II

Der Herr des Imperiums sann über der Nachricht, die Tyl von den Zwei Waffen ihm gesandt hatte. Tyl hatte sie natürlich nicht selbst geschrieben, denn wie die meisten Anführer der Nomaden war er Analphabet. Seine kluge Frau Tyla aber hatte die Kunst des Schreibens mit Begeisterung erlernt – wie viele der anderen Frauen – und beherrschte sie nun einigermaßen.

Der Herr konnte lesen und schreiben. Er glaubte an Bildung. Dennoch hatte er die Frauen nicht ermutigt zu lernen. Der Herr wußte auch um die Vorteile der Landwirtschaft und doch spielten die Farmen in seinen Überlegungen keine große Rolle. Er begriff die dynamischen Gesetze des Imperiums, denn er hatte – in anderer Gestalt – dieses Reich geschaffen und hätte den vorhandenen, ungezielten Ehrgeiz zu einem Machtgebilde geschaffen, wie es seit dem Blitz niemand mehr kannte. Und doch ließ er dieses Reich nun treiben, stagnieren und wieder auf Formlosigkeit zusteuern.

Tyls Botschaft war dem Wortlaut nach zwar ehrerbietig gehalten, enthielt aber dem Sinne nach eine kluge Herausforderung an Autorität und Politik des Herrn. Tyl war ein Aktivist, zu ungestüm, um eine Niederlage einfach hinzunehmen. Er war gewillt, den Herrn zum Handeln zu bringen oder ihm seine Macht abspenstig zu machen, damit eine neue Führung neue Politik brächte. Weil Tyl diesem Regime verpflichtet war, konnte er nichts Direktes unternehmen. Er würde sich niemals gegen den Mann erheben, der ihn im Ring bezwungen hatte. Nicht aus Feigheit, sondern aus Ehrgefühl war ihm das unmöglich.

Wenn nun der Herr sich nicht mit dieser Bedrohung der neuen Ernte befassen wollte, übte er Verrat am Ziel des Imperiums, oder aber er bewies Feigheit. Denn die Landwirtschaft war lebensnotwendig für das Wachstum. Die organisierten Nomaden konnten sich ständige Abhängigkeit von der Großzügigkeit der Irren nicht leisten. Ließ er dem Landwirtschaftsprogramm keine Unterstützung angedeihen, würde die daraus erwachsende Unruhe seinem Ruf schaden und schließlich dazu führen, daß sich der Widerstand um eine andere Führerpersönlichkeit scharte. Das konnte wiederum er sich nicht leisten, denn sehr bald würde er dann seine gesamte Zeit damit zubringen, die unkrautartig wuchernden Rivalen im Ring zu besiegen. Nein – seine Aufgabe war es, das Imperium zu beherrschen und für Frieden zu sorgen.

Ihm blieb also nichts übrig, als sich der Lösung dieses reichlich komplizierten Problems zu widmen. Leicht würde es nicht sein, denn dieses wilde Tier hatte sogar Tyl verletzt und war ihm entkommen. Ein Hinweis darauf, daß kein geringerer als der Herr es überwinden mußte.

Natürlich hätte man eine ganze Gruppe von Jägern losschicken können, doch hätte dies gegen die Regel des Einzelkampfes verstoßen und außerdem zuviel Getreide vernichtet. Irgendwie wäre es einem Eingeständnis von Feigheit gleichgekommen.

Ja, es war unumgänglich nötig, daß der Herr selbst sich im Kampf gegen das Untier bewies. Das war es, was Tyl anstrebte, denn ein Versagen würde mit Sicherheit dem Bild schaden, das von ihm existierte. Dem Herrn behagte es zwar gar nicht, daß er praktisch von Tyl in die Sache hineinmanövriert wurde, doch die Alternativen waren noch ärger, und insgeheim bewunderte er die Art und Weise, wie Tyl das alles eingefädelt hatte. Dieser Mann konnte in Zeiten gewisser Veränderungen einen wertvollen Verbündeten darstellen.

Der Namenlose, der Mann ohne Waffen, Herr des Imperiums, nahm Abschied von der Frau, die er dem früheren Herrn abgewonnen hatte, legte die Routineangelegenheiten in die Hände fähiger Untergebener und machte sich zu Fuß und allein auf den Weg zu Tyls Lager. Seinen grotesken und mächtigen Leib umhüllte er mit einem Mantel, doch alle, die ihm unterwegs begegneten, erkannten ihn und empfanden Furcht. Sein Haar war weiß, sein Antlitz häßlich, und es gab keinen Mann, der ihm im Rang überlegen gewesen wäre. Nach fünfzehn Tagen hatte er sein Ziel erreicht. Ein junger Stabkämpfer, der den Herrn noch nie zuvor gesehen hatte, forderte ihn am Rande des Lagers zum Kampf heraus. Der Namenlose nahm den Stab, bog einen Knoten hinein und reichte ihm dem Mann zurück. »Das zeige Tyl von den zwei Waffen«, erklärte er dazu.

Und Tyl eilte, so schnell er konnte, mit seinem Gefolge herbei. Er beorderte den Wachposten mit dem bretzelförmig gebogenen Stab auf die Felder. Weil er den Besucher nicht erkannt hatte, sollte er zur Strafe mit den Frauen arbeiten. Doch der Namenlose sagte: »Er war im Recht, mich im Zweifelsfall zum Kampf zu fordern. Jener, der diese Waffe wieder geradebiegt, soll ihn strafen, und kein anderer.« Und so entging der Mann der Strafe, denn nur ein Schmied hätte diesen Metallstab wieder zurechtbiegen können. Von da an kam es nicht mehr vor, daß der Namenlose von irgend jemandem im Lager nicht erkannt wurde.

Am nächsten Morgen rüstete der Herr sich mit einem Boten und mit einer Länge Seil aus, denn dies waren keine im Ring benutzten Waffen, und machte sich an die Verfolgung des Räubers. Einen Jagdhund nahm er mit und doppelte Ration. Einen anderen Begleiter wollte er nicht dulden. »Ich werde das Tier fangen«, verkündete er beim Aufbruch.

Tyl dachte sich seinen Teil und sagte nichts.

Die Fährte führte von den offenen Mais- und Buchweizenäckern zu den Birken am Saum des Waldgebietes, und weiter hinein in das immer kleiner werdende Gebiet des hiesigen Ödlandes. Der Herr bemerkte die Markierungen, die die Irren angebracht hatten und die in gewissen Abständen versetzt wurden. Anders als die meisten anderen war er nicht abergläubisch und fürchtete diese Markierungen nicht. Er wußte, daß es eine Strahlung war, die diese Gebiete gefährlich machte – radioaktive Strahlung, die vom sagenhaften Weltenbrand herrührte.

Mit jedem Jahr nahm die in Röntgen gemessene Strahlung ab, und das am Rande des Ödlandes gelegene Gebiet wurde bewohnbar für Pflanze, Tier und Mensch. Solange es hier Leben gab, war wenig Gefahr von der Strahlung zu erwarten.

Doch am Rande lauerten andere Schrecken. Winzige Nagetiere schwärmten von Zeit zu Zeit aus und vertilgten alles Leben, das sich ihnen in den Weg stellte, ja sie verschlangen einander gegenseitig, wenn sich ihnen nichts anderes bot. Nachts krochen riesige weiße Falter aus, deren Stich tödlich war. Und am Feuer erzählte man sich schaurige Geschichten von seltsamen Bauten, in denen es spukte, von gepanzerten Gerippen und lebendigen Maschinen. Der Herr schenkte all dem wenig Glauben, und was er glaubte, das versuchte er sich auf natürliche Weise zu erklären. Doch wußte er, daß das Ödland nicht ungefährlich war und betrat es mit entsprechender Vorsicht.

Die Fährte streifte das Herz des radioaktiven Bereiches und verlief etwa eine Meile tief innerhalb der Grenzen der Irren. Das sagte dem Herrn etwas zusätzlich Wichtiges: Nämlich daß das gejagte Lebewesen kein übernatürlicher Spuk aus der Welt des Schreckens war, sondern ein Tier des Randgebietes, das die Strahlung witterte. Das bedeutete, daß er es einholen konnte.

Zwei Tage lang verfolgte er die Spur, die der muntere Hund witterte. Er ernährte sich und den Hundegefährten aus den Vorräten, ergänzte den Speisezettel jedoch hin und wieder durch einen Hasen, den er mit seinem Bogen erlegte und dann briet. Er schlief im Freien und deckte sich gut zu. Es war Spätsommer, und der warme Irren-Schlafsack genügte vollauf. Für alle Fälle hatte er noch einen in Reserve. Eigentlich genoß er diese Spürjagd und ließ sich Zeit dabei.

Am Abend des zweiten Tages stellte er die Beute. Der Hund stutzte, lief dann los, jaulte und kam verängstigt zurückgelaufen.

Das Ding hatte unter einer großen Eiche Standort bezogen. Es war an die vier Fuß groß, stand aufrecht und etwas gebückt. Schädel und Gesicht waren dicht behaart, das Fell an den Schultern zottig. Wo an Haupt und Gliedern Haut zu sehen war, war sie gelbgrau gefleckt und schmutzverkrustet.

Und doch es war kein Tier. Es war ein menschliches Wesen, ein Junge, durch Mutation verändert.

Der Junge hatte sich einen plumpen Knüppel zurechtgemacht. Es sah ganz so aus, als wolle er angreifen, denn er hatte schon seit geraumer Zeit gemerkt, daß er verfolgt wurde. Doch allein die Größe des Herrn schüchterte ihn ein, und er ergriff die Flucht und lief auf den Ballen seiner verhornten Füße davon.

Der Namenlose schlug an dieser Stelle sein Lager auf. Er hatte von Anfang an vermutet, der Räuber müßte ein Mensch oder wenigstens ein Menschenabkömmling sein, denn kein Tier hätte so gerissen und gezielt vorgehen können. Jetzt aber, da er die Bestätigung hatte, mußte er sich erst sein weiteres Vorgehen überlegen. Den Jungen zu töten ging nicht an, und nahm man ihn gefangen, würde es ihm erst recht schlecht ergehen, denn die aufgebrachten Farmer-Krieger würden ihm ein grausames Ende bereiten. In Fällen wie diesen erwies es sich, daß die Zivilisation nur hauchdünn war. Und doch mußte eine Lösung gefunden werden, denn der Herr mußte an seine politische Zukunft denken.

Er dachte lange und angestrengt nach. Und er faßte den Entschluß, den Jungen in sein eigenes Lager zu schaffen, damit der Wilde dort der menschlichen Gesellschaft eingegliedert werden konnte, ohne Vorurteile zu wecken. Dies aber bedeutete, daß man ihm Monate, ja vielleicht Jahre der größten Aufmerksamkeit würde widmen müssen.

Nun wagten sich die weißen Falter hervor. Er zog sich das Netz über den Kopf machte seinen Schlafsack dicht und legte sich zur Ruhe. Für den Hund gab es keinen verläßlichen Schutz, denn das Tier konnte naturgemäß nicht die Notwendigkeit des Eingesperrtseins in einem engen Sack begreifen. Hoffentlich würde er nicht nach einem Insekt schnappen und gestochen werden. Ein schieres Wunder, daß der Junge in diesem Gebiet hier überhaupt überleben konnte. Der Herr dachte an Sola, die Frau, die er einst geliebt hatte, und der er jetzt nur noch Liebe vorheuchelte. Er dachte an Sol, den Freund, den er zum Berg geschickt hatte, den Mann, für den er sein ganzes Imperium hingegeben hätte, nur um wieder mit Sol auf Fahrt zu gehen und mit ihm reden zu können, einfach so, ohne Kräftemessen. Und er dachte lange an die Frau aus Helicon, seiner wahren Ehegefährtin, die Frau, die er aufrichtig liebte, aber nie wiedersehen würde. Große Gedanken, schöne Gedanken. Er litt ein wenig, und dann schlief er ein.

Am nächsten Morgen ging die Jagd weiter. Der Hund war munter wie immer. Gut möglich, daß die Falter nicht wahllos zustachen. Vielleicht mußten sie, ähnlich den Bienen, sterben, sobald sie ihr Gift ausgespritzt hatten. Es war immerhin denkbar, daß sie einem nichts taten, wenn man sich vor ihn in acht nahm und sie in Ruhe ließ. Damit wäre erklärt, warum der Junge hier unbeschadet überleben konnte.

Die Spur führte nun tiefer ins Ödland hinein. Jetzt würde sich zeigen, wer über mehr Mut und Entschlossenheit verfügte, Verfolger oder Verfolgter.

Der Junge hatte sich offensichtlich in diesem Gebiet schon länger herumgetrieben. Einer eventuell vorhandenen tödlichen Strahlung wäre er längst zum Opfer gefallen. Jedenfalls konnte der Herr höchstwahrscheinlich jegliche Strahlendosis aushalten, die der Junge aushielt. Falls dieser gehofft hatte, sich in der strahlenverseuchten Region verstecken zu können und dadurch seinem Schicksal zu entgehen, hatte er sich getäuscht.

Dennoch – der Herr mußte sich großen Zwang antun, je tiefer ihn die Spur in das Land der verkrüppelten und verformten Bäume führte. Hier hatte eine starke Strahlung gewirkt. Und das Wild machte sich rar. Auch ein Zeichen dafür, daß die Strahlung, wenn schon nicht mehr vorhanden, noch nicht lange abgeklungen war.

Wieder holte er den Jungen ein. Bei Tag sah man nun deutlicher, daß er gebückt ging und wie fleckig seine Haut war. Und wie er lief – die Fersen hoch, Knie gebeugt, so daß er nie mit der ganzen Sohle den Boden berührte. Dabei stützte er sich hin und wieder auf die vorderen Gliedmaßen – direkt unheimlich sah das aus. Hatte dieser Junge niemals unter Menschen gelebt?

»Komm!« rief der Waffenlose. »Ergib dich, und ich schone dein Leben und gebe dir Nahrung!«

Wie erwartet, schenkte der Verfolgte diesen Worten keine Beachtung. Wahrscheinlich hatte er nie sprechen gelernt.

Die Bäume schrumpften zu spärlichem Strauchwerk zusammen, zu Büschen mit verfärbten Rinden, mit Abschürfungen, denen Saft entströmte. Die Blätter waren welk und asymmetrisch – vergebliche Bemühungen sozusagen. Und dann ragten nur mehr grotesk verbogene Stöcke aus der Erde. Schließlich war nirgends mehr ein Lebenszeichen zu sehen, nichts als geschmolzene und zusammengebackene Asche und grünliches Glas. Der Hund, dem das tote und kahle Gebiet Angst einjagte, heulte, und dem Herrn war ebenfalls mehr als unwohl zumute, denn es war schrecklich hier.

Doch der Junge lief immer weiter und wich dabei unsichtbaren Hindernissen geschickt aus. Zunächst hielt der Namenlose dies für einen Trick, der den Verfolger irreführen sollte. Als er jedoch merkte, daß dies Manövrieren Formen annahm, die keineswegs dem Entkommen oder Verbergen dienlich waren, dachte er an Wahnsinn. Vielleicht ließ die Strahlung ihre Opfer erst wahnsinnig werden, ehe sie sie vernichtete. Schließlich aber wurde ihm klar, daß der Junge in Wirklichkeit jenen Stellen auswich, die radioaktiv verseucht waren. Er konnte also spüren, wo noch Strahlung vorhanden war!

Gefährliches Gelände war es! Der Namenlose folgte der Spur genau und behielt den Hund in unmittelbarer Nähe. Etwaige Abkürzungen hätten ihn womöglich dem unsichtbaren Schrecken ausgeliefert. Er setzte hier Leben und Gesundheit aufs Spiel, aber aufgeben wollte er nicht.

»Schämst du dich, weil du häßlich bist?« rief er. Er legte seinen weiten Umhang ab und zeigte seinen eigenen massiven, narbenbedeckten Torso, seinen Nacken, der so stark verknorpelt war, daß er an einen alten vergilbten Birkenstamm erinnerte. »Du bist nicht häßlicher, als ich es bin!«

Der Junge lief weiter.

Dann blieb der Herr stehen, denn er sah vor sich Gebäude.

Bauwerke waren eine Seltenheit in der Nomadenkultur. Es gab zwar die von den Irren unterhaltenen Herbergen, in denen auf Wanderschaft befindliche Krieger und ihre Familien eine Nacht oder gar zwei Wochen verbringen durften und nur verpflichtet waren, den Bau und die unmittelbare Umgebung in Ordnung zu halten. Dann gab es die Häuser der Irren selbst, und die Schulen und Ämter, die sie unterhielten. Und natürlich die unterirdischen Befestigungsanlagen der Unterwelt, in denen die von den Nomaden benutzten Waffen und Kleider hergestellt wurden. Das war aber nur dem Herrn selbst und den Irren bekannt. Doch die weiten Flächen Landes, das waren Feld und Gras und Wald, von dem großen Brand leergefegt, der die wundersame kriegerische Kultur der Alten vernichtet hatte. Im Gefolge der Strahlung war die Wildnis wiedergekehrt, offen und rein.

Die Gebäude vor ihm waren gewaltig und unförmig. Der Herr konnte sieben Etagen deutlich ausmachen, eine über der anderen. Und über der letzten Ebene ragten fiberverkleidete Metallträger wie die Rippen einer toten Kuh in die Höhe. Dahinter erhob sich eine Struktur ähnlicher Art und nicht weit davon eine dritte.

Erstaunt sah der Herr sie und überlegte. Er hatte davon zwar in den alten Büchern gelesen, hatte es aber für einen Mythos gehalten. Das also war eine »Stadt«.

In den Texten wurde behauptet, vor dem Brand hätte die Menschheit an Zahl und Stärke gewaltig zugenommen, und die Menschen hätten in Städten gelebt, in denen jeder vorstellbare (und unvorstellbare) Komfort selbstverständlich gewesen wäre. In weiterer Folge hätten diese sagenhaft wohlhabenden Menschen dies alles in einem Feuerregen zerstört, in einer Explosion mit tödlicher Strahlung – dem Blitz –, nach der nur die verstreut lebenden Nomaden und Irren und Unterweltler geblieben waren, und dazu das ausgedehnte Ödland.

In dieser Sage hatte er Tausende Löcher entdeckt, die der Logik widersprachen. Denn erstens war klar, daß keine Kultur die den beschriebenen technischen Standard erreicht hatte, gleichzeitig so primitiv sein konnte, dies alles sinnlos fortzuwerfen. Und eine so radikal andere Kultur wie die der Nomaden konnte sich nicht so schnell und so ausgebildet aus der Asche entwickelt haben. Die letzte Wahrheit lag irgendwo im Ödland verborgen, dessen war er sicher, denn allein schon das Vorhandensein des Ödlands war ein Hinweis auf die Wirklichkeit des großen Brandes, welche Gründe immer auch dahintergesteckt haben mochten.

Und nun gab das Ödland einen Teil seiner Geheimnisse preis. Denn während der ganzen, der Katastrophe folgenden Jahrhunderte war kein Mensch weit in die abgesteckten Gebiete eingedrungen und hatte überlebt. Das verbotene Gebiet war mit der Zeit immer kleiner geworden. Der Herr wußte, es würde die Zeit kommen, in der das gesamte Gebiet dem Menschen wieder offenstand – wenn der Herr das selbst auch kaum noch erleben würde. Inzwischen aber hatte ihn das Entdeckungsfieber gepackt. So begierig war er, die Wahrheit zu erfahren, daß er mit Freuden die Strahlengefahr auf sich nahm.

Die Spuren des Jungen waren deutlich auf dem weichen Boden zu erkennen, den der kürzlich gefallene Regen noch mehr aufgeweicht hatte. Hier war kein Glas mehr zu sehen. Statt dessen säumten fahle Grashalme den Pfad. Nichts, nicht einmal die Strahlung war hier im Ödland von Dauer.

Der Junge war in dem Gebäude verschwunden. Die meisten Nomaden hegten eine Scheu vor festen Bauten jeglicher Größe und mieden sogar die verhältnismäßig kleinen Bauten der Irren. Doch der Herr war weit herumgekommen und hatte Erfahrungen gesammelt, wie kaum einer, und er wußte, daß an einem großen Bauwerk nichts Übernatürliches war. Gewiß, auch hier konnten Gefahren lauern, doch waren es Gefahren, die herunterfallende Balken, tiefe Gruben, Strahlen und erschrockene Tiere mit sich brachten und nichts wirklich Unheimliches.

Und doch zögerte er, ehe er diesen uralten Tempel betrat. Wie leicht geriet man im Inneren in eine Falle, und womöglich hatte der wilde Junge dort bereits eine für ihn vorbereitet. Schließlich hatte der Kerl Fallgruben für seine Verfolger gegraben und sie geschickt verdeckt. Eines der Dinge, die er offensichtlich aus den gegen ihn ergriffenen Maßnahmen gelernt hatte. Für ein Tier zu klug und nicht so übel für einen Menschen.

Der Herr sah sich um. Im Schutz der Fensterbögen sah er trockenes Holz. Das meiste war verrottet, aber etwas war noch übrig. Im Inneren mußte es mehr Holz geben. Das konnte er anzünden und den Jungen damit heraustreiben.

Doch vielleicht befanden sich Dinge von Wert im Gebäude, Maschinen, Bücher, Vorräte. Sollte er das alles einfach zerstören? Besser, das Gebäude so zu lassen und eine Einsatztruppe zu bilden, die das Haus zu einem späteren Zeitpunkt durchsuchen sollte.

Mit diesem Entschluß trat der Herr durch den größten Eingang und begann seine letzte Suche nach dem Jungen. Der Hund jaulte und drückte sich so eng an ihn, daß es immer schwieriger wurde, nicht über das Tier zu stolpern. Doch er stöberte die Fährte auf.

Steinstufen führten über eine Treppe von verschwenderischer Breite nach unten. Diesen Weg war der Junge geflohen. Sie hatten dem Räuber so leicht auf der Spur bleiben können, daß es direkt verdächtig war. Die Treppe schien der einzige Ausweg. Der Junge mußte da unten sein.

Ob es nicht klüger gewesen wäre, erst die oberen Stockwerke zu durchsuchen? Vielleicht lockte der Junge ihn bloß in eine Falle? Nein, am besten, man blieb ihm dicht auf den Fersen. Andernfalls war die Gefahr zu groß, daß man in den Bereich einer Strahlung geriet. Hätte er gewußt, daß die Jagd ihn so tief ins Ödland führen würde, dann hätte er sich einen Geigerzähler von den Irren verschafft. Er mußte jetzt eben mit besonderer Vorsicht ans Werk gehen. Dabei war ein Angriff des Jungen weniger zu fürchten als vielmehr die Strahlung, die überall lauern konnte.

Als der Namenslose sich dem allerletzten Raum näherte, kam ihm ein Gegenstand entgegengeflogen. Der Junge, der nun nicht mehr weiter konnte, empfing seinen Verfolger mit einem Geschoßhagel aller erreichbaren Gegenstände.

Der Herr hielt inne, und betrachtete das Ding, das ihn getroffen hatte. Er bückte sich, hob es auf und behielt dabei die Tür im Auge, damit er nicht überrumpelt wurde. Dann drehte und wendete er das Ding in der Hand und begutachtete es eingehend.

Aus Metall war es, war aber keine Dose und kein Werkzeug.

Eine Waffe, aber kein Schwert, kein Stab oder Dolch. Das eine Ende war schwer und gebogen, das andere Ende hohl. Das Ding hatte ein gutes, solides Gewicht. Mehrere kleine Mechanismen waren daran angebracht.

Die Hand des Herrn geriet ins Zittern, als er es erkannte. Er hatte eine Beschreibung davon in den Büchern gelesen. Dies war ein Gegenstand aus alter Zeit.

Es war eine Feuerwaffe.