VII Orn
Die Zeit war lang, aber das bedeutete nichts, denn er wanderte nur und wuchs dabei. Er überquerte Binnenberge - solche, die sich auf Grund von Verschiebungen und Krümmungen des Bodens bildeten und nicht aus Asche und Lava - und Ebenen und Sümpfe, in östlicher Richtung. Obgleich er an jedem Tag bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit lief und nur halt machte, um Nahrung aufzunehmen, ging der Sommer zu Ende, bevor er den neuen Ozean erreichte, der durch das Auseinanderklaffen der Landfragmente entstanden war. Er hatte seine Karte verifiziert: Dieses Land hatte sich weit von seinem Ursprungsort entfernt und bewegte sich noch immer.
Stärker werdende Kälte trieb ihn nach Süden. Viele Dinge hatten sich geändert, und ein Großteil der Landschaft unterschied sich wesentlich von der aus seinen Erinnerungen, aber das war der Lauf der Welt. Sie änderte sich fortwährend, genauso, wie sich die Wellen auf dem Meer änderten, und mußte periodisch für die Nachwelt neu kartographiert werden.
Die Säuger waren überall. Kleine Arten huschten aufgeregt durch die gelegentlichen Grasgebiete und gruben nach Larven und Knollen. Andere starrten ihn mit großen Augen von Bäumen aus an. Im allgemeinen waren sie zerbrechlich und scheu, aber zahlreich. Er verzehrte sie regelmäßig. Dann und wann erlegte er ein Dino, gehörnt, aber plump und nicht sehr intelligent. Diese Kreaturen waren meistens mit dem Äsen beschäftigt und achteten nicht auf Gefahren.
Es gab ebenfalls eine Vielzahl von Schlangen, Eidechsen und kleinen Amphibien, die sich von den unzähligen Gliederfüßern ernährten. Auch Orn tat dies, indem er Ameisenhügel aufriß und die hin und her jagenden Brösel mit seiner klebrigen Zunge aufpickte. Nie in seiner Erinnerung hatte es so regelmäßige Mahlzeiten gegeben!
Vögel überschwemmten die Bäume und nutzten ebenfalls das Insektenangebot. Sie hatten sich in so viele Arten aufgespalten wie nie und waren jetzt hervorragende Flieger. Einige Gattungen schwammen auf den Teichen und Flüssen, andere liefen über den Boden wie er, aber keine von ihnen war näher mit ihm verwandt. Seine Gattung hatte schon viel länger und in gefährlicheren Zeiten an Land gelebt. Deshalb war er größer und schneller als diese Neulinge. Viele der anderen wären niemals in der Lage gewesen, den Angriff eines heranstürmenden Reptils zu überleben.
Der Winter versprach viel strenger zu werden als der vorangegangene auf der Insel. Orn ging weiter nach Süden und machte auch gute Fortschritte. Aber die Kälte verfolgte ihn. Es gab keinen Ort, an dem er sich auf Dauer niederlassen konnte. Er konnte dem Frost für ganz kurze Zeit widerstehen, aber das schwächte ihn sehr stark. Sein Gefieder war nicht dicht genug, um ihn gegen eine längere Frostbelagerung zu schützen, obwohl zahlreiche kleinere Vögel den Winter recht gut überstanden. Langsam wurde er des unentwegten Wanderns müde. Er war jetzt fast voll ausgewachsen und fing an, auf den sich entwickelnden Drang nach anderen Dinge zu reagieren.
Er erkannte den Nistimpuls in sich nicht, denn dazu hätte es des Anblicks eines geschlechtsreifen weiblichen Exemplars seiner Spezies bedurft. Aber er zog weiter mit einem stetig anwachsenden, undefinierbaren Hunger, der ihn vorwärts trieb, während er gleichzeitig bleiben wollte, wo er gerade war. Es war nicht nur die Jahreszeit, die ihn beunruhigte.
Schließlich wurde sein Marsch nach Süden .durch Berge blockiert. Sie waren vulkanisch und mußten deshalb mit Respekt und Furcht betrachtet werden. Er trottete nach Westen und suchte nach einem Weg um sie herum, wurde aber einen Tag später durch einen großen Ozean gestoppt. Er hatte den Kontinent wieder durchquert und die Küstenlinie dort geschnitten, wo sich die Landmasse verengte. Er mußte entweder aufgeben oder weiter in diese Region vordringen. Die Nächte im Binnenland waren viel zu kalt für sein Wohlbefinden geworden.
Die Bergkette setzte sich im Meer fort, wobei die einzelnen Gipfel zu Inseln und schließlich zu Riffen wurden. Diese Inseln würden warm sein, das wußte er. Aber Orn hatte wenig Neigung, sein Domizil abermals ah einer so unsicheren Örtlichkeit aufzuschlagen. Einen schlafenden Vulkan oder eine Insel konnte er ertragen, aber nicht die Kombination von beidem. Die Falle war zu tückisch.
So blieb also nur der Landweg. Er hatte keine Erinnerung an das Territorium, das vor ihm lag. Die Gestalt dieser Landschaft hatte sich in den letzten paar Millionen Jahren zu rasch und zu drastisch verändert. Der Vulkanwall war mit Sicherheit neu, und wenn irgendein unternehmungslustiger Vorfahre ihn überwunden hatte, dann hatte dieser Vogel nicht zu denen gehört, deren Linie er entstammte. Manchmal sprach das woran Orn sich nicht erinnern konnte, eine genauso deutliche Sprache wie umgekehrt.
Einige Berge von der Küste entfernt fand er einen vielversprechenden Weg. Es war eine Art Paß - ein Spalt zwischen zwei niedrigeren Bergen, überwuchert mit Farnkraut und einer zähen neuen Grassorte. Ein bißchen Wasser rieselte vorbei, aber nicht genug. Er riskierte hier Durst. Aber besser das als ein anderer Fluß - der flüssigen Gesteins.
Die Berge waren tot. Durch das Beobachten der Überbleibsel uralter Lavafelder und Aschenhügel konnte er im Vorbeigehen ihre Geschichte rekonstruieren. Die Seiten des Einschnitts waren verwittert und mit Gesträuch überwuchert. Er jagte einen Abhang hinauf und streckte einen jungen, langsamfüßigen Säuger nieder, der sich in diese unwirtliche Region verirrt hatte. Er zerschnitt die Halsschlagader mit einem einzigen Anspannen seiner Schnabelmuskeln und verzehrte schnell den .noch warmen Körper. Es war weitaus mehr Fleisch vorhanden, als er auf einmal verzehren konnte, aber er mußte die Vergeudung diesmal hinnehmen, weil er seine Kräfte für den bevorstehenden Aufstieg zu schonen hatte. Eine anstrengende, mühselige Suche nach kleinerem Beutegetier hätte ihn zu diesem Zeitpunkt zu sehr geschwächt, obwohl er normalerweise nicht mehr tötete, als sein Hunger erforderte, wie verwundbar die Beute auch sein mochte.
Die Luft war kalt, als er aß, und die Wärme des Fleisches verflüchtigte sich schnell. Fast wünschte er sich ein bißchen mehr Aktivität in den alten Feuertrichtern. Fast.
Am Morgen hatte er die Spalte hinter sich gelassen und überquerte nun die abschüssige Seite des kleineren Berges. Er versteifte seine Federn gegen den eisigen Wind, der in dieser Höhe wehte. Dann hatte er den Paß überwunden. Auf der anderen Seite war es wärmer - zu warm: Er roch den Rauch eines aktiven Vulkans.
Es gab keine Möglichkeit, ihm zu entgehen. Die Kälte dieser Höhen zwang ihn, die niedrigsten Täler aufzusuchen, und aus der großen Mulde vor ihm erhob sich der lebendige Krater. Feuer umtanzten seinen Gipfel und wurden von den darüber hängenden Wolken reflektiert. Als Orn näherkam, zitterte der Boden unheilvoll.
Er brauchte einen vollen Tag für seinen Grenzbereich und beobachtete jede seiner bösartigen Gesten. Er war kein Lavaberg, sondern gehörte zur viel tödlicheren Gas- und Asche-Kategorie. In seiner Nähe wuchsen keine Pflanzen; dennoch fand er zwischen den umgestürzten Felsen seines Perimeters Gliederfüßer und einen abgestandenen Teich, so daß er Hunger und Durst zum Teil stillen konnte.
Auf dem südlichen Abhang erwischte ihn der Vulkan. Monströse Gase wirbelten aus seinem grausamen Schlund und bildeten eine knospende Wolke, die aus sich selbst heraus leuchtete. Als es Nacht wurde, trieb diese Wolke nach Süden - hinter Orn her. Als sie näherkam, sich ganz langsam bewegend, wie es schien, ergoß sich Regen aus ihr: ein Strom von weißglühenden
Tropfen, die sich massig auf dem Boden sammelten.
Orn flüchtete davor in dem Bewußtsein, daß die kleinste Berührung dieses wilden Sturms Vernichtung bedeutete. Er entkam, aber der Rückzug war ihm abgeschnitten. Er konnte nicht ahnen, was vor ihm lag, aber er wußte, daß hinter ihm der Tod lag.
Erschöpft ließ er sich schließlich auf einem schroffen Felsbrocken nieder und schlief unruhig inmitten der dahintreibenden Gase des Vulkans. In der gesamten düsteren Gegend lebte nichts außer ihm.
Am nächsten Tag erreichte er eine Quelle mit kochendem Wasser. Wo es in ein Bassin überlief und sich ausreichend abkühlte, wusch er sich den Ruß aus den Federn und fühlte sich wieder sauber. Die Gliederfüßer kehrten zurück. Er scharrte nach Larven und hatte eine kleine Mahlzeit.
Danach gab es mehr ebenen Boden, und er kam gut voran, obwohl der außergewöhnlich rauhe Untergrund seine Füße aufscheuerte. Die Felsen waren warm, was nicht allein von der Sonne kam, und es gab viele heiße Teiche. Er wusch sich vorsichtig und trank das intensiv riechende Wasser mit einigen Bedenken, fand aber keine Fische. Er ging dem kochenden Schlamm, den dampfenden Erdspalten und vor allem den aktiven Kratern aus dem Weg.
Es war eine schreckliche Landschaft, schroff aus der Feme, kahl und tot aus der Nähe. Er sehnte sich nach ihrem Ende und fürchtete, daß es kein Ende gab. Ohne seine Erinnerungen, die ihn leiten konnten, fühlte er sich verwundbar.
Allmählich wurde das Land zur Wüste, und obwohl Orn sehr gut voran kam, blieb er für zwei Tage ohne Nahrung. Auf Grund seines schnell arbeitenden Metabolismus würde ein dritter Tag das Ende für ihn bedeuten. Nicht auf einmal, aber in einer Weise, die ihn so entkräften würde, daß ein mögliches Entkommen verhindert wurde. Aber ihm fehlten auch die Reserven, um zurückzugehen. Er schleppte sich weiter. Es gab keine andere Möglichkeit.
Obgleich der Abend Erlösung von der Hitze brachte, war dies nur ein schwacher Trost. Die Kälte war schneidend, und er mußte sich vor ihr schützen, indem er sich im Schlafsitz halb in den Staub eingrub. Jetzt hatte er keine Möglichkeiten mehr, seine Federn richtig zu säubern oder den schrecklichen Durst zu vertreiben. So wie ihm das Land die Feuchtigkeit aus dem Körper saugte, fühlte er sich fast wie ein Säuger. Aber kein Säuger hätte so weit wandern können.
Am zweiten Morgen blieb er eine Zeitlang steif liegen und wartete darauf, daß die Sonne ein bißchen Energie in seinem Körper freisetzte. Unter den zerzausten und schlecht isolierenden Federn war sein Fleisch ausgetrocknet, aber er wußte, daß es am Tag noch mehr austrocknen würde. War es bequemer, sich zur letzten Anstrengung aufzuraffen oder einfach liegenzubleiben und dem Tod friedlich entgegenzublicken? Über der hell werdenden Wüste sah er, wie das Sonnenlicht die aufsteigenden Nebel berührte und ihnen einen augenblicklichen Glanz verlieh, als die Strahlen gebrochen wurden. Dies war am ganzen Tag der einzige Moment, in dem die Öde Schönheit offenbarte, wenn auch nicht allzu viel.
Dann informierte ihn sein Gedächtnis darüber, was Nebel bedeuteten. Taumelnd kam Orn auf die Füße, schlug vor lauter Eifer mit den stummeligen Flügeln und taumelte vorwärts. Er war schwach, seine Füße waren wund, seine Muskeln schmerzten, und er bezweifelte, daß er eine harte Nuß mit dem Schnabel knacken konnte, aber er kam weiter.
Wo er den Nebel gesehen hatte, war eine Spalte im Boden. In dieser Vertiefung befand sich eine ähnliche Rille wie die, der er in dieses Ödland gefolgt war. Und am Boden dieser Einkerbung floß ein kleines Rinnsal Wasser.
Orn grub mit seinen abgebrochenen Krallen eine Höhlung in den Sand und bettete sein Kopf darin. Er lag da, und das Wasser tröpfelte auf seine Zunge.
Er blieb den ganzen Tag, und am Abend war er nicht mehr durstig. Er folgte dem Kanal, zu hungrig, um jetzt zu schlafen. Nach einem Vierteltagesmarsch tauchte die erste verkümmerte Vegetation auf. Er grub sie im Dunkeln aus und verschlang sie in der Hoffnung, daß sich nahrhafte Larven darin verbargen. Er hatte sich noch nicht genug erholt, um es am Geruch festzustellen. Dann entspannte er sich.
Der folgende Tag war besser. Die Spalte, zuerst nur so breit wie ein paar Flügelspannen, erweiterte sich zu einem gewundenen Canyon, dessen schattige Seiten von Kriechgewächsen bedeckt waren. Es war heiß, aber nicht annähernd so schlimm wie in der brennenden Wüste. Das spärliche Wasser war durch Zuflüsse aus anderen Rinnen verstärkt worden und hatte sich in einen platschenden Bach verwandelt. Orn wanderte langsam und gewann seine Kraft zurück.
Schließlich hatte sich genug Wasser gesammelt, um ein anständiges Waschen zu ermöglichen, und er badete mit Genuß. Jetzt konnte er wieder die Federn aufplustern und sich besser gegen die Kälte schützen.
Am zweiten Tag erkletterte er die Canyonwand, steckte seinen Kopf über den Rand und. sah einen rauchenden Berg. Er war also noch nicht aus dem Vulkangürtel heraus. Die Wüste und die Spalte waren nur ein Zwischenspiel gewesen.
Der Canyon weitete sich, und schließlich füllte das Wasser ihn ganz aus und wurde salzig. Er war wieder am Meer.
Aber es gab einen Unterschied. Er hatte den ersten größeren Berggürtel passiert und wärmeres Gebiet erreicht. Er konnte gegebenenfalls innerhalb des geschützten Canyons nahe am Wasser in einer Furche ein Winternest bauen und sich von Fischen ernähren.
Dann entdeckte er den unterirdischen Ruß.
Er trat aus der Canyonwand hervor, ein beachtlicher Tunnel, aus dem warmes Wasser floß. Er stemmte sich gegen die sanfte Strömung und betrat die Höhle. Licht fiel durch natürliche Öffnungen in der Decke, und er sah steinerne Säulen, die er als typisch für solche Orte erkannte. Seine Vorfahren hatten öfter in Höhlen gewohnt. Dies war besser, viel besser. Er konnte hier bequem überwintern und brauchte nur zur Jagd nach draußen zu gehen.
Es sei denn, andere Tiere - Räuber - hatten den gleichen Gedanken gehabt.
Orn schnüffelte in die sich langsam bewegende Luft hinein. Er entdeckte das Schlimmste, den scharfen Geruch eines großen Reptils.
Er suchte die Ursprungsquelle, jederzeit zu einem schnellen Rückzug bereit. Nicht alle Reptilien waren feindlich, und dieser Geruch lag an der Grenze.
Er fand es, halb vom Wasser überspült. Es war ein Para, fünfmal so lang wie Orn und um ein Vielfaches massiger. Seine vier Füße besaßen Häute zum effektiven Schwimmen, und sein Schwanz war lang und kraftvoll. Es gab keinen Panzer an seinem Körper. Es war mit einem löffelähnlichen Schnabel ausgerüstet, von dem Orn sich erinnerte, daß er zum Eintauchen in den weichen Schlamm von seichten Teichen benutzt wurde. Es besaß einen monströsen, knochigen Kamm, der so weit zurückreichte, daß die Länge seines Kopfes buchstäblich verdoppelt wurde. Durch dieses Organ lief der
Nasenkanal, und auch das heiße Blut des aktiven Tiers wurde hier hineingepumpt, um in der Tageshitze für Abkühlung zu sorgen. Zuviel Hitze war tödlich für Reptilien, und die großen Exemplare hatten Schwierigkeiten, diese Hitze zu verarbeiten. So gab dieses auf Verdampfungsbasis arbeitende Kühlsystem dem Para einen Vorteil gegenüber seinen Vettern. Weder Anstrengung noch mittägliches Sonnenlicht konnten dem Para ernstlich etwas anhaben.
Nichtsdestoweniger war das Para tot, und sein Fleisch verweste.
Dies war eine Kreatur der alten Art. Orn kannte solche Reptilien nur aus seinen Erinnerungen, mit Ausnahme der Krokodile, aber sie waren ihm viel vertrauter als die kleinen Säuger. Paras gehörten zu den Reptilien, die für einen großen Teil seiner Erinnerungen die Welt beherrscht hatten, aber bis zu diesem Augenblick völlig von ihr verschwunden gewesen zu sein schienen.
Irgend etwas hatte das Para getötet. Kein tierischer Gegner, denn abgesehen von Blessuren, die typisch waren für Zusammenstöße mit unbelebter Materie, und nach dem Tod eingetretenen Schäden gab es keine Verletzungen. Auch nicht Durst oder Hunger, denn es war schlank und befand sich in trinkbarem Wasser.
Wenn dieses hervorragend ausgerüstete Tier in der Höhle umgekommen war, die für es weitaus besser geschaffen war als für Orn, wie konnte Orn dann erwarten, darin zu überleben?
Es war besser, sich den Gefahren entgegenzustemmen, die er kannte, als sich dem düsteren und tödlichen Geheimnis dieses Ortes auszusetzen. Er würde seine Reise fortsetzen müssen.