XX Orn
Die Insel war noch dunkel, als Orn die schlafende Qui- lon mit einem sanften Stups seines Schnabels aufweckte. Irgend etwas stimmte nicht. Er spürte eine fremde, unbegreifliche Präsenz. Derselbe Schrecken hatte ihn bei der ersten Begegnung mit den großen Säugern ergriffen, wo er, irrtümlich, davon ausgegangen war, daß es sich um einen Aspekt von deren Fremdartigkeit handelte.
Nervös erwachte sie und berührte mit ihren Vordergliedern sein Gefieder, als sie, um sich zu vergewissern, nach dem warmen Ei tastete. Er kannte diese Geste. Sie bedeutete Besorgnis um das Ei, Furcht, daß ihm eine Gefahr drohte. Und das war der Grund, aus dem er sie geweckt hatte, denn dieser seltsame Besuch gefiel ihm gar nicht. Konnte sie ihn auch spüren?
»Circe!« rief sie. »Du bist zurückgekommen!«
Sie sah es! Und sie hatte keine Furcht davor. Ihre Reaktionen, ihre Geräusche ließen Erleichterung und Willkommen erkennen, keine Besorgnis.
»Veg. Cal, sind sie in Sicherheit? Wo sind sie?«
Sie versuchte, Kontakt damit aufzunehmen. Sie war freundlich zu dieser Unkreatur. Dann konnte es keine Bedrohung sein.
Gestützt auf diese Erkenntnis konzentrierte sich Orn auf die Stelle, von der die meiste Beunruhigung ausging. Wenn die Quilon dort etwas wahrnehmen konnte, dann sollte er es auch können. Seine Augen waren besser als ihre. Und seine Nase auch.
Alles, was er fand, war ein unvertrautes Pilzgewächs: einen mächtigen Fliegenpilz. Er konnte seine Lebensgeschichte nicht sagen, da er sich zu stark von den ihm bekannten Arten unterschied. Er war nicht da gewesen, als sie mit dem Elas gekämpft hatten. Aber es war die Natur dieser Dinge, sehr schnell zu wachsen. Er bewegte sich.
Orn sah genau hin, um festzustellen, was ihn entwurzelt hatte, konnte aber keine Ursache erkennen. Es gab keinen Wind, und auch kein Tier war dagegen gestoßen. Der Boden hatte nicht gebebt. Kein Wasser hatte das Ufer überspült.
»Sie sind in Sicherheit!«
Die Quilon war glücklich. Es gefiel ihr zu sehen, wie sich der Fliegenpilz bewegte.
»Ist das Wasser jetzt frei?«
Sie machte Fragegeräusche. Orn war mehr und mehr in der Lage, ihre Eigenarten zu verstehen und ihre Absichten zu erkennen. Aber er wußte nie präzise, was sie wollte. Sie war klüger als die meisten Säuger, reichte aber nicht an Ornettes Niveau heran und war bedeutungslosen und vergänglichen Gesichtsausdrücken unterworfen.
Der Fliegenpilz verschwand.
Erstaunt verließ Orn das Ei für einen Augenblick und untersuchte den Boden, wo das Ding gewachsen war. Es sah so aus, als sei es vom Wind in die Höhe gehoben worden, nur daß gar kein Wind da war. Sicher hatte die Quilon das Phänomen beobachtet. Pflanzen bewegten sich niemals aus eigenem Antrieb!
»Circe überprüft die Gegend. Wir müssen diesen Felsen verlassen, Orn. Das können wir aber nicht, solange die Reptilien in der Nähe sind. Ich glaube, ich komme mit dem Ei zurecht, wenn das Wasser nicht zu tief ist und wir nicht angegriffen werden. Circe kann uns führen.«
Orn fragte sich, ob vielleicht diese fortwährenden Geräusche den männlichen Säuger zum Weggehen veranlaßt hatten. Sie waren ganz sicher irritierend, wenn man an das Problem der Nahrungsbeschaffung und die Bewachung des Eis gegen bekannte und unbekannte Bedrohungen dachte. Schließlich hatten sie diesem Geschnatter schon den folgenschweren Besuch des Elas zu verdanken gehabt.
Der Fliegenpilz erschien wieder, herangeweht wie ein Farnwedel vom Wind. Jetzt, wo Orn wußte, wonach er zu suchen hatte, sah er ihn ganz deutlich. Seine Eigenschaften widersprachen allem, was ihm seine Erinnerungen sagten. Aber nach und nach war er imstande zu akzeptieren, daß sich dieser Fungus irgendwie völlig isoliert von seinen Ahnen entwickelt hatte. Genauso wie sich die alltäglichen Säuger im Laufe der Jahrtausende voneinander getrennt und sich zu vielen völlig unähnlichen Arten entwickelt hatten, war es auch mit ihm gewesen. Vielleicht war es ausschließlich in diesem Tal passiert, das nie einer seiner eigenen Art besucht hatte. So war die absolute Fremdartigkeit des Pilzes, die sich ihm zuerst nur als vager Schrecken vermittelt hatte, gar nicht so unheimlich. Eine Kreatur, deren Metabolismus dem einer Pflanze ähnelte, die aber so aktiv war wie ein Tier. Eine Kreatur ohne Flügel, die flog. Jetzt, da sein Bewußtsein die zwangsläufige Evolution dieser Spezies erklärt hatte - ein Fungus, der zuerst nach organischer Nahrung griff, dann danach sprang und schließlich von solchen Bewegungen abhängig war, um seinen Lebensunterhalt zu sichern -, konnte er sie akzeptieren.
Genauso wie ein Säuger so groß werden konnte wie ein kleines Reptil und fortwährende Geräusche machte, so konnte ein Fungus ein fliegender Fliegenpilz werden.
Das Ding hatte sich wieder in den Boden gepflanzt, und die Quilon machte ihre Geräusche in seine Richtung. Vielleicht hatten sich die beiden seltsamen Spezies, Säuger und Fungus, gemeinsam entwickelt und konnten sich miteinander verständigen. Eine solche Verbindung würde nicht bemerkenswerter sein als all das, was er in dieser veränderten Welt schon beobachtet hatte.
Die Quilon sah ihn an. »Circe sagt, daß es da jetzt eine tiefe und tückische Spalte zwischen uns und der Hauptinsel gibt. Der Seeboden muß sich dort geöffnet haben, und wir kommen nicht hinüber, es sei denn wir schwimmen. Aber ich kann nicht schwimmen, wenn ich das Ei halte. Ich meine, ich könnte es versuchen, aber das kalte Wasser würde den Embryo töten. Aber Circe sagt, daß die Bucht zwischen uns und dem Festland seicht ist, vielleicht nur brusttief für mich. Das Beben muß parallel zu der Spalte einen Kamm aufgeschüttet haben. Nun, es ist sinnlos, dir das zu erklären. Sie kann uns den besten Überweg zeigen, so. daß wir waten können. Und sie sagt, es gibt gerade keine Reptile in der unmittelbaren Nachbarschaft und auch keine Haie. Sie haben sich alle auf einem mehrere Kilometer entfernten Schlachtfeld versammelt, wo es viel Blut gegeben hat. Irgend etwas dieser Art, ich bin mir nicht sicher. Bei der Hauptinsel gibt es ein schlafendes Schnabeltier, aber das stört uns sowieso nicht. Aber die Flut kommt. Wenn wir gehen wollen, müssen wir es sofort tun. Bei der nächsten Ebbe ist es zu heiß, und alle Meeresräuber werden wieder zur Stelle sein.«
Orn ignorierte ihr Geschnatter. Es war Dämmerung, die beste Zeit zum Jagen, weil die meisten Reptile träge waren, allerdings nicht die Haie. Er würde auch für die Säugerin Nahrung beschaffen müssen, da sie das Ei zu wärmen hatte. Er hatte beobachtet, daß sie keinen Fisch verzehrte, sondern Beeren und Larven von der Insel zu sich nahm. Er konnte jetzt hinüberschwimmen und ein paar Wurzeln für sie ausfindig machen, um anschließend selbst zu essen.
Der Fliegenpilz flog wieder über die See hinweg. Die Quilon stand auf, nahm das Ei und ging in das Wasser hinein.
Orn kreischte und flatterte hinter ihr her, entsetzt über ihre Torheit. Die kühle See würde das Leben in dem Ei töten. Aber sie machte nur Geräusche in seine Richtung und weigerte sich, zurückzukommen.
Er war hilflos. Jede Maßnahme, die er gegen die Quilon ergriff, würde mit Sicherheit das Ei untertauchen, also genau das gefährden, was er schützen wollte. Er konnte es nicht selbst zurücktragen. Er mußte darauf warten, daß sie es tat. Er begriff, daß sie nichts Böses tun wollte, aber sie schien die Gefahr nicht zu erfassen.
Sie stieg vorsichtig von dem Felsen hinunter. Das Wasser ging ihr bis zu ihrem abnehmbaren Hüftgefie- der. Während sie mit dem einen Vorderglied das Ei gegen ihre fleischige Brust drückte, balancierte sie mit dem anderen. Sie bewegte sich von der Hauptinsel weg und folgte einem Weg, den die Bewegungen des fliegenden Fliegenpilzes wiesen.
Orn begann zu schwimmen. Er war zu leicht, um bei dieser Tiefe festen Grund zu finden. Die Quilon, jetzt mehr als bis zur Hälfte überspült, setzte den Weg zum Festland fest. Sie versuchte nicht einmal, die Insel zu erreichen! Er hatte keine Ahnung, wie er diese bizarre Expedition unterbinden konnte. Hätte er gewußt, daß sich die Säugerin zu so einer Aktion versteigen würde, hätte er ihr das Ei niemals anvertraut. Alles, was er jetzt tun konnte, war, neben ihr herzuschwimmen und darauf zu hoffen, daß sie umkehrte, bevor das Ei verloren war. Er würde sie töten müssen, wenn sie es durch ihre Dummheit opferte, obgleich er das nicht wollte.
Das Meer unter ihm war klar. Kleine Fische kreisten verführerisch herum, und er war hungrig. Aber er konnte sich jetzt nicht um sie kümmern. Er konnte nicht bis auf den Boden sehen, denn dazu war es zu tief, obgleich es dort, wo die Quilon ging, ungewöhnlich seicht war. Seine Erinnerungen sagten ihm, daß Erdspalten unter dem Meer manchmal so beschaffen waren: eine Seite hoch, die andere niedrig. Oder zwei Kämme, die durch einen Abgrund getrennt wurden. Aber wieso hatte sie es gewußt?
Das Wasser reichte ihr jetzt fast bis zum Kopf. Das Ei lag unsicher auf ihrer Schulter gebettet, eingewickelt in die blonde Mähne, die von ihrer Kopfhaut hinunterhing. Beide Vorderglieder waren erhoben, um es abzuschirmen. Dies war kein guter Schutz. Das Ei würde bald kühl werden, selbst wenn das Wasser, das bereits ihr künstliches Fell bis zu dem zweigeteilten Euter durchnäßte, nicht noch weiter stieg. Er schwamm näher heran, obwohl er nichts tun konnte.
Die Quilon stoppte. »Zu tief. Ich finde keinen Grund mehr. Wenn ich die Arme senke, wird sich das Ei aus dem Gleichgewicht bringen.«
Manchmal schienen diese Geräusche einen Absichtswechsel zu signalisieren. Würde sie jetzt umkehren?
Sie arbeitete sich rückwärts, bis ihre Mähne ganz vom Wasser befreit war. Sie hielt das Ei vor sich und wärmte es, obwohl ihr Rumpf naß war. Dann kam der Fliegenpilz näher, stieß sich von der Oberfläche ab und kurvte in eine leicht geänderte Richtung davon. Sie folgte ihm.
Wieder ging sie so tief hinein, wie sie konnte. Und wieder gab sie ihre enttäuschten Geräusche von sich und zog sich zurück. Der Fliegenpilz kreiste und schien unfähig zu sein, einen neuen Weg zu weisen. Würde sie jetzt dieses gefährliche Unternehmen aufgeben und sein Ei auf der Insel in Sicherheit bringen?
Sicherheit?
Selbst das Festland mit seinen herumstreifenden Reptilien war sicherer als der schrecklich entblößte Felsbrocken, auf dem sie gestrandet waren. Wenn es wenigstens möglich gewesen wäre, das Ei zur Hauptinsel zu bringen. Aber der Canyon im Meer hatte das verhindert.
Dann erkannte Orn, was die Quilon und ihr geheimnisvoller Gefährte zu erreichen versuchten. Seichtes Wasser, das zum Festland führte, während Ebbe herrschte.
Er trat in Aktion. Er tauchte, spreizte dabei seine Flügel, gegen das Wasser, um den Schwung zu bekommen, der ihn nach unten schickte. Er erkundete den Boden mit Schnabel und Auge.
Vor der Quilon fiel der Kamm ab, stieg dann wieder auf eine Ebene an, die sie seiner Ansicht nach bewältigen konnte. Wenn sie dieses Hefe Stück überqueren konnte, würde sie einen langen Weg bis zum Festland zurücklegen können - vielleicht den ganzen Weg. Aber sie konnte das Loch nicht überwinden, ohne das Ei zu überschwemmen. Vielleicht nur vier ihrer Körperlängen, ungefähr vier Flügelspannen, trennten sie vom Wiedererreichen der begehbaren Untiefe.
Dies war nicht die Art des Denkens, für die Orns Verstand geschaffen war, aber seine lange Lehrzeit beim auf sich allein gestellten Überleben und die gegenwärtigen dringenden Erfordernisse steigerten seine Fähigkeiten. Es gab Probleme, die das Gedächtnis nicht lösen konnte, und dies war eins davon: Wie konnte die Säugerin die Lücke überwinden. ohne dabei das Ei unterzutauchen - und dies so rechtzeitig, daß die steigende Flut es nicht völlig unmöglich machte?
Wenn es Treibholz gegeben hätte, wären seine Erinnerungen ausreichend gewesen. Seine Vorfahren hatten gelegentlich Baumstämme benutzt, um von einer Insel zur anderen überzusetzen oder Flüsse zu überqueren. Aber es gab hier keinen Baumstamm. Das einzige, was schwamm, war Orn selbst, und nur die verhältnismäßige Ruhe des Wassers machte es ihm möglich, das Gleichgewicht zu halten. Wellen oder eine andere Schwierigkeit konnten ihn überschwemmen, denn er war kopflastig und besaß keine Schwimmfüße. Er konnte sogar besser unter Wasser schwimmen als an der Oberfläche, weil seine verkürzten Flügel dabei effektiv waren.
Aber in dieser Notsituation mochten seine Fähigkeiten ausreichen, um das Ei zu retten. Und das Ei war alles.
Orn paddelte heran und gab der Quilon einen leichten Stoß. Sie schwieg jetzt, und das Wasser schien ihr ins Gesicht geklatscht zu sein, obwohl das Ei trocken war. Als sie da so unschlüssig stand, hatte sie eine gewisse unglückliche Schönheit an sich, und er fragte sich, bis zu welchem Maß Säuger echte Gefühle besaßen.
Aber jetzt war keine Zeit für solche nichtigen Betrachtungen. Orn stieß sie abermals an und versuchte, ihr etwas verständlich zu machen. Das Ei konnte gerettet werden, wenn ihr dumpfes Säugergehirn die Möglichkeit dazu erfaßte.
Für einen Augenblick bewegte sie sich nicht. Dann legte sie langsam eins ihrer Vorderglieder um seinen Rücken und lehnte sich auf seinen Körper, so daß er ins Wasser sank. Sie war erstaunlich schwer, aber er spreizte leicht die Flügel und trat mit den Füßen, so daß er seine Position halten konnte. Lange konnte er das nicht durchstehen. Instinkt und Gedächtnis protestierten gegen diese unmittelbare Nähe zu einer fremden Kreatur. Aber für die Dauer.
Sie bewegte das Ei, bis es zum Teil auf seinem Rücken ruhte, gerade so über dem Wasser. Dann stieß sie sich langsam ab. Ihr Körper ging unter, aber das Ei blieb oben, da sein Gewicht auf seinen Feder lastete.
An der Stelle, wo die Säugerin gestanden hatte, verließ ihr Fuß den Boden, und sie schwamm. Orn kämpfte verzweifelt um die Balance, als sie die ihre verlor. Es war schwierig. Er drohte, unabänderlich zur Seite wegzukippen.
Dann fingen die kräftigen Beine der Quilon an, Wasser zu treten und sie beide langsam vorwärtszutreiben, wodurch ihre gemeinsame Balance wiederhergestellt wurde. Er steuerte, und sie hielt das Ei auf seinem Rücken. Eine einzige böse Welle, selbst ein Windstoß, würde sie umwerfen.
Der Fliegenpilz kreiste heftig, so als ob selbst sein unterentwickeltes Pflanzengehirn die Krise begriff. Orn sah zu ihm hinüber. und sah in der Ferne hinter ihm die Andeutung einer Bewegung. Irgend etwas näherte sich!
In seinem instinktiven Eifer, in Sicherheit zu gelangen, hätte er beinahe das Ei aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber er brachte sich nach einem einzigen Rucken wieder unter Kontrolle und paddelte weiter.
Das Vorwärtskommen war so langsam! Nur indem er den Kopf unter die Oberfläche steckte und das Boden- profil beobachtete, konnte er feststellen, daß sie sich überhaupt bewegten. Wenn sich jetzt ein räuberisches Reptil an sie heranmachte.
So war es. Es war der Elas, der mit Flossen ausgestattete Paddler, der schon Ornette verschleppt hatte. Er war schon wieder hungrig oder bloß bösartig, und ihre Bewegungen im seichten Wasser hatten ihn an seinem Ruheplatz aufgescheucht. Hier in seinem Jagdgebiet hatten sie nicht die geringste Chance zu entkommen.
Der Fliegenpilz unterbrach sein Kreisen und steuerte auf den Elas zu. Orn konnte keine genaue Beobachtung vornehmen, denn seine Balance blieb prekär. Er sah, wie sich der Fungus einem Ptera gleich in die Luft erhob und über den erhobenen Schädel des Elas hinwegglitt. Nichts geschah, aber der Elas stieß einen furchtbaren Schmerzensschrei aus.
Dann zog er sich zurück, und der Geruch von Blut erreichte Orn. War eine alte Wunde wiederaufgebrochen, als er sich gestreckt hatte, um den Fliegenpilz zu fangen? Oder war er bloß durch die Fremdartigkeit des Fungus erschreckt worden, während das Blut aus der Wunde stammte, die ihm Orn am Hals zugefügt hatte?
Orn war zufrieden, daß sie wieder sicher waren. Freude war ebensowenig ein Teil seiner Natur wie Trauer, und die Sicherheit des Eis war das, was zählte. Irgendwie war das Reptil vertrieben worden.
Das tierische Atmen der Quilon wurde laut, und auch seine eigene Atmung war erschwert. Nach der Bedrohung durch das Reptil spürte er Müdigkeit. Eine doppelte Belastung hatte auf ihm geruht - das Gewicht der Quilon und des Eis auf seinem Rücken und die Furcht vor dem Elas, weil er nicht kämpfen konnte. Aber sie waren jetzt wieder im Seichten; Er versuchte, ihr das mit einem kurzen Schrei begreiflich zu machen, und schließlich hörte sie auf, mit ihren schwerknochigen Füßen zu treten und stieß die runden Extremitäten nach unten, bis sie den Sand des Grunds berührten.
Der Rest des Übergangs war einfach. Noch zweimal mußte er der Quilon behilflich sein, denn die steigende Flut sorgte für weitere tiefe Stellen, aber inzwischen waren sie mit der Prozedur vertraut. Der fliegende Fungus leitete sie unfehlbar, indem er die beste Route auswählte, Orn fing an, derartige Fliegenpilze beinahe zu mögen.
Schließlich sicher an Land, legten sie sich auf den angenehmen Strand, das Ei gewärmt zwischen ihnen. Der Fliegenpilz rastete ebenfalls ganz in der Nähe, ein Klumpen mit einem einzigen seltsamen Auge.
Die Quilon hatte recht gehabt. Der Marsch zum Festland war das beste gewesen. Das Küken im Ei lebte noch, denn er konnte seine lebendige Gegenwart fühlen. Mit dem Elas in der Nähe, wären sie auf dem Inselfragment fortwährender Verwundbarkeit ausgesetzt gewesen. Nun hatten sie eine Chance - und das Ei auch. Das Festland war zum Nisten keineswegs ideal, aber die Insel hatte sich in eine Todesfalle verwandelt.
Orn blickte sich um. Er kannte das Terrain, denn hier hatte er Ornette während der Werbungszeremonie verfolgt. Nicht weit vom Ufer entfernt erhoben sich die Schneeberge mit ihren Höhlen, Erdspalten und heißen Wassern. Irgendwo in der Nähe der Schneegrenze mochte ein geeigneter Nistplatz sein. Die Kälte würde es doppelt schwierig machen, das Ei warm zu halten, aber es war notwendig wegen der Räuberreptilien, die normalerweise nicht so hoch hinaus gingen.
Er erhob sich und ging voraus. Die Quilon folgte, untertänig jetzt, da. sie ihre Arbeit getan hatte. Sie preßte das Ei dicht gegen ihren feuchten Körper und umschloß es mit ihren Vordergliedern, so daß es der Luft so wenig wie möglich ausgesetzt war. Tatsächlich lag die Hitze des Tages jetzt über ihnen, so daß dies nicht länger kritisch war. Der Fungus verschwand im Unterholz. Orn sah ihn nur noch gelegentlich. Zwischen Ufer und Berg lag eine flache Ebene, ein Ausläufer des großen Terrains, auf dem die Tricerherde weidete. Die Palmen waren stark gestutzt, was darauf schließen ließ, daß die großen Reptilien hier in jüngster Zeit ihre Nahrung gesucht hatten. Obwohl er sie selbst nicht fürchtete, war er sich nicht sicher, wie sie auf die große Säugerin reagieren würden. Vielleicht beachteten sie sie nicht, aber wenn sie es doch taten, war das Ei wieder in Gefahr. Er beschloß, den Kurs zu ändern, um der örtlichen Herde aus dem Weg zu gehen.
Dann roch er etwas anderes. Es war ein anderer großer Säuger aus der Spezies der Quilon - ein männliches Exemplar.
Orn wußte nicht, ob das gut oder schlecht war. Der Säuger hatte die Säugerin verlassen, und vielleicht bedeutete diese Rückkehr eine Versöhnung. Aber es konnte auch Ärger geben. Normalerweise würde sich Orn nicht in die Werbungszeremonien und Paarungsgewohnheiten der Säuger einmischen, aber er brauchte die Quilon für den Transport und das Wärmen des Eis, während er auf Nahrungssuche ging. Er konnte es nicht allein ausbrüten.
Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, kam das männliche Exemplar heran. Es war nicht der ursprüngliche Partner.
Es entstand lautes Geplapper, als sich die beiden Säuger anschrien. Der Fliegenpilz hatte sich beim ersten Anzeichen von dem Besucher davongemacht. Orn roch ihn in der Nähe, konnte ihn jedoch nicht sehen.
Der sinnlose Dialog setzte sich fort. Orn registrierte die Reihenfolge der Reaktionen auf seilen der Säugerin:
Überraschung, Verstehen, Zorn, Furcht. Sie mochte den Fremden nicht, hatte aber Angst vor dem, was geschehen mochte, wenn sie davonlief. Sie argwöhnte bei dem männlichen Exemplar böse Absichten. Ihre Sorge galt allerdings nicht nur sich selbst, sondern auch.
Dem Ei!
Orn griff bereits an, als er sich darüber klar wurde. Seine Flügel flatterten, um die Geschwindigkeit zu erhöhen. Sein Schnabel zielte nach vorne. Mit dem Kopf zuerst warf er sich auf diesen fremden männlichen Qui- lon.
Die Kreatur blickte ihn nicht an, aber ein Lichtblitz löste sich von ihr. Eine schreckliche Hitze traf Orn, versengte die Federn des einen Flügels und das Fleisch darunter und die knochige Unterschicht und durchdrang seinen ganzen Körper. Die Wunde war tödlich. Er wußte es, als er den Angriff fortsetzte.
Die Säugerin schlug den Eindringling mit ihrem freien Glied, aber er fing sie ab und war unverletzt. Auch dies nahm Orn wahr, als die Signale des Todes durch seinen rennenden Körper jagten. Das männliche Exemplar war schnell und tödlich und ohne Gefühl. Er würde sie beide töten und das Ei zerschmettern. Diese Gewißheit hielt Orn aufrecht, wo er normalerweise längst gefallen wäre. Nur wenn er den feindlichen Säuger zu Boden brachte, konnte er dem Ei eine Chance geben - wenn auch nur die kleine Chance, mit der er selbst ausgeschlüpft war. Seine Eltern waren gestorben, als sie das Nest und die Eier gegen ein räuberisches Krokodil verteidigt hatten. Orn würde bei der Verteidigung seines Eis gegen einen räuberischen Säuger sterben. So mußte es sein.
Aber er wußte auch, daß es nicht so sein würde. Er hatte sich diese Säuger als langsam und plump und nicht richtig intelligent vorgestellt. Törichterweise war er von den beiden ausgegangen, die in Frieden gekommen waren, um sich zu paaren. Dieser andere Säuger hatte seine Stärke und war mörderisch. Er würde den Sieg davontragen.
Aber er machte weiter, wobei seine Beine irgendwie den Schwung des Körpers unterstützten. Er konnte den Säuger wenigstens treffen, vielleicht sogar verwunden.
Dann tauchte ein Schatten über der Szene auf.
Das eine Glied des männlichen Quilon war damit beschäftigt, das weibliche Exemplar festzuhalten. Das andere hatte er erhoben, um Orn abzuwehren. Seine kräftigen Hinterglieder waren gegen die Erde gestemmt. Er konnte in diesem Augenblick nur den Kopf frei bewegen. Der Kopf fuhr herum.
Der Schatten kam vorbei.
Quer über den Kopf des Säugers zog sich ein breiter Schnitt, dort wo die Augen gewesen waren.
Der Schatten kehrte zurück. Orn erkannte ihn jetzt. Es war der fliegende Fungus, der sich mit schwindelerregender Schnelligkeit bewegte. Wieder löste sich eine Feuerlanze von dem Säuger und versengte Gehölz und Bäume, nicht aber den Fliegenpilz. Ein zweiter Schnitt entstand, die Kehle des Säugers fast umschließend. Blut strömte hervor.
Als Orn schließlich mit seinem Ziel zusammenstieß, nur ein paar Herzschläge nach dem Beginn seines Angriffs, wußte er, daß sie beide starben. Sein Gewicht riß den Säuger von der Quilon weg. Nur sie und der Fungus - und das Ei! hatten die gewalttätige Auseinandersetzung überlebt.
»Circe!«
Orn und der Säuger brachen in einem Haufen zusammen, wobei sich sein Blut mit dem seines Widersachers vermischte. Er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper, aber er konnte die Geräusche der Säugerin hören. Sie schwieg niemals still!
»Circe! Wir haben einen Agenten getötet! Es können noch andere in der Gegend sein, und sie werden uns alle vernichten. Sie sind gekommen, um Paläo zu übernehmen, da bin ich mir ganz sicher. Wir müssen die Spuren beseitigen. Schnell!«
Der Fliegenpilz wurde langsam und kam zur Ruhe. An seinem Schwanz war Blut.
»Die Tricer! Kannst du sie in Stampede versetzen?«
Der Fungus war weg.
Dann beugte sie sich über Orn und berührte seine Nackenfedern mit diesen nutzlos weichen Fingern. Sie hielt das Ei noch immer.
»Orn, du. lebst!«
Er hatte nicht gewußt, daß der Tod so langsam sein würde. Er war hilflos, aber er verspürte jetzt keine Schmerzen. Da waren nur ihre langsam leiser werdenden Geräusche, ganz sanft jetzt und nicht länger störend.
»Nein, du kannst diese Verbrennungen nicht überleben. Es tut mir leid, Orn. Ich. ich wollte nicht, daß es so endet. Ich werde dein Ei retten. Ich werde es bewahren, bis.«
Ihre Pfote streichelte seine Nackenfedern. »Die Tricer kommen. Ich muß hier weg, Orn. Mit deinem Ei! Die Kolosse werden alles niederwalzen, so daß niemand etwas merkt, hoffe ich. Wie er starb, meine ich. Halte Paläo sakrosankt. Ich. Du warst ein tapferer Kerl - bist einer - und ich liebe dich. Du hast den Agenten abgelenkt, so daß Circe. Du hast dein Leben für uns geopfert, und das werde ich nie vergessen. Nie! Leb wohl, Orn.«
Sie war weg, und irgendwie wußte er, daß sie sein Ei bewahren würde. Das war alles, was zählte.
Der Boden bebte und schüttelte sich. Tricers - in Stampede! Orn versuchte, sich zu bewegen, konnte es aber nicht, bevor er sich erinnerte, daß die Bemühungen sinnlos waren. Ihre Geräusche waren laut. Die schweren Hufe stampften auf den Boden wie gigantische Regentropfen. Sie kamen hierher! Die ganze Herde stürmte über das sich verengende Plateau und näherte sich genau dieser Stelle. Der lauter werdende Rhythmus ihrer Schritte war wie ein Vulkanausbruch. Hinter ihnen würde nichts als ein ausgetretener Pfad zurückbleiben.
Orn war zufrieden.