III Orn
Es war eine Insel, auf der er sich befand.
Durch seine Erkundigungsgänge hatte Orn längst festgestellt, daß es für ihn kein Entkommen gab, da er nicht fliegen konnte und nicht zu schwimmen wagte. Aber seine Erinnerungen informierten ihn darüber, daß dieses Stück Land, das er im Laufe eines einzigen Tages viele Male ohne Ermüdungserscheinungen durchqueren konnte, nicht die Gesamtheit der Welt war. Er war imstande, bis zu einem gewissen Maß die jüngste Geschichte der Insel zu verstehen, denn es gab Spuren von vielen früheren Aufenthalten seiner Spezies, und sein Gedächtnis ließ ihn wissen, daß es hier schon seit mehreren Millionen Jahren Land gab. Spezielle Orte wie die Höhle, aus der er ausgeschlüpft war, waren zu vergänglich, um registriert zu werden, aber die Substanz der Felsen war beständig genug, um vertraut zu wirken.
Orns Vorfahren hatten den gesamten Kontinent durchmessen und seine sich verschiebenden Konfigurationen in ihr fünfzig Millionen Jahre umfassendes Gedächtnis aufgenommen. Orn sah Teile des Ganzen, wenn er die örtliche Landschaft betrachtete. Er war sich bewußt, daß diese Insel nur ein winziger Randstreifen der großen Landmasse war, trotz des Meeresgolfs dazwischen in Wirklichkeit ein Teil davon. Die Insel trieb am westlichen Perimeter des Kontinents dahin. Er wußte auch, daß sich der Kontinent selbst vorwärtsbewegte und schon viele Male die ganze Breite der Insel zurückgelegt hatte, wenn auch langsam. Gewaltige Umwälzungen hatten den ursprünglichen Kontinent gespalten und in Fragmente zerlegt. Obwohl wechselnde Felsbrücken die neuen Subkontinente miteinander verbanden, waren die letzten davon vor kaum zehn Millionen Jahren abgetrennt worden und hatten eine ganze ökologische Bevölkerung isoliert. Der Zuzug von neuen Tiergattungen aus fernen Regionen war zum Erliegen gekommen. Die Reichweite war verhältnismäßig beschränkt, und die wachsende Wildheit der Geographie hatte zum Niedergang gewisser eingesessener Kreaturen und zum plötzlichen Aufstieg von anderen beigetragen. Die großen Reptilien hatten die kühlen nördlichen Regionen und das gebirgige Terrain weitgehend aufgegeben, obwohl sie in den südlichen Sumpfgebieten noch immer die Vorherrschaft besaßen. Die winzigen Säugetiere hatten die verlassenen Gebiete überrannt, und, was noch wichtiger war, die Vögel hatten sich prächtig entwickelt. Es war in der Natur zu einem neuen Gleichgewicht gekommen.
Orns Erinnerung verblaßte, wenn es um die jüngste Periode ging. Es bedurfte vieler Generationen, um das Rassengedächtnis fest zu verankern, so daß er am besten über die Situation vor fünf bis zwanzig Millionen Jahren informiert war. Was die davorliegenden Perioden anging, wurden seine Erinnerungen ziemlich allgemein. Spezielles Wissen gab es nur in Bezug auf die eigene Art. Selbst davon war viel verblaßt, je weiter er sich vom Ei entfernte. Er erinnerte sich nicht mehr an die Eindrücke vom Schwimmen oder von der Eroberung des Landes.
Einige jüngere Bilder waren klar, aber ungewiß, andere verschwommen und wieder andere so flüchtig, daß sie bedeutungslos wurden. Hätten seine Eltern noch gelebt, würden sie ihm die Besonderheiten der gegenwärtigen Existenz beigebracht haben. Erinnerungen waren weniger wichtig als Beispiele aus dem täglichen Leben. Niedere Kreaturen wie die Gliederfüßer verließen sich ausschließlich auf das Gedächtnis, aber das reichte für ihn nicht. Seine eigenen Erfahrungen wurden der Masse der Erinnerungen, die bereits in seinen Genen vorhanden waren, hinzugefügt und verstärkten einige Bilder kaum merklich, während andere, die nicht mehr zutreffend waren, abgeschwächt wurden. Seine Nachkommen würden den entsprechenden Nutzen davon haben.
Der westliche Teil dieses wandernden Subkontinents hatte sich während seiner Vorwärtsbewegung gekrümmt, als er über den Meeresboden gestolpert war. Ein ausgedehnter, flacher Binnensee war verschwunden, als sich das Land statt dessen zu einer gewaltigen Bergkette verformt hatte. So war eine natürliche Barriere durch eine andere ersetzt worden, und die Kette stieg noch immer an, als Orns Gedächtnis aussetzte.
Die Flora hatte sich hier sehr schnell verändert. Blühende Pflanzen hatten sich in den Bergen explosionsartig ausgebreitet und den älteren Spielarten die wärmeren Tieflandküsten überlassen.
Orn kannte die geologische Geschichte dieser Insel vor allem durch seine Extrapolationen von Präzedenzfällen. Hier hatte er es mit einem vulkanischen Vorgang zu tun. Die Insel war als Überbleibsel von fortwährenden Lava- und Flugascheemissionen .aus dem Meer emporgestiegen. Aus einem einzigen Kegel waren drei geworden, die sich alle von der Ruhelosigkeit des. wandernden Kontinents nährten wie Stürme von den Bewegungen großer Luftmassen. Zwei der Vulkankegel waren zur Ruhe gekommen, während der dritte und kleinste immer noch periodisch im Laufe der Jahrhunderte ausbrach. Orn hatte die Spuren seines früheren Tobens gesehen. Er erkannte sie an den typischen Konfigurationen, obwohl diese inzwischen von der Vegetation überwuchert wurden. Aus seinem unterirdischen Glutofen war die Hitze gekommen, die die Insel jetzt so angenehm machte, Orns Erinnerungen ließen ihn wissen, daß die umliegende Landschaft im Winter unerfreulich kalt wurde - zu kalt für seine Gattung, um zu brüten.
Jetzt war Sommer, ein gutes Jahr nach seinem rauhen Erwachen in der Höhle. Orn war inzwischen mehr als halb so schwer wie seine Vogeleltern geworden, die er niemals gekannt hatte und deren verrottendes Fleisch ihn in den ersten schwierigen Tagen nach dem Ausschlüpfen am Leben gehalten hatte. Das hatten sie zum Schluß noch für ihn getan: ihn mit Nahrung versorgt, als er zu klein war, um selbst effektiv zu jagen. Jetzt hatte sich sein Gefieder angenehm verdichtet, weiß um den Hals herum und auf der Brust hübsch grau. Seine Schwingen und der Schwanz waren kräftig. Er konnte den Hals so verdrehen, daß er jeden Körperteil erreichte, und sein Schnabel war eine respektable Waffe. Seine Schenkel besaßen starke Muskeln zum Laufen, und das Fleisch war gesund. Er war stark und flink und schlau geworden. Wäre es anders gewesen, hätte er überhaupt nicht heranwachsen können, nicht einmal in dieser geschützten Region.
Er war sich bewußt, daß die meisten Vögel seiner Gattung im Kükenstadium elterliche Fürsorge hatten und vor der Wildheit des Klimas und der Raubtiere behütet wurden. Anfänglich hatte er gelitten. Aber er war sich auch bewußt, daß seine Eltern ihren Nistplatz wohlüberlegt ausgesucht hatten. Hier lebten nur wenige wirklich gefährliche Tiere. Das Krokodil, das die Tragödie heraufbeschworen hatte, war von einer anderen Insel herübergekommen, ein Einzelgänger, nach dessen Verschwinden das Gebiet wieder sicher geworden war. Gelegentlich hatte Orn ein anderes Krokodil vorbeischwimmen sehen, aber er hatte sich versteckt und war nicht bemerkt worden. Ja, durch ihre Aufopferung hatten es ihm seine Eltern möglich gemacht, auch ohne unmittelbare Fürsorge zu überleben. Sie waren verläßliche Vögel gewesen.
Einst, das wußte er von den Spuren, hatten hier viele Paare genistet, waren viele Küken ausgeschlüpft. Jetzt war er allein. Irgendwie war seine Spezies im Lauf der Jahrtausende zusammen mit den Reptilien zugrunde gegangen. Oh, es gab Vögel auf der Insel, mehr Arten als jemals zuvor, aber keine seiner eigenen Spezies. Er machte sich keine Gedanken darüber, wieso dieselben Umstände, die eine allgemeine Ausbreitung der Vögel begünstigt hatten, seine eigene Gattung entmutigt hatten. Er wußte lediglich, daß es so war. Er verspürte einen allgemeinen Verlust, eine Einsamkeit, und wurde von Zeit zu Zeit dadurch beunruhigt.
Jetzt, da er in sein zweites Jahr hineinwuchs, wurde er sich eines dringlicheren Problems bewußt. Der Unterbau der Insel bereitete sich auf eine seiner periodischen Eruptionen vor. Er konnte fühlen, wie der Boden anschwoll und sich schüttelte, und er konnte die immer zahlreicher werdenden Gasschwaden sehen und riechen, die aus dem aktiven Kegel austraten. Er deutete die vielfältigen Signale: Gefahr.
Auch die anderen Wesen waren sich der Gefahr bewußt, blieben jedoch weitgehend hilflos. Fische trieben mit dem Bauch nach oben in den zu heiß gewordenen Teichen. Winziges, warmblütiges Kleingetier krabbelte am Tag ins Freie, aus seinen Höhlenbauen vertrieben. Vögel schwebten in den Lüften, zu ängstlich, um lange auf den gespenstisch zitternden Zweigen sitzen zu bleiben. Die Vögel konnten wenigstens fliegen, Orn konnte es nicht. Wenn er in diesen Bahnen gedacht hätte, würde er seine entfernten Vetter vielleicht um ihre Fähigkeit, sich so schnell zurückziehen zu können, beneidet haben. Aber er wußte, daß physisches Entkommen nur ein Teil des Problems war. Ihr Heim wurde genauso zerstört wie das seine. Er ging am Ufer, das dem Festland gegenüberlag, auf und ab und starrte zu dem Gebirge hinüber, das durch die Luft so nah und durch das Wasser so fern lag. Er war kein leistungsfähiger Schwimmer, und die See barg ihre eigenen Gefahren.
Aber selbst das Festland war unruhig. Dunkle Wolken trieben über die Berge hinweg, als andere große Vulkane ihrem Zorn freien Lauf ließen. Nicht nur die Insel bebte, sondern die ganze Region, und die Gezeiten waren ebenfalls in Aufruhr.
Er mußte sich von diesem Ort entfernen. In seinem halberwachsenen Stadium wäre er niemals freiwillig auf Reisen gegangen, aber das Überleben verlangte es. Er mußte das Wasser überqueren und das Ufer hinter sich zurücklassen, und das bald. Aber wie?
Jede Entscheidung, die er getroffen hätte, war plötzlich irrelevant geworden. Die Krise überraschte ihn, als er noch am Wasser entlangwanderte.
Ein gewaltiges Beben erschütterte die Insel. Der Ozean fing an zu tanzen, und die Bäume zersplitterten und stürzten um. Der Boden hob sich, sackte ab, hob sich abermals und schleuderte ihn heftig zur Seite. Als er vom Strand aus zurücktorkelte, öffneten sich im Boden große Spalten, die geräuschvoll aneinander schabten und Steine und Schlamm ausspuckten. Die See zog sich für einen Augenblick zurück, so als ob sie Angst bekommen hätte. Dann überspülte sie mit mächtigen Wellen den Strand, krachte gegen die Felsen und das dort wachsende Gesträuch und schäumte über die normale Flutgrenze hinaus. Das Wasser war braun, und dort, wo es abfloß, blieb eine Schicht von Schlamm und Trümmerstücken zurück.
Dann wurde es sehr ruhig, aber Orn wußte, daß die Insel dem Untergang geweiht war. Seine Vorfahren hatten dazu geneigt, ihr Nest an ähnlichen Orten zu bauen, und waren solchen Situationen schon ausgesetzt gewesen. Die Warnungen in seinem Gedächtnis waren überaus deutlich. Er mußte fliehen, denn es gab keine Erinnerungen an diejenigen, die es nicht getan hatten. Keiner von denen gehörte zu seinen Ahnen.
Diese Erinnerung bestimmte auch den Verlauf seiner Handlungen. Er rannte zu dem einzigen Fluß, der sich von dem ältesten und größten Berg hinunterwand und jetzt seine eigenen Souvenirs mit sich führte. Es sollten auch Bäume dabei sein, schwimmende Stämme, vom Beben entwurzelt und von der Strömung mitgerissen. Er konnte vielleicht auf einen der Stämme klettern, um darauf zur See zu reiten. Mit der zusätzlichen Masse und Schwimmkraft mochte er die Überquerung schaffen, die er allein nicht bewerkstelligen konnte.
Sein Marsch war vergebens. Der Fluß war durch Felsen blockiert worden und staute sich bereits zurück, so daß bald ein kleiner See entstehen würde. Es gab schwimmende Baumstämme, allerdings auf der anderen Seite der Barriere.
Wieder schüttelte sich der Boden, weniger heftig, aber länger anhaltend als beim letzten Mal. Bevor die Vibrationen aufhörten, wurde ein unterirdischer Knall hörbar, gefolgt von einem anders klingenden, aber für Orn um so verdächtigerem Dröhnen.
Alarmiert blickte er zu dem gewaltigen älteren Berg empor. Seine Befürchtungen waren gerechtfertigt: Gelbliches Gas stieg aus seinem verwitterten Krater in die Höhe. Feuerspeiende Berge starben niemals wirklich.
Als er noch hinblickte, öffnete sich an der Seite des Bergkegels ein Schlund, und eine monströse Dampfwolke quoll hervor. Sie verdichtete sich, wurde vollkommen undurchsichtig, ballte sich noch mehr zusammen, schwoll an und rollte den Abhang zum Fluß hinunter. Dahinter entstand eine Feuersbrunst: eine Spur von glühendem Gestein, die alles Leben auslöschte.
Die Wolke war riesig. Er konnte ihre Spitze auch dann noch sehen, als sie mehrere Kilometer stromaufwärts in das Flußtal eintauchte. Er hörte das Zischen des verdampfenden Wassers und sah im nächsten Augenblick, wie die Wolke enorm anwuchs, als sie vom Wasserdampf aufgeblasen wurde. Der Berg bebte erneut, voll aktiviert durch den Anfangsausbruch. Das Vorspiel war abgeschlossen. Aus dem Schlund in seiner Seite ergoß sich ein goldfarbener Brei und quoll den rauchenden Kanal hinunter, den die Wolke hinterlassen hatte. Wo der Vegetationsrand berührt wurde, brach
Feuer aus und schoß Qualm in die Höhe. Wie das Gas vernichtete die Lava auf ihrem Weg alles bis auf den Boden selbst.
Orn wußte auch darüber Bescheid. Vielleicht würde das geschmolzene Gestein erstarren und vor Erreichen der See haltmachen, aber vermutlich würde noch mehr kommen und über die bereits abgekühlten Massen hinwegfließen, bis die ganze Insel darunter begraben und alles Leben erloschen war.
Feuer tobte jetzt durch den Wald und lud die Luft mit seinem Gestank auf. Leichtere Beben setzten sich fort. Winzige Tiere flohen aus dem Wald und irrten am Strand umher - dem Untergang geweiht.
In dem Bewußtsein, daß er es sich nicht erlauben konnte, noch länger zu warten, watete Orn ins Wasser. Es bestand die Möglichkeit, daß die Raubtiere des Ozeans durch die Erschütterungen erschreckt oder verwirrt und vielleicht sogar betäubt worden waren, so daß er hinüberschwimmen konnte und sich dabei nur mit dem Wasser selbst auseinandersetzen mußte. Es war eine Chance, aber er machte sich keine unrealistischen Hoffnungen.
Aus der Entfernung schien das Wasser ganz ruhig zu sein, aber das war eine Illusion. Die Oberfläche hatte sich in widerwärtigen Schaum verwandelt. Verborgene Objekte, stießen gegen seine Füße und zerkratzten seine Beine. Die heftigen Strömungen unter dem Schaum erschwerten ihm die Balance. Er breitete seine Flügel aus, wobei er sie mit der schmutzigen Brühe besudelte, und hielt den Schnabel hoch erhoben. Aber umsonst. Bald wurde er von den Füßen geholt und in die trübe Flüssigkeit getaucht.
Er schwamm, wobei er seine Beine als Ballast und Ruder einsetzte, während er kläglich mit den Flügeln paddelte. Wasservögel hatten Füße mit Schwimmhäu- ten, aber seine eigenen waren mit Klauen versehen und vollkommen nutzlos für die Fortbewegung im Wasser. Alles war falsch für ihn. Seine Körperstruktur eignete sich nicht zum Schwimmen, so daß er den Kopf unten halten mußte, um nicht umzukippen. Das behinderte sein Sehvermögen. Seine Blinzhaut schützte die Augen vor dem salzigen Sprühwasser, aber das fortwährende Besprühtwerden beeinträchtigte seine Atemtätigkeit. Es war alles andere als vergnüglich für ihn.
Über ihm hatten sich Sturmwolken gebildet, und der Wind peitschte heftig die Wasseroberfläche. Orn ritt auf den wachsenden Wellenbergen, auf und nieder, auf und nieder, verzweifelt bemüht, das Gleichgewicht und die Orientierung nicht zu verlieren. Die Windstöße waren warm, nicht kühl, weil sie die Brechreiz verursachenden Dämpfe des Vulkans mit sich brachten.
Substanzen rieselten aus den Sturmwolken auf ihn herab, kein Regen, sondern Aschepartikel, die sich in seinen Federn festsetzten und sein Gefieder dunkel färbten. Nur sein ausgeprägter Richtungssinn half ihm, Kurs auf das unsichtbare Festland zu halten.
Dann stießen seine Füße gegen etwas Festes. Für einen Augenblick dachte er, daß er den Überweg schon geschafft hatte, aber sein Vektorblick sagte ihm, daß dies unmöglich war. Aber er war auch schon weit von der Insel entfernt. Seit der Überquerung durch seine Vorfahren mußte eine Sandbank entstanden sein, denn in seinen Erinnerungen gab es keine Hinweise auf Untiefen. Voll ausgewachsen waren die früheren Überquerer bessere Schwimmer gewesen und hatten kompetente Übersichten von der lokalen Geographie erstellt. Es gab ein klares Bild von tiefem Wasser an dieser Stelle. Die Konturen des Lands und der Insel hatten sich verändert und die Bilder verwischt, aber die Tiefe des Wassers war ein stabiler Faktor.
Er stand, und der Ozean um ihn herum wich zurück, während die vom Wind mitgeschleppten Fragmente nach unten rieselten. Eine Landbrücke stieg aus den Wellen empor, überzogen von einem Belag aus Seetang.
Nein, dies war keine Sandbank, obwohl es hier nicht so tief war wie einstmals. Statt dessen zog sich das Wasser zurück und legte den Grund des Ozeans frei. Er konnte zur anderen Seite hinüberwandern, aber er begriff, daß seine Überlebenschancen noch weiter abgesunken waren. Zu den Erdbeben und Vulkanen war eine dritte Drohung gekommen.
Er stand auf einem uralten Korallenriff, dessen Skelette jetzt größtenteils zerbrochen waren. Große Schwämme wuchsen aus den Spalten hervor, Quallen lagen hilflos ausgestreckt da. Die meisten echten Fische waren mit dem Wasser geflohen, aber einige wenige waren in muschelverkrusteten Höhlen gefangen. Krebse, deren Zangen plötzlich zu toten Gewichten geworden waren, krabbelten verzweifelt hin und her, und ein Seestern, der sich um eine Muschel geschlungen hatte, fand sich jetzt als Opfer der Umstände wieder.
Dies war eine Welt, mit der Orn nicht sehr vertraut war. Und trotz der Gefahr - oder vielleicht weil er die Hoffnung, weiterleben zu können, aufgegeben hatte, als er begriff, was das Zurückweichen der See bedeutete - nahm er alles aufmerksam in sich auf. Es gab viele Meerespflanzen, die er selten gekostet hatte, nicht einmal in der Erinnerung. So viele exotische Lebensformen! Viele hatten sich kaum verändert, seit seine Vorfahren das Wasser verlassen hatten, andere hingegen waren ziemlich neu. Er wollte so viel wie möglich lernen, bevor er die Möglichkeit dazu für immer verlor.
Während er dies alles beobachtete, hatte er seinen Weg fortgesetzt und war dem Ufer näher gekommen.
Trotz der Sinnlosigkeit begann er nun, seinen Reflexen nachzugeben. Hinter ihm kam das, womit er fest gerechnet hatte: eine gewaltige Wasserwoge, die sich zehnmal schneller fortbewegte, als seine höchste Laufgeschwindigkeit betrug. Um seine Füße herum stieg der Wasserspiegel wieder gemächlich an. Aber die Hauptwelle war eine ganz andere Sache.
Die Woge würde ihn zerschmettern. Es gab keinen Weg, sich rechtzeitig aus ihrer Reichweite zu entfernen. Es hatte nie eine gegeben, seit das Wasser zurückgegangen war. Aber der blinde Überlebensinstinkt jagte bei diesem Anblick durch seinen Körper, und er mußte auf diesen eingehen. Er schlug mit den Flügeln und streckte den Hals nach vorne. Alle Kraft in den Lauf legend, rannte er, ohne auf seine Füße Rücksicht zu nehmen, auf den gezackten Korallen entlang. Als die gigantische Woge über das flache Inselplateau hinwegging, hörte er sie. Höher und höher ragte sie auf. Sie hatte die Vorwärtsbewegung gegen den Höhengewinn ausgetauscht, schloß die Lücke aber weiterhin rapide.
Die Verlangsamung der Geschwindigkeit beim Gewinnen der Höhe war in seiner Erinnerung nicht klar gewesen. Er hatte noch mehr Zeit als vermutet, aber trotzdem nicht genug. Er rannte weiter.
Plötzlich war der Strand des Festlandes da, und er stolperte darüber hinweg. Er stürzte sich in das Unterholz, übersprang das, was er bewältigen konnte, zwängte sich durch den Rest hindurch, ohne darauf zu achten, daß bei der Prozedur sein Gefieder arg mitgenommen wurde.
Es wurde dunkel. Der Schatten der Welle umfing ihn. Der Wind war plötzlich eisig und bewegte sich dem Wasser entgegen.
Immer noch rannte er, über Felsen, um Bäume herum, weg vom Strand. Er hatte erwartet, daß die aufgetürmte Wasserwand viel früher auf ihn stürzen würde, um alles zu beenden, aber das Verderben hing in der Luft, hing in der Luft.
Und fiel.
Der Schlag kam so abrupt, daß er sich selber erst bewußt wurde, als er hochgerissen und vorwärtsgeschleudert wurde, vollkommen vom Wasser gefangen und hilflos. Es war so, als würde er in einer reißenden Meeresströmung ertrinken, aber er wurde herumgewirbelt und sah eine Landschaft am Himmel, die zur Seite wegkippte.
Dann sank er durch immer nachgiebiger werdenden Schaum, den Halt verlierend, aber nicht wirklich fallend. Er schlug mit den Flügeln und fühlte, wie der Schaum dagegenklatschte. Sein Hinterteil landete hart, und er hielt sich mit dem Schnabel an Blätterwerk fest. Er fürchtete, auf die See hinausgetragen zu werden, obwohl die Alternative dazu war, auf den Grund geschmettert und zerquetscht zu werden.
Aber er war bereits gelandet und bewegte sich nicht weiter vorwärts. Irgendwie hatte er die Druckwelle überlebt, wenn auch ohne eigenes Dazutun. Das Wasser wich weiter zurück und beließ ihn auf einer grünen Insel. Er war benommen, aber unversehrt. und auf dem Festland. Er blickte sich um.
Er hockte, das Sechsfache seiner Körpergröße über dem Boden, auf dem kräftigen oberen Geäst einer Tanne, deren Spitze abgebrochen war.