IX Orn
Die Berge waren hoch, und eisige Winde peitschten durch den Paß. Die Kette war neu. Orns Erinnerungen an die Landschaft dieses tropischen Teils des Subkontinents zeigten eine flache Ebene an, die gelegentlich von Ausläufern des Ozeans überflutet war. Die Naturkräfte hatten in ungewöhnlicher Weise dafür gesorgt, daß es zu dieser Gebirgsbildung gekommen war. Dennoch war es möglich, daß seine geistige Landkarte nicht stimmte, denn dieses Gebiet lag ganz an ihrem Rand. Keiner seiner Vorfahren war weit über diese Örtlichkeit hinaus gekommen, weil die See sie gestoppt hatte. Die Bergkette und alles, was dahinter liegen mochte, mußte in den letzten paar Millionen Jahren vollständig aus dem Ozean aufgetaucht sein.
Orn wäre umgekehrt und hätte eine andere Route gesucht. Aber es war ein langer, schwieriger Aufstieg gewesen, das Wild war rar, und er hatte Hunger. Beute mochte ganz nahe sein. Mit Sicherheit befand sie sich nicht hinter ihm. Er rannte weiter und erzeugte neue Wärme, um die zu ersetzen, die der Wind ihm raubte. Wenn die Lage dieses Passes typisch war, würde der Abstieg bald beginnen.
So war es. Als Orn den Kamm überschritt, änderte sich das Wetter. Die kalte trockene Luft wurde zu kalter feuchter Luft, die sich stetig erwärmte, je tiefer er kam. Der stechende Schnee wurde Eisnebel, dann Regen.
Er legte die Flügel an, um sie in ihrem fettarmen Zustand so gut wie möglich vor dem Regen zu schützen, und ging weiter. Er wollte die Ebene bei Nachtanbruch erreichen und seinen Kröpf füllen. Die Vegetation nahm zu. Aber die Farne und Palmetten trugen keine Früchte.
Es wurde warm. Orn erkannte die Art der Erde unter seinen Füßen - vulkanischen Ursprungs. Das machte ihn wachsam. Er wußte aus erster Hand, wie gefährlich Vulkanismus war. Anstatt herauszukommen, geriet er noch tiefer hinein. Es schien mehr Regionen mit solchen Aktivitäten zu geben als jemals in der Vergangenheit, und hätte sein Denken auf diese Weise funktioniert, würde er sich gefragt haben, was aus der Welt wurde. Überall auf der Landmasse fanden große Veränderungen statt, abgesehen von den Vorgängen im Tier- und Pflanzenreich. Es blieb beunruhigend.
Er stieß auf einen kleinen Bach und folgte ihm schnell abwärts. Die Dämmerung nahte. Gerade als es fast zu dunkel war, um nach Sicht zu jagen, fand er einen flachen Teich mit fetten, trägen Fischen - Teleos. Er sprang mit beiden Füßen hinein und packte zwei, bevor sie aufgeschreckt waren.
Er aß gut und verbrachte die Nacht in einem dichten Magnolienstrauch.
Die Gefahren der Bergkette waren überwunden.
Am klaren Morgen blickte Orn über die Landschaft. Der Fluß fiel in mehreren Katarakten ab und verschwand schließlich in einem Vegetationsgewirr am Fuße des Abhangs. Ein Stück dahinter lag das Ufer eines großen flachen Sees. Viele dicht bewachsene Inseln sprenkelten ihn, und einige seiner Bereiche waren nicht mehr als nasser Sumpf. Weiter in der Ferne, jenseits des Wassers, erhob sich eine weitere Bergkette.
Das Tal war heiß. Dampffontänen stiegen aus der Bucht empor, die den aktiven Vulkanen am nächsten lag, und über einem großen Gebiet des Sees hingen dichte Nebel.
Das Tal war eben. Nichts ragte über die Bäume hinaus, und der überwiegende Teil bestand aus offenem Wasser. Ingesamt gesehen wirkte es vertraut: Dies war die Landschaft vor zwanzig Millionen Jahren, scharf in seinen Erinnerungen, wenn auch in stark reduziertem Rahmen.
Er folgte dem Fluß abwärts. Binsen und Schachtelhalme wuchsen an den Rändern seiner flachen Stellen, und blättrige Pflanzen umsäumten ihn überall. Grasbüschel gab es oben auf der Bergseite, die aber in den Niederungen verschwanden, weil sie sich hier nicht durchsetzen konnten. Orn vermißte das Gras nicht. Es war zäh und geschmacklos, und seine Samen waren zu klein für seinen Appetit. Als das Land eben wurde, verlor Orn den Gesamtüberblick über das Tal. Er stellte fest, daß es nicht so flach war, wie es von oben ausgesehen hatte. Nebel hatten die Unebenheit unkenntlich gemacht und die Erdwälle, Rinnen und Schluchten verborgen. Der Fluß stürzte sich in eine große Ansammlung von Bäumen. Einige gehörten zu der Laubbaum-Kategorie, die den Kontinent im Norden übernommen hatte, aber die meisten waren vertraute Tannen und Kiefern. Hier gediehen hochgewachsene Farnbäume und viele baumartige Variationen von Cycas.
Wild war besonders reichlich vorhanden. Kleine Säuger linsten aus den Zweigen der größeren Laubbäume, und der Boden quoll vor Eidechsen über. Fliegende Insekten summten an allen Orten.
Ei" verließ den Ruß, der zu Sumpf degenerierte, und erreichte kurz darauf ein buschiges Plateau mit kurzen, klobigen Cycas und gestrüppartigen Angios. Moos bedeckte die gelegentlichen Felsen. Er verfolgte eine besonders große Libelle mit vier Flügeln, nicht mit der echten Hoffnung, sie fangen zu können, sondern zufrieden damit, diese wundervolle, unerwartete Reinkar- nation des Vertrauten erforschen zu können. Jeder Vorwand war ihm recht.
Eine mächtige, niedrige Gestalt erhob sich vor ihm. Orn stolperte fast darüber, bevor er sie bemerkte. Die Verfolgung des Flüglers hatte mehr von seiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommmen, als klug war. Er war sorglos geworden in diesem Revier harmloser Tiere. Er hatte keinen größeren Säuger gerochen und sich deshalb entspannt. Törichterweise.
Es war ein Reptil - ein großes. Es war nicht so groß wie Orn, aber das lag daran, daß sich der ganze Körper dieses Tiers über den Boden erstreckte. Sein Kopf war niedrig und mit knochigen Schuppen gepanzert. Seitlich stachen vier zahnartige Hörner hervor. Ähnliche Schuppen bedeckten die ganze Länge des Körpers und machten den Rücken zu einem breiten, undurchdringlichen Kasten. Kräftige Dorne, einige so lang wie Orns Schnabel und genauso tückisch gebogen, bekränzten beide Seiten. Der Schwanz war eine stumpfe, feste Knochenmasse. Orn erinnerte sich sofort. Dies war ein Anky, einer aus der Linie der großen -Reptilien. Es war viermal so lang wie Orn und unproportional schwer und kräftig, aber keine aggressive Drohung für ihn. Sein massiver Panzer war defensiv, und er war ein Herbivore.
Dies war das zweite riesige Landreptil, auf das er hier traf. Das erste hatte er in der Höhle gesehen, auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen, aber dieses hier war gesund. Orn beschäftigte sich nicht mit den schwerwiegenden Schlußfolgerungen aus seiner Entdeckung, aber er begriff, daß ein lebendes Monster andere nach sich ziehen konnte. Seine sich schon wieder entspannenden Reflexe erwachten erneut zu voller Funktionstüchtigkeit, und er blickte sich aufmerksam und etwas verstohlen um.
Der Anky, langsam denkend, bemerkte ihn und bog seinen Schwanz. Orn sprang zurück. Ein einziger Hieb dieser Keule konnte ihn vernichten, wenn er sorglos genug war, in ihre Reichweite zu geraten. Der Anky war harmlos, aber es mußten Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden. Er konnte töten, ohne es zu wollen.
Der Anky machte einen langsamen Schritt vorwärts, wobei die Muskeln in seinen kurzen, dicken Beinen die Schuppen hervortreten ließen. Auf seine stumpfe Art war er neugierig. Orn hätte mit Leichtigkeit davonlaufen können, zog es aber vor, das nicht zu tun. Geleitet von Erinnerungen, die zum ersten Mal so funktionierten, wie sie sollten, blieb er stehen. Der Anky zögerte, verlor dann das Interesse und nahm einen weiteren Bissen Blätter vom nächsten Strauch. Was sich nicht bewegte und nicht nach Bedrohung roch, existierte für ihn nicht als Gefahr. Der Anky hatte ihn vergessen.
Orn ging weiter, das Reptil abermals alarmierend. Diesmal kümmerte er sich nicht darum. Er hatte die Verläßlichkeit seiner Erinnerungen bestätigt gefunden und würde ihnen in diesem Tal vertrauen.
Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel. Die Nebel hatten sich geklärt, und das Gesträuch verwandelte sich in ein Feld aus niedrigen Farnen.
Eine Herde von großen Tieren, die friedlich grasten, kam in Sicht. Orn erkannte auch sie: Tricers. Am nächsten war ein großer Bulle, länger als der Anky, aber größer als Orn und mit einem monströsen Schild am Hinterkopf ausgestattet. Drei schwere Hörner, leicht nach unten gebogen, sprossen aus der Region von Nase und Augen, und mächtige Muskeln bewegten sich, als er den Kopf drehte. Dies war ein Tier, mit dem sich keine vernünftige Kreatur anlegte.
Er näherte sich vorsichtig, aber sie nahmen keine Notiz von ihm. Sie waren größer als die, die seine Vorfahren gekannt harten, und horniger, aber auch sie bedeuteten für ihn keine Gefahr, wenn sie nicht gestört wurden. Er ging um die Herde von fünfzig oder mehr Tieren herum und schritt auf den Hauptsee zu. Der Boden wurde schwammig, und die Schachtelhalme hoch. Und bezeichnenderweise wurden die kleinen Vögel stumm.
Ein Kopf erschien über dem Blätterwerk. Orn sprang und breitete seine Flügel in einem Reflex aus, der nichts mit Fliegen zu tun hatte. Er erkannte auch dieses Reptil, und jetzt war er in Schwierigkeiten. Dies war ein Struth.
Der Struth hatte etwa Orns Größe und war ihm auf den ersten Blick von der Physis her sehr ähnlich. Er stand auf langen, schlanken Hinterbeinen, und sein kleiner Kopf thronte auf einem sehnigen Nacken. Er war omnivorisch, griff aber keine großen Beutetiere an. Seine Nahrung bestand aus Gliederfüßern, Vögeln, Säugern und allem, was sich sonst anbot wie etwa Eiern und Früchten. Er war schnellfüßig.
Damit hörten die Gemeinsamkeiten auf, denn der Struth besaß statt der Flügel kleine Vorderglieder, anstelle von Orns Federbüschel einen starken, fleischigen Schwanz, eine gesprenkelte glatte Haut und einen viel häßlicheren Schnabel. Sein Körper wechselte wie bei allen Reptilien je nach der Tageshitze die Temperatur.
Aber die Ähnlichkeiten zu Orn waren groß genug, um ein Problem heraufzubeschwören, denn die beiden bewohnten in beträchtlichem Maße eine ökologische Nische. Sie waren direkte Konkurrenten.
Orn war bisher nie einem Struth begegnet, aber er kannte ihn aus seinen Erinnerungen sehr gut. Das Reptil, das über einen Anflug des Rassengedächtnisses verfügte, das bei Orn so ausgeprägt war, erkannte den Wettbewerber instinktiv. Sie waren keine Feinde im Räuber-Beute-Sinn, aber der eine konnte den anderen nicht in seinen Jagdgründen tolerieren. Der Rivale um die Nahrung mußte vertrieben werden.
Trotz der vergleichbaren Größe war der Struth beträchtlich schwerer als Orn, denn er hatte dort Fett und Muskeln, wo Orn Flaum und Federn hatte. Der Struth war frisch, während Orn noch von dem anstrengenden Marsch durch die Einöde und über die Berge mitgenommen war. In der Kälte der Nacht oder der Höhenlage hätte Orn trotzdem mit ihm gekämpft, denn sein warmer Körper wurde bei sinkenden Temperaturen nicht lethargisch. Seine Reaktionen würden dann schneller sein, seine Schläge sicherer, seine Wahrnehmungen genauer.
Aber dies war die Hitze des Tages und das tiefe Land, und das Reptil war am besten in seinem Heimatterritorium. Unter diesen Umständen wäre es töricht gewesen, jetzt gegen es zu kämpfen.
Der Struth war sich seiner Vorteile bewußt. Er griff an. Tapferkeit und Feigheit waren keine Konzepte in Orns Lexikon. Er kämpfte, wenn er es für angebracht hielt, und ging Schwierigkeiten zu anderen Zeiten aus dem Weg.
Er flüchtete.
Der Struth hatte seinen Rivalen vertrieben, war jedoch nicht intelligent genug, es zu erkennen. Die einmal begonnene Jagd mußte fortgesetzt werden, bis sie zwangsläufig irgendwie ein Ende fand.
Orn war ein guter Läufer, wie es sich für einen landgebundenen Vogel gehörte. Aber das Terrain war zum Teil neu für ihn, und auf dem etwas sumpfigen Untergrund kamen seine Krallen nicht so gut zurecht. Er war mit einem guten Vorsprung gestartet, aber das Reptil holte auf. Diese Verfolgungsjagd mochte sinnlos für es sein, aber für ihn mochte sie fatal sein.
Orn wich zur Seite aus, um die Tricerherde zu umgehen. Der Struth verkürzte den Winkel und verringerte den Abstand zwischen ihnen schnell. Nur fünf Körperlängen trennten sie jetzt noch. Es wäre sinnlos, das Wasser anzusteuern und hineinzuwaten. Das Reptil würde lediglich folgen und auf Grund seiner größeren Stabilität schneller vorankommen. Orn konnte an der Oberfläche schwimmen, was der Struth nicht konnte. Aber tiefes Wasser war aus anderen Gründen gefährlich. Er würde Zeit brauchen, um es trotz der Jagd gründlich zu erkunden, bevor er sich ihm anvertraute.
Der Untergrund wurde schmutzig und behinderte ihn noch mehr. Nasser Sand und haftender Schlamm umschlossen seine Füße und verlangsamten ihn bedenklich. Und er ermüdete dadurch auch schnell. Auch der Struth wurde behindert, allerdings nicht so stark. Die Lücke betrug nur noch drei Körperlängen.
Orn rannte weiter, noch nicht erschöpft, aber aufs äußerste angestrengt. Bald würde er haltmachen und kämpfen müssen. Und wenn er nicht unrealistisch viel Glück hatte, würde der Kampf genauso ausgehen wie die Jagd. Er konnte das Reptil verletzen, vielleicht sogar verkrüppeln, aber er durfte nicht erwarten, es besiegen zu können.
Ein einzelner Tricerbulle graste zwischen den Cycas am Rand der sumpfigen Bucht. Orn erkannte, daß er sich in seiner Hast selbst in die Falle gelockt hatte: Vor ihm und auf der einen Seite lag der blasige Sumpf, den er nicht unvorbereitet zu betreten wagte, selbst wenn er die Zeit dazu gehabt hätte, und auf der anderen Seite befand sich der massige, gehörnte Herbivore. Er konnte nirgendwo hin.
Außer. Er tat es, als er den Struth eine Länge hinter sich hörte. Er stürmte auf den Bullen los, als sei es seine Absicht, sich auf den schrecklichen Hörnern selbst aufzuspießen.
Der Tricer blickte hoch, riesig und stupide. Eine grüne Ranke baumelte aus seiner Schnauze. Seine winzigen Augen wurden durch die beiden tückischen Hörner überschattet, und der halbkreisförmige Kragen seines Kopfpanzers stand höher als Orn selbst. Ja, eine höchst gefährliche Kreatur, aber von langsamer Entschlußkraft. Sein Sehvermögen war nicht gut, so daß er einen potentiellen Gegner vor allem an der Größe und durch den Geruch ausmachte. Und er fürchtete keine Vögel, vorausgesetzt, er erkannte sie rechtzeitig. Orn rannte weiter auf ihn zu, mit den Flügeln schlagend und kreischend, so daß seine Vogelnatur ganz klar wurde - für fast jede Kreatur. Er passierte den Kopf des Tricers im Abstand einer Flügelbreite, und der Bulle stand bloß da und bemühte sich, zu einem Entschluß zu kommen.
Der Struth hingegen wagte das Kunststück nicht. Er war ein Jäger und deshalb nicht vollkommen beschränkt. Obgleich zu klein, um eine Gefahr für den Bullen zu sein, war er doch zu groß, um von der Herde toleriert zu werden. Orn sah die jungen Tricer in der Nähe ihrer Mütter. Tatsächlich bewachten wenige Reptilien ihre Eier oder schützen ihre Jungen, aber jene Jungen, die bei der Herde blieben, pflegten eher zu überleben als jene, die sich frei bewegten, und so war der Effekt ziemlich gleich. Nein, Räuber waren hier nicht willkommen.
Aber in seinem Jagdfieber wich der Struth nicht rechtzeitig aus. Er näherte sich dem Bullen wenige Momente nach Orn. Gerade Zeit genug für das Monster, zu einem Entschluß zu kommen. Der Tricer schnüffelte, schnaufte und peitschte mit seinem schrecklichen Schild, bereit anzugreifen.
Schon begriff der Struth, was geschah. Die Verzögerung lag in der Ausführung, nicht im Erkennen. Jetzt hielt er an und wich zurück, während der Bulle folgte. Schließlich rannte der Struth den Weg zurück, den er gekommen war, seine ursprüngliche Absicht war vergessen. Der Tricer verfolgte ihn noch ein paar Schritte, stoppte dann und nahm das Grasen wieder auf. Die Episode war vorüber, und Orn war in Sicherheit.
Gut so. Er hatte keinen echten Streit mit dem Struth gehabt und war glücklich, dessen territoriale Ansprüche achten zu können. Sein einzige Ziel war es gewesen, sich zu schützen.
Unbelästigt wanderte er durch die Herde. Das war gut, denn so konnte er sich erholen, aber ein längeres Verweilen war unmöglich - eine Tricerkuh mochte geistesabwesend auf ihn treten, und wenn irgend etwas die Herde alarmierte und in Panik versetzte, konnte er zwischen den Körpern zerquetscht werden.
Doch wo sollte er jetzt hin? Dies war ein angenehmes und seinem Gedächtnis vertrautes Tal, von der Art her, nicht von den Details, und er könnte hier bequem längere Zeit bleiben. Aber es hatte nicht das zu bieten, was ihn immer zwingender weitertrieb.
Er verließ die Herde und hielt auf die Bergkette zu, die das Tal säumte. Dort konnte er wenigstens Insekten und Fische finden, um seinen wiederkehrenden Hunger zu stillen. Und vermutlich war das höhere Land frei von Räubern. Mit der Rückkehr der alten Welt waren auch die alten Gefahren zurückgekehrt. Er hatte sich daran gewöhnt, nachts ruhig zu schlafen, und bevor er seine richtigen nächtlichen Reflexe nicht wiederhatte, wagte er nicht unter den Reptilien zu schlafen. Obwohl er sie sich nicht vorstellen konnte, bevor er sie sah, war er sich bewußt, daß noch viel gefährlichere Kreaturen dieses Tal durchstreiften als die, denen er bisher begegnet war.
Dies war schließlich das Endergebnis der diffusen Gedankengänge, als Orn den Abhang hinaufstieg.
Er kehrte zu dem nach unten strömenden Fluß und der Vulkanerde zurück, weil diese jetzt vertraut waren. Vertrautheit bedeutete Leben für ihn. Es ging Gefahr von der erhitzten Erde und dem grollenden Berg aus, aber dieses bekannte Risiko stand unbekannten Risiken gegenüber. Die vulkanische Drohung betraf alle Kreaturen, insbesondere die Reptilien, für die diese Umgebung tatsächlich noch feindlicher war als für ihn. Er würde auf sie zurückgreifen, bis er ein größeres Gebiet richtig erkundet harte.
Er begegnete keinen weiteren großen Reptilien, obwohl seine Augen und seine empfindliche Nase zahlreiche Spuren entdeckten. Es gab viele von ihnen, meistens junge, und die verbargen sich vor ihm. Das Tal war in Wirklichkeit nicht dichter bevölkert als die umliegenden Gebiete jenseits des Ödlands. Es schien nur so, weil seine Bewohner größer und vertrauter waren. Im nördlichen Land gab es die kleinen Säuger in viel größeren Zahlen, während die riesigen Reptilien dort verhältnismäßig spärlich waren. Ein paar Krokodile, ein paar Schlangen. Was war dort geschehen?
Er speiste wieder Fisch und spritzte das klare Wasser über seine Federn, um sie zu erfrischen. Die Zeit war fortgeschritten, und jetzt war Nachmittag. Er begann die Suche nach einem geeigneten Platz für die Nacht. Er zog es vor, nicht unmittelbar auf dem Boden zu lagern, aber das Erklettern eines Baums war hier, wo die Bäume verkrüppelt und selten waren, unpraktisch. Vielleicht ein gutes Dornendickicht.
Dies war eine ernste Angelegenheit, und Orn betrieb die Suche sehr gewissenhaft. Er hielt Ausschau nach einem längerfristigen Schlafsitz, nach einem, auf den er sich während der gesamten Periode seines Aufenthalts in diesem Tal verlassen konnte. Später konnte er weitere Schlafsitze einrichten, so daß er in der Lage war, auch entferntere Regionen des Tals zu durchstreifen, ohne einen langen Rückweg vor sich zu haben. Aber das erste Refugium war besonders wichtig.
Die Sonne tauchte der anderen Seite entgegen und ließ die Silhouette der Berge hervortreten. Die Wolken wurden rosafarben. Aber er hatte noch immer keinen passenden Flecken gefunden. Der Boden wurde wieder warm, das Signal eines weiteren unterirdischen Glutofens vor ihm oder wenigstens das einer Abflußöffnung aus der Tiefe. Es war so, als würde die ganze Gegend von heißen Röhren durchzogen. Orn wurde nervös, erinnerte sich wieder daran, was in solchem Terrain passieren konnte. Sonst dachte er nicht daran. Wie immer beschwor die Unmittelbarkeit das schmerzliche Bild herauf. Aber er spürte, daß am Wasser eine gewisse Sicherheit gegeben war. Obwohl sich das Flußbett verschieben konnte, bedeutete es Schutz vor ausbrechendem Feuer.
Demgemäß folgte er einer Abzweigung des Flusses hinauf zu ihrer Schneequelle. Er konnte, wenn es nötig wurde, diese Nacht in den kälteren Höhenlagen verbringen. Dort würden ganz bestimmt keine Reptilien sein. Aber es würde unbequem sein und war auch vom eigentlichen Tal zu weit entfernt, um als dauerhafte Angelegenheit angesehen werden zu können.
Als die Sonne die fernen Berge berührte, stieß er auf einen Wasserfall. Der Bach floß über einen Felsenvor- sprung und bildete einen Teich und darunter einen weiteren, wobei er zwischen den beiden wie ein Vorhang nach unten sprühte. Der Fall überschritt Orns Körpergröße geringfügig, aber die Kraft des Wassers war nicht sehr stark. Er erkannte die Konstruktion. Hinter so einem Wasservorhang würde sich eine Aushöhlung befinden, wo das weniger dauerhafte Gestein im Laufe der Jahrtausende weggewaschen worden war. Das war immer so im Lebenszyklus eines Flusses. Manchmal war darunter Platz genug für den Schlafsitz eines großen Vogels.
Orn stieß den Schnabel in den Wasserfall. Das kalte Wasser teilte sich, und sein Kopf kam durch. Es gab Platz, aber nicht die richtige Bodenhaftung. In einer Notsituation konnte er mit einem Fuß einen der schräg abfallenden Felsgrate packen und sich mit dem Schnabel an der narbigen Rückwand festhalten, aber sicherlich nicht aus freien Stücken. Dies war nicht sein Schlafsitz.
Dann aktivierte etwas sein gesamtes Wahrnehmungsvermögen und beschwor ein Feuerwerk von Bildern herauf, die in einzigartiger Verwirrung übereinanderstürzten. Orn ließ den Kopf zurückzucken und stand zitternd im schäumenden Wasser, während er es mit krampfhaft flatternden Flügeln zu begreifen versuchte.
Das, was er unbewußt gesuchte hatte. die namenlose Mission. das Ziel seiner Wanderungen.
Erregung!
Denn er hatte die Spuren eines früheren Bewohners dieses Notschlafsitzes gesehen. Die Kratzspuren der Kralle, den Abdruck des Schnabels.
Die unmißverständliche Spur eines anderen Vogels seiner Spezies, eines anderen »Orn« - in seinem Alter und weiblich.