war.

Doch jetzt wußte er, daß es sein mußte. Der Herr würde die Verfolgung nicht aufgeben.

Sie wandten sich nordwärts, gingen sehr schnell und schliefen im Wald, auf den offenen Ebenen, auf der Tundra. Soli holte Vorräte aus den Herbergen, manchmal als Mädchen, dann wieder als Junge.

Und doch lief ihnen die Nachricht voraus. Immer wenn sie Fremden begegneten, zogen sie Blicke auf sich, die halbes Erkennen andeuteten. »Du mit der fleckigen Haut, bist du nicht derjenige, hinter dem der große Rächer her ist?« Aber diese Begegnungen stellten kein Hindernis dar, denn Var eilte ein verheerender Ruf voraus, und in diesem Gebiet, wo die Krieger nur ungenügend ausgebildet waren, beruhte dieser Ruf auf Tatsachen. Die wenigen, die ihn herausforderten, waren hinkende Beweise seiner Kampfkraft.

Und nur wenige ahnten, daß sein jugendlicher Begleiter ein noch gefährlicherer Gegner war, weil er über eine ausgefeilte Stock-Technik verfügte und überdies die waffenlose Verteidigung beherrschte. Nur wenn sie als Paar gegen ein anderes Paar kämpfen mußten, trat diese Eigenschaft zutage. Soli, die gegnerischen Hieben hervorragend auszuweichen verstand, focht hinter Var und um ihn herum, und die Gegner waren bald erledigt.

Nach zwei weiteren Monaten ziellosen Wanderns gelangten sie an das Ende des Irren-Gebietes. Mit den Herbergen war nun Schluß, und die von den Irren-Traktoren geebneten leicht begehbaren Wege endeten hier ebenfalls. Die Einöde wurde zu einer echten Wildnis. Und es war Winter.

Furchtlos stießen sie ins schneebedeckte Unbekannte vor. Es war ein wilder Dschungel kahlastiger Bäume, durchzogen von Wasserrinnen und Steinen, über die man stolperte. Und das alles unter einer ebenmäßigen weißen Decke. Als es dunkelte, setzte wieder Schneefall ein, sachte zunächst, später heftiger. Soli wurde mißmutig und still, denn hier war alles ungewohnt für sie. Noch nie zuvor war sie mit Schnee in Berührung gekommen. Sie war ja nie oberhalb der Schneegrenze aus dem Berg gekommen. Für sie war er etwas Weißes, aber nicht unbedingt Kaltes oder Unbehagliches. Var merkte, daß die rauhe Wirklichkeit ihr zu schaffen machte und sie ängstigte, weil sie mit den Füßen einsank und ihr die kalte Nässe ins Gesicht flog.

Var grub ein Loch in den Schnee, bis er auf die noch nicht gefrorene Grasnarbe stieß. Rundherum schichtete er eine Mauer aus zusammengepreßtem Schnee auf. Auf den Boden breitete er eine Decke, darüber setzte er ein Zelt, auf dem sich der Schnee aufhäufen konnte. Bis auf eine Öffnung für die Atemluft machte er dieses Gebilde dicht und schaffte sie hinein. Er streifte ihr die Stiefel ab, leerte das eingedrungene Wasser aus und knetete ihre Füße, bis sie sich endlich wieder erwärmten. Sie ließ ihren Tränen längst nicht mehr so freien Lauf wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft, und das bedauerte er, denn nun blieb das Elend in ihr stecken, und sie wurde es lange nicht los.

Nach dem Essen hielt er sie an sich gedrückt und versuchte sie zu trösten. Allmählich beruhigte sie sich und schlief ein.

Am Morgen aber war sie nicht wachzubekommen. Beunruhigt zog er sie trotz der Kälte ganz aus, trocknete sie ab und entdeckte schließlich die Einstichstelle: Am blauen Fußknöchel knapp über ihrem unbeschuhten Fuß. Etwas Ähnliches wie ein Ödland-Falter hatte sie unbemerkt gestochen. Hatten sie ihr Lager etwa nahe einer Strahlungsrandzone aufgeschlagen? So weit entfernt, daß seine Haut nichts merkte, aber doch so nahe, daß typische Tiergattungen schon in Erscheinung traten? Wäre die Gegend nicht verschneit gewesen, hätte er sie womöglich erkannt. Wahrscheinlich gab es hier überwinternde Larven, die durch die Körperwärme zur Aktivität erwacht waren. Eine hatte zugestochen und Soli lag nun im Koma.

Zu dieser Jahreszeit und in dieser Gegend gab es kein Heilkraut, das ihren Zustand lindern konnte. Dazu kam ihre geringe Körpergröße. Hatte sie zuviel von dem Gift abbekommen, dann würde sie schlafen, bis sie starb. Eine kleine Dosis konnte sie überleben – wenn sie es ausreichend warm und trocken hatte.

Der Schneesturm war abgeflaut, würde aber wiederkommen. Und während der Nacht würde es wieder bitter kalt werden. Aber auch so war dies nicht der geeignete Ort für eine Kranke. Er mußte sie in eine geheizte Herberge schaffen.

Er baute das Zelt ab, packte alles hastig zusammen und schleppte sie, in Schlafsack und Zeltleinwand gehüllt, fort. Er kämpfte sich durch knietiefen Schnee, überwand hüfttiefe Wächten und gönnte sich keine Ruhepause, obwohl seine Arme unter der Last steif wurden und seine Füße bleiern.

Nach einer Stunde trat er in ein vom Schnee zugewehtes Erdloch, stolperte, fing sich und fing Soli noch rechtzeitig auf, die ihm von der Schulter gleiten wollte – doch dann brach er fast zusammen, als ihm der Schmerz das Bein hochschoß. Er schritt weiter aus, wie zuvor und beachtete den Schmerz nicht, bis der erst später eintretende Schmerz in seinem angeschwollenen Knöchel ihn zwang, stehenzubleiben. Er zog den Stiefel aus und rieb den Fuß mit Schnee ab. Barfuß lief er weiter.

Nach einer Weile mußte er erneut anhalten und sich allen überflüssigen Gewichts entledigen. Dann hob er Soli wieder hoch und lief weiter, weil er mußte. Und noch ehe es dunkel wurde, legte er ihren schlaffen Körper in der warmen Herberge nieder, der letzten, in der sie eingekehrt waren.

Solis Atem kam flach, doch fehlten ihr das Fieber und der Schüttelfrost einer ernsten Erkrankung. Var schöpfte Hoffnung, daß er es noch rechtzeitig geschafft hatte, und daß es sich nur um eine leichte Infektion handelte.

Er legte sich neben sie. Das Schmerzgefühl in seinem Bein meldete sich mit erschreckender Deutlichkeit. Die Verstauchung an sich wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen, wenn er sie nicht durch sein Weiterlaufen verschlimmert hätte. Jetzt aber -

Da hörte er ein Geräusch.

Ein Mann näherte sich der Herberge. Er ging den eisigen Weg entlang, den die Irren freigeschaufelt hatten. Und seine Absicht war unverkennbar. Er wollte die Nacht in der Herberge verbringen.

Var hatte kaum eine halbe Stunde Ruhe gehabt, kaum ausreichend zur Kräftigung seiner Glieder, aber mehr als genug, daß sein Knöchel zu einer Qual hatte anschwellen können. Doch nun raffte er sich mühsam auf und umwickelte sein Bein mit einer Bandage, die ihm etwas mehr Standfestigkeit verlieh. Bislang hatten er und Soli sich versteckt halten können, doch wenn jemand sie nun sah, dann war ihr Geheimnis gelüftet. Sie hatten einen Marschtag verloren und der Herr würde gewiß in unmittelbarer Nähe sein. Innerhalb weniger Stunden konnte er zur Stelle sein, falls er von ihrem Aufenthalt hier erfuhr.

Aber die näher kommenden Schritte waren nicht die des Waffenlosen. Sie waren zu leicht und zu flink. Aber Var konnte neben sich in der Herberge keinen anderen dulden, nicht, solange Soli krank war, nicht, solange beide praktisch wehrlos waren.

Er zog sich mühsam den schweren Winterparka an, zog die Kapuze tief ins Gesicht, um so die Flecken über dem Bart zu verbergen, nahm seine Stöcke und kämpfte mit aller Gewalt gegen den Schmerz, der drohte, ihm das Bein unter dem Leib einknicken zu lassen. So trat er durch die Drehtür ins Freie, um dem Fremden zu begegnen.

Es war noch hell, obwohl der Tag sich dem Ende zuneigte. Der Schnee reflektierte das Licht der tiefstehenden Sonne, so daß er die Augen zusammenkneifen mußte. Es dauerte einen Augenblick, ehe er den Störenfried deutlich ausmachen konnte.

Der Mann war mittelgroß, hellhäutig und gut proportioniert. Er trug einen großen Wandersack, der hinter seinem Kopf in die Höhe ragte. Feine, fast weibliche Gesichtszüge, dazu seltsam geschmeidige Bewegungen. Er wirkte harmlos wie ein Wanderer, der das Land zum Vergnügen durchstreifte. Ein Einzelgänger. Var wußte, es war ein Fehler, ihm die Unterkunft in der warmen Herberge zu verweigern, noch dazu so spät am Tag, aber da Solis Gesundheit auf dem Spiel stand, blieb ihm keine andere Wahl. Der Herr hätte davon erfahren können und wäre zur Stelle gewesen, ehe sie wieder wohlauf war. Und das wäre ihrer beider Untergang gewesen. Er vertrat dem anderen den Weg.

Der Mann sagte kein Wort. Er sah Var nur fragend an.

»Meine – Schwester ist krank«, sagte Var, wohl wissend, daß seine Worte wie immer für einen Fremden fast unverständlich klangen. Wenn er jemanden kannte, fiel ihm das Sprechen leichter, weil der andere sich nach seinen Mundbewegungen richtete und sich alles zusammenreimen konnte. »Ich muß dafür sorgen, daß sie Ruhe hat.«

Der Reisende sagte noch immer kein Wort. Statt dessen machte er eine Bewegung, als wolle er an Var vorbei.

Wieder vertrat Var ihm den Weg. »Schwester – krank. Muß… Ruhe haben.« Er sprach die Worte so sorgfältig wie möglich aus.

Noch immer schweigend, wollte der Mann an ihm vorbei.

Var hob einen Stock.

Der Mann langte mit einer Hand über seine Schulter und zog seinen eigenen Stock hervor.

Also mußte die Sache im Ring ausgetragen werden.

Var hatte keine Lust, jetzt gegen diesen Mann zu kämpfen, denn er konnte sich gut in die Lage des anderen hineinversetzen. Var und Soli hätten auch jederzeit um ihr Recht, in einer Herberge zu wohnen, gekämpft. Der andere war mit Recht verärgert. Und Var befand sich in denkbar schlechter Verfassung für den Ring. Nur mit Mühe verbarg er die Schwäche seines Beines, dazu kam, daß die Mühen des Tages ihn allgemein sehr zugesetzt hatten. Und doch konnte er nicht die ganze Wahrheit enthüllen und eine Entdeckung riskieren. Der Mann mußte sich anderswo Quartier suchen.

Wenn der Fremde ein typischer Vertreter dieser Randgebiets-Krieger war, dann traute Var es sich zu, ihn trotz seiner eigenen Schwächen zu besiegen. Speziell in einem Kampf Stock gegen Stock. Einen Versuch mußte er wagen.

Der Mann ging ihm zum Ring voraus. Das bedeutete für Var eine Erleichterung, weil er sein Hinken verbergen konnte. Der Mann säuberte den Ring von Schnee, zog seinen zweiten Stock, legte den großen Proviantsack und seinen Parka ab und ging in Stellung. Und plötzlich sah er viel kämpferischer aus. Seine Bewegungen verrieten den Könner.

Var, der seine gefleckte Haut nicht den Blicken des anderen aussetzen wollte, mußte angezogen bleiben, obwohl seine Beweglichkeit dadurch erheblich eingeschränkt wurde. Er betrat den Ring, führte ein paar probeweise Angriffe, und sofort bestätigten sich Vars schlimmste Befürchtungen. Er stand einem Meister im Stockkampf gegenüber. Die Bewegungen des Mannes waren überaus glatt und gezielt, seine Hiebe höchst präzise. Noch nie zuvor hatte Var eine solche Körperbeherrschung gesehen. Und diese Behendigkeit – seine Hände waren einfach einmalig, und das bei dieser Kälte.

Da er wußte, daß er rasch siegen mußte, wenn es überhaupt eine Chance gab, legte Var sich mit Wildheit ins Zeug. Er war ein wenig größer als der Gegner und vermutlich stärker, und die Verzweiflung verlieh ihm ungewöhnliches Geschick, trotz seiner Verletzung. Tatsächlich focht er besser als je zuvor, und wußte doch, daß sein Kampfgeist nur wenige Minuten anhalten würde. Dann waren seine Reserven erschöpft. In einem Augenblick wie diesem hätte auch Tyl zurückweichen, seine Strategie ändern und zur Verteidigung übergehen müssen.

Doch der Fremde hielt jedem Angriff mit Leichtigkeit stand, sah Vars Strategie praktisch voraus und konnte so dessen Kraftaufwand unwirksam machen. Einer der fähigsten Stockkämpfer, die je den Ring betreten hatten!

Und dann, ganz plötzlich, ging der Mann zum Angriff über und durchdrang Vars Abwehr, als gäbe es sie gar nicht. Mit einem Hieb auf den Kopf setzte er ihn außer Gefecht. Halb bewußtlos fiel Var rücklings um. Er war am Ende.

Das Gesicht seitlich in den Schnee gedrückt, hörte Var etwas. Ein Geräusch, ein Beben des Bodens, wie von gewichtigen Füßen: Kr, kr, kr. Ein weniger in freier Wildnis geübtes Ohr hätte es gar nicht wahrgenommen, und selbst Var hätte es überhört, wenn er nicht so dagelegen hätte, das Ohr auf den Boden gedrückt.

Es war der entfernte Schritt des Herrn.

Der Sieger stand über ihm und sah neugierig auf ihn herunter.

»Fremder!« rief Var halb im Fieberwahn. »Nie zuvor bin ich einem wie dir begegnet. Ich erbitte von dir – « Er merkte, daß er nicht verstanden wurde und verlangsamte seine Worte. »Laß niemanden in die Herberge! Bewache sie, gib ihr Zeit…«

Der Mann ging in Hockstellung und sah ihn an. Hatte er überhaupt etwas verstanden? Es war noch nie vorgekommen, daß der Verlierer vom Sieger etwas erbat, aber was sonst hätte er tun sollen?

»Ein Ödland-Insekt – sie wird sterben, wenn man sie nicht in Ruhe läßt.« Und Var selbst würde sterben, wenn er sich nicht sofort fortschleppte. Aber wer würde sich dann um Soli kümmern. Würde der Herr hier anhalten und ihr beistehen? Gewiß nicht, solange die Fährte der Rache noch warm war! Nein, es mußte dieser Fremde sein – hoffentlich würde er es tun! Var spürte, daß sein überragendes Geschick im Ring mit einem strengen Pflichtgefühl gepaart sein mußte.

Der Mann faßte nach Vers verletztem Bein. Der Verband hatte sich gelockert. Die Schwellung war nun deutlich sichtbar. Er nickte. Gewonnen hätte er in jedem Fall, doch die Entdeckung, daß er es mit einem lahmenden Gegner zu tun gehabt hatte, nahm ihm jegliches Triumphgefühl. Er stand auf, trat aus dem Ring und ließ Var liegen. Er zog seinen Parka über, hob den Packsack auf den Rücken, nahm die Stöcke. So ging er den Weg entlang in die Richtung, aus der der Herr kommen würde.

Die Herberge überließ er Var.

Var stellte diesen Akt der Großmut von Seiten des Fremden nicht weiter in Frage. Er raffte sich mühsam auf und hinkte zur Unterkunft zurück. Unterwegs drehte er sich mehrmals um und sah dem anderen nach. Schließlich trat er ein und schloß hinter sich die Tür.

Der Fremde würde dem Herrn unterwegs begegnen. Var war ihm nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wer war dieser Schweigsame, und woher nahm er seine außergewöhnliche Kampftüchtigkeit? Diesem Krieger war kein einziger Stockkämpfer des Imperiums gewachsen.

Aber der Herr war kein Stockkämpfer. Was würde wohl passieren, wenn die beiden einander begegneten? Ob sie gegeneinander antraten? Oder miteinander redeten? Würden sie gemeinsam zur Herberge kommen oder aneinander vorübergehen? Oder würde der Herr allein kommen und die Flüchtlinge hier aufstöbern?

Soli regte sich, und Var vergaß alles andere. »Var… Var«, jammerte sie matt. Sie war auf dem Wege der Besserung! Wenn ihnen bloß die eine Nacht blieb.

Sie sollten ungestört bleiben. Var lag die ganze Zeit über auf der Lauer nach etwaigen Schritten, doch es kam niemand. Am Morgen war Soli wohlauf, wenn auch noch schwach. »Was ist passiert?« fragte sie.

»Ein Ödland-Falter hat dich gestochen – vielmehr seine Winterlarve«, erklärte Var, obwohl sich dies auf eine bloße Annahme gründete. »Sie erwachte zum Leben, weil wir den Boden erwärmten und hat dich erwischt. Ich habe dich hierhergeschafft.«

»Was sind das für Spuren, die du an dir hast?«

»Ich kämpfte mit einem, der hier herein wollte.« Und das war alles, was er ihr sagte – nur damit sie sich keine Sorgen machte.

Diesmal nahmen sie noch zusätzlich Decken mit, damit sie den Boden doppelt abdecken konnten und Nässe und Larven fernhielten. Var erklärte, daß sie Zeit verloren hätten und nun weiter müßten. Er ließ sich zwar nicht genauer darüber aus, wie nahe der Herr bereits war, doch sie deutete seine drängende Hast richtig.

Und so nahmen sie ihren verzweifelten Treck wieder auf. Soli war sehr schwach, aber imstande zu gehen. In ihrer momentanen Verwirrung nahm sie Vars Hinken gar nicht wahr.

Als sie die Herberge hinter sich ließen, blickte sich Var noch einmal um und sah den Weg entlang. Wer war dieser schweigsame Mann gewesen, der ihre Flucht ermöglicht hatte? Würde er es jemals erfahren?