V Orn
Es war eine fremde Welt, die er durchstreifte. Die vertrauten Palmen und Nadelbäume waren selten. Ihren Platz harten knospende und blühende, flachblättrige Bäume und Büsche eingenommen. Er kannte diese neueren Pflanzen, aber sie gediehen hier in unvergleichlicher Fülle und dominierten die Landschaft, statt gelegentliche Lücken auszufüllen, und das war für ihn schwer zu akzeptieren. Seine Reflexe waren darauf nicht eingestellt, seine Erwartungen wurden fortwährend getäuscht, und das regte ihn auf. Die mächtigen Tannen bildeten noch immer dichte Wälder, aber diese Wälder waren kleiner, als sie früher gewesen waren. Farne waren noch immer da, wurden jedoch in ihrem Wachstum behindert. Wenn sich ihre Form von der aus seinen zwanzig Millionen Jahre alten Erinnerungen gewohnten kaum unterschied, dann war das nur ein schwacher Trost.
Orn stellte keine Spekulationen über die Bedeutung dieser Veränderungen an. Ihn interessierte das, was gewesen war und was jetzt existierte. Jedes Objekt, das er sah, erzählte seine ureigenste Geschichte aus der Sicht von zahllosen, aufmerksam beobachtenden Generationen seiner Vorfahren. Veränderung war tatsächlich unbequem für ihn, aber sein Status als Waise und der Druck unabwendbarer Ereignisse hatten ihn gezwungen, sich bereitwilliger anzupassen als seine Ahnen. Vielleicht hatte die Isolation sein Überleben gewährleistet, denn wenn er in üblicher Weise von treusorgenden Eltern trainiert worden wäre, hätte er möglicherweise nicht die Initiative ergriffen, von der Insel zu fliehen, als dies erforderlich wurde.
Er war vertraut mit dem Festland, wie es vor vielen Millionen Jahren existiert hatte, und hungerte jetzt nach frischen Informationen. Normalerweise hätten diese leichte Veränderungen der Geographie, der Flora und der Fauna angezeigt, nicht jedoch diesen katastrophalen Wandel auf allen drei Gebieten, den er nun tatsächlich feststellen mußte. Diese blühenden Pflanzen - niemals zuvor war irgend etwas so explosionsartig in den Vordergrund gesprungen.
Auch physisch war Orn hungrig. Er war nicht spezialisiert, sondern ein Allesfresser. Blätter, Früchte, Säuge- tiere, Gliederfüßer, gelegentlich ein paar Schluck Wasser, kleine Steine, um die Verdauung anzuregen - alles, was Nahrungswert besaß, konnte seine Mahlzeit sein, vorausgesetzt, es war nicht giftig. Aber es mangelte ihm an Vorstellungskraft, gezielt nach spezieller Nahrung zu suchen. Er aß alles, was sich gerade anbot.
Er kratzte die vertrockneten, verrotteten Blätter unter seinen Füßen weg. Seine beiden Vorderzehen hatten lange, scharfe Krallen, während die Hinterzehen, die den größten Teil seines Gewichts trugen, stumpf und kräftig ausgebildet waren und mehr Hufen als Krallen ähnelten.
Ja, die kleinen Gliederfüßer waren da, genau wie auf der Insel. Das Land hatte sich verändert, die Erde jedoch nicht. Einige fliegende Vögel ernährten sich ausschließlich von den „schmackhaften Insekten, und das konnte er auch, wenn er nur genug finden würde. Aber sie verschwanden bereits, während er sie noch ausgrub. Für seine Reisen brauchte er gehaltvollere Nahrung. Und er mußte reisen, denn er wußte, daß das Stocken der vulkanischen Tätigkeit nur vorübergehend war.
Orns Schnabel war nicht dazu geschaffen, die schnell hin und her huschenden Kreaturen zu fangen, aber er scharrte abermals und ließ seine klebrige Zunge hervorschnellen, um einige aufzuspießen, bevor sie Deckung fanden. Sie waren köstlich, als sie in seinen Kröpf wanderten, aber ein so spärliches Mahl machte seinen Hunger nur noch größer.
Er richtete sich auf und hielt Ausschau nach Beute, die ihn für viele Stunden sättigen konnte. Die Jagd war schwierig in diesem unvertrauten Territorium. Er lauschte.
Hoch über ihm ertönte der Schrei eines seiner primitiven Vettern, eines Flugvogels. Orn blickte nach oben und sah ihn auf der Suche nach fliegenden Insekten über die Bäume hinwegsegeln. Versuchsweise schlug er mit den Flügeln und wünschte sich für einen Augenblick, daß er dies auch könnte. Viele Hunderte von Arten lebten jetzt in der Luft, mehr als jemals zuvor. Seiner eigenen Art war das jedoch schon so lange nicht mehr möglich gewesen, daß er nur noch ganz verschwommene Erinnerungen an das Fliegen hatte. Seine Flügel dienten jetzt nur noch als Schmuck und zur Verteidigung. Das Gewicht seines großen Kopfes mit der Bürde der Erinnerungen hinderte ihn sogar daran, hoch zu springen, geschweige denn zu fliegen.
Ein anderer, sanfterer Laut drang zu ihm herüber. Es war das Rieseln von Wasser über nackten Stein. Ein Strom!
Orn fand ihn sofort. Er stand nahe am Ufer und betrachtete die schmalen Kanäle, als die klare Flüssigkeit zwischen den Felsen hindurchfloß, tauchte dann seinen Schnabel hinein und trank. Im Gegensatz zu seinen Vettern war er in der Lage, das Wasser einzusaugen, ohne zum Schlucken den Kopf heben zu müssen. Aber er brauchte nicht die großen Mengen, die durch die kleinen Körper der Säuger rannen. Sie überlebten, indem sie ausreichend Flüssigkeit speicherten, die trotz reichlicher Urinabgabe für einen vertretbaren Zeitraum reichte. Er überlebte, weil er leistungsfähig war. Das war einer der Gründe, aus denen seine Art der ihren überlegen war, abgesehen vom Kriterium des Gedächtnisses.
Kleine Fische huschten vorbei und erinnerten ihn flüchtig an das Schwimmstadium seiner Urahnen. Der Gedanke, Kreaturen wie jene zu verzehren, von denen er abstammte, störte ihn nicht. Tatsächlich gefiel ihm der Gedanke sogar. Auf der Suche nach einem Teich mit größeren Fischen, die die Mühe lohnten, ging er stromaufwärts.
Ganz in der Nähe bewegte sich etwas. Orn drehte den Hals, um ein Auge darauf richten zu können, und erspähte den entschwindenden Schwanz einer gutkali- brigen Schlange. Diese Reptilienart hatte in jüngster Zeit die Beine abgelegt und sich in kriechende Kreaturen verwandelt. Auf der Insel hatte er schon einige wenige verzehrt, aber diese hier war fetter und länger. Er sprang auf die Schlange, nagelte den Kopf mit einem Fuß fest und hackte mit dem Schnabel in ihren Hals.
Dir Fleisch war kühl, saftig und köstlich. Er schlang es herunter und stillte seinen Hunger. Es gab Berge, wo er sich an Sümpfe erinnerte, und die Drainage der Landschaft hatte sich verändert. Die Nächte im Binnenland waren kühl, die Tage heiß. In den Tagen, in denen er sich von den trügerischen Vulkanen entfernte, war Orn endlich in der Lage, seine Erwartungen abzulegen und das Vorgefundene zu akzeptieren. Seine innere Unruhe legte sich.
Überall waren Vögel, nicht intelligent, aber sonst in jeder Beziehung fortgeschrittener als in seinen Erinnerungen. Sie kreuzten geschickt durch die Lüfte und schwammen in den kleinen, kühlen Teichen. Die Familien der Gliederfüßer waren auf phantastische Art und Weise allgegenwärtig. Und die kleinen, warmen, haarigen, saftigen Säuger waren aus ihren Höhlen und Verstecken hervorgekommen und kühn ins Freie getreten. Sie hatten Wälder und Lichtungen überrannt.
Orn fand heraus, daß manche Säuger leichte Beute waren. Die größten bedeuteten keine Gefahr für ihn, und die meisten waren so klein, daß er sie mit ein paar Bissen herunterschlucken konnte und dabei nur einige wenige heiße Tropfen ihrer Substanz verschwenden mußte. Es war nicht so, daß sie keine Vorsicht walten ließen, aber die größeren schienen keinen Ärger von Seiten eines Vogels zu erwarten. Dies gestattete es ihm, ziemlich nahe heranzukommen, bevor sie beunruhigt waren, und gewöhnlich verschaffte ihm ein schneller, genauer Krallenschlag eine angenehme Mahlzeit. Die Säuger lernten jedoch schnell, und er stellte fest, daß sie vor ihm viel mehr auf der Hut waren, nachdem er ein oder zwei Exemplare von einer bestimmten Gruppe erwischt hatte. Aber da er weiterwanderte, spielte das kaum eine Rolle. Nie zuvor hatte er besser gegessen.
Aber noch immer empfand er ein vages Unbehagen. Irgend etwas fehlte. Er konnte jedoch bis zu dem Zeitpunkt, an dem er es wirklich sah, nicht sagen, um was es sich handelte. Er wußte, daß das Leben hier für ihn zu einfach war. Es sollte mehr Gefahr geben. Aber noch einmal: er mußte der Gefahr erst ausgesetzt sein, ehe er sie erkannte. Seine Erinnerungen reichten weit zurück, waren jedoch selektiv.
Nach und nach überwand er seine anfänglichen Schwierigkeiten, die neuen Tierformen als gegeben hinzunehmen. Wenn seine Vorfahren die Evolution dieser Kreaturen für tausendmal tausend Generationen beobachtet hätten, wäre das Bild sehr klar gewesen. Eine Million aufeinanderfolgende Leben, jedes Leben eine einzelne Momentaufnahme: Das Ganze ergab ein vollständiges Bild der Kreatur. Aber dieser eine Lichtblitz war zu kurz für ihn, um zur richtigen Assimilation zu kommen, auch wenn er in der Gegenwart aufgetreten war und aus vielen Stunden und Tagen bestand. Seine Vorfahren waren in jüngster Zeit jenseits der aufragenden Berge gefangen gewesen und hatten zu wenige Vorstöße über die sich verändernden Pässe und den wandernden Kontinent gemacht, um die erforderlichen Bilder von den sich schnell entwickelnden Tieren formen zu können.
Aber einige wenige Arten waren klar. Die vorsichtigen Beuteltiere waren kaum verändert. Mit den Pflanzenfressern sah es schon schwieriger aus, denn sie waren jetzt größer und vielfältiger, hatten einen Sprung im Muster der Erinnerungen gemacht. Einige hatte er schon auf der Insel kennengelernt, und das half ihm, sie einzuordnen. Aber die Insektenfresser hatten sich gewaltig aufgefächert. Sie ernährten sich von den zahllosen Insekten, die ihrerseits von den blühenden Pflanzen unterhalten wurden. Nun gab es viele bedeutende neue Arten, von denen nur noch wenige ihre ursprüngliche Natur behalten hatten, und diese Kreaturen mit ihrer kurzen Vergangenheit waren größtenteils unsichtbar für ihn. Dies war gefährlich, wie er sich beinahe zu spät bewußt wurde.
Das Wesen ging auf ihn los, bevor er die Bedrohung erfaßte, genauso wie er auf die sorglosen kleinen Beutetiere losgegangen war. Dies war ein Säuger, aber fast so massig wie er selbst und weitaus wilder, als es seinen Erwartungen entsprach. Vage ergründete er seinen Stammbaum: Eine Art der winzigen insektenfressenden Baumbewohner hatte ihren Spielraum erweitert, indem sie sich auch von Nüssen und Aas ernährte, furchtsam zitternd, weil der Tritt der riesigen Reptilien den Boden erschütterte. Irgendwie waren diese unvoreingenommenen Zwerge von den Bäumen hinabgestiegen, um das Territorium der Reptilien zu übernehmen. Und nun wurden sie selbst groß und mutig. Für einen Augenblick schien Orn zu erfassen, was ihn am meisten an diesem Land beunruhigt hatte, aber ihm blieb keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren. Der Zwang, die gegenwärtige Kreatur einzuordnen, kam zu schnell. In seinem Bewußtsein gab es kein vollständiges Bild davon, und so wußte er nicht, wie er damit umgehen sollte. Schnelles Denken war nicht seine Stärke. Er war von den Reflexen abhängig, die durch die Erfahrungen von Jahrmillionen geprägt worden waren. Mit mehr Zeit konnte er sich auf diese Situation einstellen, aber das Tier griff jetzt an.
Die winzigen Klauen aus Orns Erinnerung waren zu großen Krallen geworden, eines Vogels würdig. Seine Zähne, obgleich klein, waren kräftig und scharf. Es bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Schlange, und doch stützte es seinen Körper auf vier muskulöse Beine und war zu alarmierender Schnelligkeit fähig. Ein Killersäuger.
Er konterte, als es zuschlug. Er breitete die Flügel aus, kreischte, sprang zur Seite und stieß mit dem Schnabel nach vorne. Wegen der Merkwürdigkeit der Kreatur waren seine Maßnahmen unsicher. Wäre der Gegner ein Reptil ähnlicher Größe gewesen, hätte er auf ein Auge gezielt. Immerhin veranlaßte seine Aktion das Tier zum Abdrehen, und während es langsamer wurde, sich wieder umwandte und erneut kam, hatte er eine kurze Ruhepause.
Betrachte es als eine neue Kreatur, entschied Orn. Einst war sie ein Insektenfresser gewesen, jetzt war sie ein Fleischfresser, ein Karnivore. Die Beine des Tiers waren elastisch, die Schnauze stumpf, und es gebrauchte sowohl die Füße als auch die Zähne zum Kämpfen. Es war so aufmerksam und schnell wie Orn selbst, nicht erstaunlich bei einem warmblütigen Säuger, aber erschreckend, wenn man seine groteske Größe betrachtete.
Wenn er es nur sehen könnte!
Aber seine überlieferten Erinnerungsbilder stimmten ganz einfach nicht mit der Gegenwart überein. Sie waren so anders, daß sie jetzt keine Bedeutung hatten. Er mußte die Natur des Karnivoren weitgehend abschät- zen, und solche Extrapolationen lagen ihm nicht besonders gut. Wäre ihm der Säuger vertraut gewesen, sollte er ihn im Kampf besiegt haben können. Schließlich war er Orn. Aber so wie die Lage war, würde er dessen Mahlzeit werden.
Das Tier sprang.
Mit uncharakteristischer Inspiration stellte Orn es sich als ein laufendes Reptil gleicher Masse vor und reagierte entsprechend. Er riß einen Fuß hoch, breitete zur Balance die Flügel aus und schlug nach der empfindlichen Nase.
Der Schlag ging fehl, weil der Karnivore schneller als ein Reptil war und eine kürzere Schnauze hatte. Aber seine Kralle traf das Tier im Nacken und riß eine blutige Furche in seine behaarte Haut, was bei einem Reptil dessen Schuppen verhindert hätten. Er ließ einen weiteren Schnabelhieb folgen und traf das spitze, lappige Ohr.
Der Karnivore heulte auf und schnappte nach der Seite, aber Orn war schon aus seiner Reichweite. Wieder riß er den Fuß hoch, und diesmal erwischte er mit seinem Schlag das muskulöse Kinn. Fleisch wurde aus der Wange gerissen, als Orn die Kralle durchzog. Blut und heißer Speichel spritzten hervor. Erneut schnappte es seitlich zu, dort wo sich die Verletzung befand. Und weil dies genau das war, was auch ein Reptil getan hätte, war Orn darauf vorbereitet. Sein Schnabel stieß in den Augapfel hinein, durchbohrte das Gehirn und tötete das Tier abrupt.
Abermals schlug Orn zu, weil er auf die größere Widerstandsfähigkeit eines Reptils reagierte. Er hatte den Körper aufgerissen, bevor ihm klar wurde, daß der Gegner nicht mehr kämpfte.
Er trat zurück und betrachtete den Karnivoren in dem Bewußtsein, daß er Glück gehabt hatte zu überleben. Hätte er sich nicht auf ein Erinnerungsbild besonnen, das ihn befähigte, irgend etwas wirkungsvoll zu bekämpfen, würde der Karnivore jetzt auf seinen Leichnam hinunterblicken.
Aber er verschwendete keine überflüssige Zeit mit Nachdenken. Er setzte die Arbeit des Sezierens fort und studierte jedes weiche Organ, bevor er es verzehrte. Als sein Kröpf gefüllt war, hatte er ein viel besseres Wissen über diesen Säuger. Sollte er mit einem anderen kämpfen müssen, würde er besser vorbereitet sein. Aber er würde nicht freiwillig in einen solchen Kampf hineingehen - nicht gegen dieses geschmeidige, mit Krallen und Zähnen versehene Monster! Es war besser, Karnivoren und alle größeren Säuger zu meiden. Aber sie gaben eine vorzügliche Mahlzeit ab.