XI Orn

 

Die Spur war nicht frisch. Nur die geschützte Örtlichkeit hatte sie bewahrt. Sie konnte schon in der vergangenen Reifeperiode entstanden sein, denn es war nur noch eine Andeutung von Geruch vorhanden. Aber es bestand kein Zweifel, denn seine Erinnerungen waren am allerstärksten bei so einer Identifikation: Ein weibliches Exemplar seiner Spezies hatte hier ihren Schlafsitz gehabt.

War sie in dem Tal geblieben? Lebte sie noch? Konnte er sie finden? Diese Fragen waren vage und peripher und trafen den Kern der Sache nicht. Sein Bewußtsein erfaßte die Tatsache, daß sie existierte, und seine Drüsen reagierten und bestimmten. Der Paarungstrieb hatte ihn in seiner Gewalt und ließ sich nicht länger unterdrücken.

Orn verbrachte die Nacht unter dem Wasserfall. Es war unbequem und ermüdend, noch dazu nach den vorangegangenen Anstrengungen, aber die Entdeckung der Spur einer seiner eigenen Art hinderte ihn daran, die Höhle zu verlassen. Er mußte hier anfangen und der Spur folgen, bis sie frisch wurde. Bequemlichkeit war unbedeutend. Wenn es ein anderes männliches Exemplar gab. Nein, es gab keins. Die Spur war die eines Vogels, der noch nicht gebrütet hatte. Dergleichen war eine Besonderheit seiner Linie.

Am Morgen erkundete er das benachbarte Terrain. Sie war hier gewesen. Es mußte Zeichen geben, die auf ihren Weg hindeuteten. Er würde sie entdecken, wie flüchtig sie auch sein mochten.

Es war nicht einfach, aber er war darauf programmiert. Er wäre gar nicht in der Lage gewesen, eine so alte Spur überhaupt wahrzunehmen, wenn sie von einer anderen Kreatur gestammt hätte. Aber seine angeregten Drüsen schärften die Sinne, und alle Erinnerungen richteten sich auf dieses eine Unterfangen. Sein Such- muster identifizierte flußabwärts eine weitere Spur, dann eine dritte, und er war auf seinem Weg. In zwei Tagen lokalisierte er frischere Spuren und einen Tag darauf den Schlafsitz, den sie für einige Zeit benutzt hatte. Er befand sich in der erhöht liegenden Aushöhlung eines verrottenden Flachblattbaums. Nase und Auge und Gedächtnis informierten ihn, daß sie gegangen war, als ein räuberisches Reptil die Region durchstreift hatte. Sie hatte ein paar Federn verloren, aber nicht ihr Leben.

Sie war in die Berge geflüchtet, vielleicht erst zu dem Zeitpunkt in jüngster Zeit, zu dem Orn auf der anderen Seite des Kontinents mit dem tobenden Meer zusammengetroffen war. Diese Reifeperiode sicherlich.

Jetzt wurde die Suche außerordentlich schwierig, denn sie war über bebende, erhitzte Felsen gerannt, um der Verfolgung zu entgehen. Aber Orn erweiterte sein Suchmuster und blieb hartnäckig, so wie er es(mußte, und nach einiger Zeit fand er die Spur dort wieder, wo sie ins Tal hinabgestiegen war.

Ihre Abdrücke und ihr Geruch vermischten sich mit denen anderer Tiere, so als ob sie sich unter eine Tri- cerherde gedrängt hatte. Wieder mußte er das Netz weiter spannen, und wieder blieb er erfolgreich, wie er es mußte. Tage alt jetzt nur noch, stimulierte ihre Spur ihn ungemein. Sie war allein und geschlechtsreif und nicht viel älter als er. Sie wollte einen Partner, hatte aber keinen gefunden. All dies las er aus ihrer Spur heraus, deren Signale er seit vielen Jahrtausenden kannte, und sein Begehren nach ihr wurde wild und wilder.

Aber er fand sie nicht.

Sie fand ihn.

Sie war auf seine eigene Spur gestoßen, während sie herumstreifte, und hatte sie augenblicklich erkannt. In weniger als einem Tag hatte sie zu ihm aufgeschlossen.

Orn blickte, sich ihrer Gegenwart plötzlich bewußt, von dem gerade geschlüpften Brach hoch, den er verzehrte. Über den freien Raum des verlassenen Tricer- weideplatzes starrten sie einander an. Sein Schnabel war beschmiert mit dem Blut des jungen Reptils, seine Nase umnebelt von den frischen Gerüchen des aufgerissenen Leichnams, und in diesem köstlichen und romantischen Augenblick sah er den Vogel, der sein Partner werden würde. Ornette: Um die Breite einer trockenen Schwanzfeder war sie kleiner als er. Ihr Schnabel war schlank, ein delikates Braun, das genau zu den Schuppen ihrer muskulösen Schenkel paßte. Ihre Augen waren groß und rund, halb überschattet von der grauen Blinzhaut. Ihre weißen Nackenfedern waren glatt und glänzend und gingen sanft in den grauen Brustteil über. Ihr Körpergefieder, heller an der Unterseite, war leicht aufgeplustert, denn sie hatte sich durch hohes Gesträuch bewegt. Ihre Flügel waren gepflegt und schön. Aufgrund der ungewöhnlichen, fast regressiven Länge ihrer Schwungfedern sahen sie größer aus, als sie tatsächlich waren. Selbst die Krallen ihrer Füße glänzten mit natürlichem Fett. Sie gab einen weiblichen Duft von sich, der den Mann gleichzeitig erregte und verrückt machte. Sie war wunderschön und ganz und gar begehrenswert.

Dann war sie weg, ihr wohlgeformtes Brustbein herumwerfend und vor ihm davonlaufend. Und er rannte mit aller Kraft hinter ihr her, die Mahlzeit vergessen. Sie verschwanden hohem Palmettengesträuch und ließ ihn hinter sich zurück. Aber dies war eine Jagd, die er mit Gewißheit erfolgreich abschließen würde, denn seine Sehnen waren kräftiger, seine männliche Ausdauer größer. Dies war so, wie es sein mußte und wie es während der gesamten Existenz der Spezies immer gewesen war.

Sie flüchtete in den Sumpf und drang in das Territorium des Struth ein, jenes hitzigen Reptils, das Orn so ähnlich war. Das mochte Ärger bedeuten, aber es gab nichts, was Orn dagegen tun konnte. Wenn er einen Bogen schlug, um ihr den Weg abzuschneiden, würde sich nur der Abstand vergrößern, denn im Augenblick war sie noch so geschwind wie er.

Sie jagte um eine gigantische Tanne herum und ließ grüne Zapfen fliegen. Dann hielt sie sich seitlich, bevor sie auf den Struth stieß. Sie wußte Bescheid! Zu seiner Erleichterung rannte sie nach Norden, obwohl dies ein Gebiet war, das er noch nicht erkundet hatte. Ihre Geschwindigkeit verringerte sich, als der Boden morastig wurde, aber so erging es auch ihm. Auf diese Weise würde es noch lange dauern, bis er sie einholte. Auch dies war so, wie es die Natur bestimmte. Eine ganze Zeit lang rannte sie nach Norden, wandte sich dann nach Westen, den Bergen entgegen. Bald begannen sie zu klettern und ließen das dunstige Tal unter sich zurück. Fliegende Vögel machten ihnen hastig den Weg frei, und grasende junge Reptilien huschten davon. Ein verwundeter erwachsener Tricer, der so weit gekommen war, um zu sterben, blickte überrascht auf. An immer blattreicher werdenden Bäumen liefen sie vorbei, in deren Zweigen Säuger herumturnten, und hinauf auf die Höhenlagen voller Gras, wo Insekten im Sonnenlicht umherschwirrten, aber Ornette verlangsamte ihren Lauf nicht und rannte weiter aufwärts, bis die Luft kühl wurde. Und weiter, bis der Schnee anfing. Aber Orn spürte die Kälte nicht. Langsam verkürzte er den Abstand zu ihr.

Schließlich wechselte sie den Kurs und rannte nach Norden, die weiße Grenze entlang, während sich die Sonne der Bergkrone entgegenneigte. Dann wieder abwärts ins Tal, hinein in das dichteste Grün, wobei sie die Flügel spreizte, um bei dem steilen Abstieg die Balance zu bewahren. Der Vorsprung wurde wieder größer, weil sie ihre größeren Federn einsetzte, aber in der Ebene, wo die Reptilien hausten, holte er wieder auf. Und wieder aufwärts, fast bis zum Schnee, und immer noch holte Orn auf, obwohl er noch nie so lange ohne Ruhepause gelaufen war.

Zum zweiten Mal kamen sie am nördlichen Scheitelpunkt des großen Tals herunter, jenseits des Sumpfs. Hier gab es eine höher liegende Ebene, zu trocken und zu kalt für die Bequemlichkeit der meisten Reptilien, wiewohl die kleinen Säuger reichlich vorhanden waren. Und hier wurde das Licht der Sonne, ganz abrupt, von der Bergkette abgeschnitten. Die Dämmerung war angebrochen.

Ornette machte halt, schwer atmend. Orn, kaum zwei Flügelspannen hinter ihr, hielt ebenfalls an. Die Jagd hatte aufzuhören, wenn die Sonne sank, um an Ort und Stelle fortgesetzt zu werden, wenn sie wieder aufging. Die Nacht diente der Nahrungsaufnahme und Ruhe und. Werbung. Tausende von Generationen vor ihnen hatten dies festgelegt, und die Regel durfte jetzt nicht gebrochen werden.

Unter ihnen entwickelte sich der Sumpf aus einem hier verhältnismäßig kleinen Nebenarm des Flusses, in dem es Fische gab und Säuger in benachbarten Erdhöhlen und Insekten, die herausgekratzt werden konnten. Sie jagten unabhängig voneinander und nährten sich unabhängig voneinander. Dann, als die Dunkelheit über ihnen hereinbrach, begannen sie den Tanz.

Ornette entfernte sich über die Ebene von ihm, bis sie ein weibliches Schweigen in der Ferne war. Orn stand da, den Schnabel erhoben, wartend. Eine Zeitspanne der Ruhe herrschte.

Dann trat Orn nach vorne, spreizte seine Flügel und hielt sie ausgebreitet, um den sanften Abendwind einzufangen. Er stieß einen durchdringenden, lusterfüllten Ruf aus. Sie antwortete, spröde - dann Schweigen.

Orn bewegte sich auf sie und sie sich auf ihn zu, beide beobachteten, lauschten, schnupperten nach dem anderen. Langsam näherten sie sich einander, bis er das Weiß ihrer gespreizten Flügel sah. Die Schwungfedern waren leicht phosphoreszierend, wenn sie auf diese Weise entblößt wurden, glatt von den Ölen des Werbungszeremoniells; so war sie eine geflügelte Umrißlinie - lieblich. Und er war es auch für sie.

In Sicht des anderen stolzierten sie, er in der männlichen Gangart, sie in der weiblichen. Sie näherten sich einander, umkreisten sich, zogen sich zurück, die Füße unisono auf den Boden schlagend, die Flügel immer gespreizt. Dann stand Orn ihr gegenüber und schloß die Flügel, wurde unsichtbar; und sie führte ihren Solotanz vor.

Flügel offen; Flügel geschlossen; sie leuchtete, leuchtete nicht, ein diffuser Leuchtkäfer; ihre Füße stampften im verschlungenen Versmaß der Werbung, jetzt gleichmäßig, jetzt unregelmäßig, immer unwiderstehlich. Weit zurück in ihrer Ahnenreihe hatten die Frauen diese Folge für die wartenden Männer vorgeführt und sie mit dem Hochzeitsritual verspottet.

Dann endete ihr Tanz, und die Ebene war wieder still. Orn war an der Reihe. Er spreizte sich, begann den Schlag der Füße, schloß die Flügel, wirbelte herum, sprang, spreizte sich, und der Instinkt ließ ihn unaufhaltsam fortfahren. Tapp-tapp-tapp auf dem Rasen, wobei das Schlagen der Flügel zu dieser Kadenz paßte, aber nicht mit ihr übereinstimmte. Ein schnellerer, wilderer Tanz als der ihre, dominierend, kraftvoll, der kundtat, was männliche Ausdrucksweise bei jeder Spezies kundtat, aber künstlerisch und nicht ohne sanfte Untertöne. Vor, zurück, herum; ein Flügel aufleuchtend, dann der andere, als ob er hin und her spränge. Aber .schweigend, mit Ausnahme der Füße, ein pulsierender Geist. Endlich ein beschleunigter Schlag, Füße und Flügel gemeinsam, emporsteigend, als ob er abheben wolle - und Schweigen.

Der Tanz war vorüber. Orn erholte sich, allein in der Dunkelheit, ließ sich sein Herz beruhigen. Es war eine gute Leistung gewesen, die sich einer guten Jagd angeschlossen hatte aber es war besser, die Dinge bis zum Morgen warten zu lassen. Er machte sich auf den Weg zu dem Schlafsitz, den er während des Umherstreifens ausgewählt hatte. Ornette, außerhalb seiner Sicht, wie es das Ritual verlangte, tat dasselbe.

Eine schnelle Mahlzeit bei Tagesanbruch. Dann, als sich die Sonne über den östlichen Paß drängte, begann die Jagd erneut. Sie war, sich schneller erholend als er, wieder frisch und mit dem Terrain besser vertraut, und er verlor an Boden. Die Stirnseite der nördlichen Bergkette empor, über einen niedrigen, verborgenen Paß, der in ein anderes üppiges Tal führte - aber sie kehrte in ihr eigenes zurück, südwärts. Sogar bis zum Rand des Sumpfes rannte sie, vorbei an Dornenbüschen, Moos und Pilzen, die ihm Federn ausrupften oder ihn mit Dornen spickten, als er achtlos hindurchstürmte. An einer Stelle kreuzte sie die Spur eines riesigen Räuberreptils und suchte schnell ein anderes Gebiet auf. Es war nicht angebracht, Schwierigkeiten derartiger Natur bei diesem romantischen Anlaß auf sich zu nehmen.

Wieder empor zu den Schneefeldern, über einen heißen Flußlauf, der seinen eigenen Kanal durch das Eis schmolz, abwärts. und vor Mittag holte Orn wieder auf. Sie war müde; ihre Flügel glänzten nicht länger glatt, ihr Schnabel war nicht länger erhoben. Sie versuchte noch einmal den Anstieg nach oben, aber er verkürzte die Entfernung zwischen ihnen so schnell, daß sie davon abließ und an der Grenzlinie blieb. Sie waren jetzt in der Nähe der südöstlichen Ecke des Tals, von seinem ursprünglichen Eingangsweg durch den Sumpf und die Bucht getrennt.

Orn schloß bis auf eine Flügelspanne auf, ohne sich noch anstrengen zu müssen. Sie war so erschöpft, daß er die Geschwindigkeit leicht halten konnte; die Zeit seiner Wanderung hatte ihn an dergleichen gewöhnt, und er hatte seine Kräfte während der Tage im Tal zurückgewonnen. Und. er war ein Mann. Aber der Augenblick, sie zu fangen, war noch nicht gekommen, und er tändelte.

Sich ihrer Niederlage bewußt, stolperte Ornette und fing sich gerade noch. Verzweifelt watete sie in das seichte Wasser der Bucht, auf eine nahe Insel zu, aber sie war so müde und hager geworden, daß dies noch schlechter war und sie umkehren mußte.

Orn wartete auf sie, siegreich. Als sie langsam ans Ufer kletterte, sprang er sie an und schob seinen Schnabel unter das weiche Untergefieder ihres Halses, biß aber nicht zu. Sie leistete kaum Widerstand; sie war erobert worden. Sie ließ sich auf den Boden sinken, seiner Gnade ausgeliefert.

Orn schüttelte sie einmal, nicht hart, und gab sie frei. Er .trottete zu einem nahen. Moosbett. Er nahm einen Schnabelvoll und brachte ihn ihr als Gegengabe. Sie schnupperte schwach daran, betrachtete ihn durch die Blinzhaut und akzeptierte.

Mit diesen ersten Symbolen der Unterwerfung und des Nests, das sie bauen und teilen würden, war ihr Werbungsritual beendet. Sie hatten einander passend gefunden; bald würden sie sich paaren, sich niederlassen und ihre Erinnerungen in ihrem Sprößling vereinigen.

Ein anderer Morgen - der erste ihres neuen Lebens. Sie durchforschten die Nachbarschaft und beschlossen, zu der Insel hinüberzugehen, die Ornette vorher nicht hatte erreichen können. Diese war dicht mit Föhren bewachsen und schien einen geeigneten Schutzhafen vor den meisten Karnivoren zu verkörpern. Die großen Landjäger würden Schwierigkeiten haben, zu ihr herüberzukommen, während sich die Seebewohner kaum unter Bäume dieser Größe wagen würden, selbst wenn sie in der Lage waren, das Wasser zu verlassen. Die beiden wateten hinein und paddelten mit ihren Stummelflügeln; betraten das Wasser, während die Kälte in der Luft zurückblieb. Der See selbst war warm, und sie würden untergetauchten Räubern gegenüber verwundbar sein. Aber die Reptilien an der Oberfläche oder am Ufer würden noch träge und deshalb weniger gefährlich sein als üblich. Wenn sich solche Kreaturen in der Nähe aufhielten, war der Morgen die beste Zeit zum Stöbern.

Nicht eine Störung kräuselte den See, abgesehen von ihren eigenen Bewegungen. Sie kamen schnell und sicher hinüber aber dies war kein Wagnis, das sie so bald wieder auf sich nehmen würden.

Der Inselboden war schwammig, aber nicht sumpfig; die Matten der abgefallenen Föhrennadeln bildeten ein hervorragendes Fundament. Obgleich die Insel klein war, so war sie doch nicht flach. Die Bäume stiegen in der Mitte einen Hügel hinauf. Orn erkannte ihn als das, was er war: die Spitze eines überspülten Bergs. Einst mochte er so hoch und kalt dagestanden haben wie die Gipfel der Kette, die dieses warme Tal einschlossen, aber seine unteren Gesteinsschichten waren eingebrochen und hatten der Bucht gestattet, Besitz von ihnen zu ergreifen. Seine ursprüngliche Gestaltwerdung war vulkanisch gewesen. Nichts von dieser Tätigkeit war

jetzt noch übrig, sonst wäre Orn nicht geblieben.

Nahe am Wasser standen dichte Bärlappbüschel, die Spitzen so hoch wie sein Kopf. Einst war diese Spezies ein Riese mit einem Vielfachen dieser Größe gewesen, aber irgendwie war sie auf diesen harmlosen Status hinabgesunken und schrumpfte anderswo auf dem Kontinent noch mehr. Schachtelhalmbinsen waren ebenfalls überreich vorhanden, obwohl in der Größe ebenfalls reduziert.

Am Rand eines sich windenden Einschnitts entdeckten sie den idealen Nistplatz: eine moosige Halbinsel, abgeschirmt innerhalb einer nördlichen kleinen Bucht. Sie war vor den heftigeren Wellen des Ozeans geschützt und vor dem offenen Gelände der Hauptinsel. Die Brücke zu dem Platz war schmal, so daß ein einzelner Vogel sie verteidigen konnte, und die Bucht selbst war tief genug, um ein Durchwaten nicht angebracht erscheinen zu lassen. Auch war die Mündung des Einschnitts mit gezackten Felsen gespickt, die den meisten großen Seekreaturen den Zugang verwehrten. Eine Gruppe von mehreren Kiefern diente als Brecher des Landwinds, und der Hauptteil der Insel schützte vor dem Seewind. Die Erde war reich an Larven, kleine Fische wimmelten in der Bucht und Muscheln im groben Sand darunter.

Ornette war befriedigt, sah sich bereits nach einer speziellen Stelle für das Nest um. Aber Orn war vorsichtiger. Die Erfahrung seiner Ahnen sagte ihm, daß scheinbar ideale Örtlichkeiten mehr als ein Individuum oder eine Spezies reizten. Manchmal war eine fehlerhafte Örtlichkeit sogar vorteilhafter, wegen des Wettbewerbsfaktors. Und er war sich unmittelbar des Schicksals seiner Eltern bewußt, die auf einer anderen scheinbar idealen Insel genistet hatten. Orn wollte nicht, daß seine eigenen Küken verwaisten, während sie schlüpften.

Der Reptiliengeruch war stark hier, und es gab viele Ausscheidungen. Irgend etwas benutzte diese Halbinsel regelmäßig, aber er war nicht in der Lage, die betreffende Kreatur zu identifizieren, bevor er sie tatsächlich sah.

Ornette, weiblich, hatte wenige solcher Bedenken. Verteidigung des Nests war nicht ihre erste Verantwortlichkeit; sein Füllen war es. Sie kratzte die Erde an mehreren Stellen auf und flatterte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dieser Ort? Dieser? Oder näher am Wasser?

Unfähig, ihre Begeisterung ohne unvernünftige Schroffheit zu unterdrücken, stimmte Orn einer Örtlichkeit neben der Bucht zu. Diese befand sich auf einem breiten, erhöhten Stein, oben muldenförmig, den er sowohl vor der Flut als auch vor Eier aufsaugenden Reptilien und landgebundenen Insekten sicher wähnte. Eine Flügelspanne breit und halb so hoch, war er groß genug für ein ordentliches Nest und hatte doch einen scharf abgegrenzten Umkreis. Die Eier würden dort genauso sicher sein wie sonst irgendwo im Freien, und natürlich würden sie niemals ohne Aufsicht gelassen werden.

Wenn er nur wüßte, was für eine Art von Reptil diese Lokalität aufsuchte. Sie mochte harmlos sein. Den ganzen Nachmittag arbeiteten sie am Nest, suchten zwischen den Kiefern nach Nadeln und Zapfen und holten Moos für eine weiche Verkleidung. Ornette verwob die langen Stengel von Uferpflanzen zu einem großen kreisförmigen Muster und füllte die Zwischenräume mit Lehm, aus, den Orn aus dem Wasser herausschaufelte. Das Nest würde einen ganzen Tag in der Sonne backen müssen, bevor die Polsterung darin angebracht wurde, und falls es regnete, würden sie das Ausfüllen mit Lehm wiederholen und abermals warten müssen. Orn hoffte, daß es nicht zu einer solchen Verzögerung kam. Das Nest mußte völlig fertig sein, bevor die Paarung stattfand.

Als die Sonne die strahlende Krone des Bergwalls berührte, erschienen Gestalten am Himmel. Es waren die riesenhaften gleitenden Formen der Ptera, der größten unter den fliegenden Reptilien. Orn erkannte die Kreatur jetzt, als der sichtbare Auslöser sein Gedächtnis aktivierte. Die Bäume, die Ausscheidungen, der Geruch - dies war ein Nistplatz der gewaltigen Gleiter.

Die Gestalten kamen herein, getragen von den Aufwinden in der Atmosphäre, näherten sich aber stetig der Insel. Orn stand in der Mitte der Halbinsel neben dem kräftigsten Baum und bereitete sich auf die Konfrontation vor, die kommen mußte. Ptera verstanden sich im allgemeinen mit echten Vögeln nicht allzu gut.

Drei kamen in Spiralen auf ihn zu. Ihre Flügel waren monströs: viermal Orns eigene Spanne. Ihre Köpfe waren groß, mit langen, zahnlosen Schnäbeln und Knochenkämmen, die sich zur Gegenbalance nach hinten erstreckten. Eine Hautfalte spannte sich von dem Kamm bis zurück über den Körper, als Ruder dienend, mit dem sich jede Kreatur im Wind zurechtfand. Ihre Körper hatten weder Haare noch Federn, wohl aber Schuppen so zart wie Geburtsflaum und kaum schützender.

Orn fuhr mit dem Beobachten fort, erinnerte sich weiter. Die Ptera, wie die anderen großen Flieger unter den Reptilien, hatten winzige Beine, die mit dem rückwärtigen Teil der Schwingen verbunden waren. Der Schwanz war zu klein, um von Nutzen zu sein. Die Vorderglieder, die die Flügel spannten, hatten die vielfache Größe der Hinterglieder, und das vierte Fingerglied reichte bis zur halben Länge jedes Flügels. Ptera, fähig, den ganzen Tag in der Luft zu gleiten, ohne eine Pause einzulegen, konnten sich an Land nicht vorwärtsbewegen. Es gab nichts, was von dieser Spezies zu befürchten war; jedes Individuum, das versuchte, ihn in der Luft anzugreifen, würde schwer im Nachteil sein, denn Orn konnte es niederschlagen und töten, während es hilflos auf dem Boden herumflatterte. Vom ebenen Grund aus konnte ein Ptera nicht fliegen.

Orn gab seine Kampfhaltung auf, obgleich er die Besucher scharf im Auge behielt. Man konnte nie ganz sicher sein, was ein Reptil tun würde, obgleich die Ptera nicht betont dumm waren.

Die drei kreisten über ihm, entschieden dann offenbar, daß er keine Bedrohung war, stießen auf eine der Kiefern hinab, die sich über das Wasser beugte. Jeder glitt über einen horizontalen Ast im oberen Teil des Stamms, ließ seine kleinen Hinterbeine herunter, hielt sich mit wunderbarer Akkuratesse fest und wirbelte sich herum.

Dann falteten sich die Flügel zusammen, und sie hingen umgekehrt da, drei plötzlich kleinere Körper, in gefaltetes Leder eingehüllt, die flaumigen Schuppen nach außen gekehrt. Sie waren gut außerhalb Orns Reichweite, und er war, im Endeffekt, außerhalb der ihren. Freunde waren die beiden Spezies nicht, aber Koexistenz war möglich.

Das Geheimnis des Reptilienbewohners hatte sich gelüftet. Die drei Ptera zusammen würden nicht mehr wiegen als Orn allein, denn trotz ihrer monströsen Flügelspannen waren sie körperlose Wesen. Und wenn sie hier sicher nächtigten, dann konnte er es auch.

Ornette schaufelte unbekümmert kleine Fische aus dem Wasser. Sie hatte es von vornherein gewußt.

Sie aßen zusammen und schliefen in dieser Nacht neben dem halberrichteten Nest, jeder den Kopf unter den Flügel des anderen gesteckt, Wärme und Liebe teilend. Es regnete, so daß sie gezwungen wurden, sich aufzuraffen, um das Nest mit ihren ausgebreiteten Flügeln zu schützen; aber es war eine gute Nacht.

Die Ptera waren keine Frühaufsteher. Lange nachdem die Vögel sich ihre Morgennahrung gesucht hatten, hingen die drei Reptilien noch dichteingehüllt von ihren Zweigen. Erst als die Sonne selbst ihre Körper berührte, bewegten sie sich, und. dann sehr steif. Die leichte Kälte der Talnacht reichte aus, diese Kreaturen zu lähmen, denen ein inneres Kontrollsystem für ihre Körpertemperatur fehlte. Selbst die haarigen Säuger waren besser dran als sie.

Das Nest härtete sich. Für den gegenwärtigen Zeitpunkt hatten die Vögel nichts Konstruktives zu tun, so daß sie die Halbinsel gründlich erforschten, nach den besten Fischgründen und den üppigsten Kolonien eßbarer Insekten suchten - und die Reptilien beobachteten.

Die drei begannen sich angeregter zu bewegen, als das Sonnenlicht sie erwärmte. Ihre Köpfe rotierten, und die kleinen Klauen an den Bruchstellen zu ihren Flügeln spannten sich. Sie begannen sanft zu flattern und öffneten der Wärme ihre Membranen. Diese gewaltigen Flügel konnten eine große Menge von Sonnenlicht einfangen und das ganze System erwärmen.

Dann, eins nach dem anderen, ließen sich die Reptilien fallen. Das erste stürzte fast bis aufs Wasser, bevor es sich waagerecht ausrichtete, schoß dann gefährlich nah an die Oberfläche heran. Seine Schwingen streckten sich so dünn aus, daß das Sonnenlicht sie durchsichtig machte und die Adern wie das Netzwerk von Laubblättern hervortraten. Der Ptera schlug unbeholfen mit den Flügeln, dessen Knochen sich in dem verzweifelten Bemühen, Höhe zu gewinnen, durchbogen, und Orn spürte einen Anflug von Sehnsucht. Einst war seine Art geflogen, und das Abheben hatte diesem geähnelt. Er wußte, daß das Reptil schnell eine Aufwärtsströmung erreichen mußte, denn seine Energiereserve war gering und ein Absinken in das kühle Wasser würde fatal sein.

Es fand eine günstige Luftströmung und kämpfte sich in eine sichere Höhe empor. Der zweite Ptera fiel, folgte einem ähnlichen Kurs. Aber der dritte, der größte, tat es nicht. Der Wind hatte sich gedreht, und dieser spezielle Korridor zum Himmel war verschlossen. Besorgt manövrierte er von Seite zu Seite, blieb jedoch zu niedrig. Die Spitze eines Flügels berührte . in der Schräglage eine Welle und riß die Kreatur herum. Sie richtete sich wieder aus, war aber jetzt sogar zum Flattern zu niedrig, um das Desaster vermeiden zu können.

Das Drama war noch nicht vorüber. Vorsichtig kreiste der Ptera, kam der Vernichtung im Wasser näher und näher, berührte die See aber doch nicht ganz. Er kam in Richtung der Insel, in Richtung von Orns Nest.

Alarmiert rannte Orn los, um ihren Besitz zu schützen. Aber der Ptera versuchte lediglich, Land zu erreichen, bevor er das letzte Stück abstürzte. Er schaffte es nicht. Mit einem elenden Klatschen schlug er auf dem Wasser auf, so nahe dem Nest, daß Orn schnell seine Flügel ausbreitete, um herumfliegende Spritzer abzufangen, bevor sie den Lehm naß machten und eine Verschiebung seiner Hochzeitsnacht heraufbeschworen.

Ziemlich fruchtlos, aber entschlossen schwimmend hatte der Ptera das seichte Wasser erreicht und war in der Lage, sich über die kurze, noch verbleibende Distanz bis ans Ufer zu winden. Tropfend und schwer mitgenommen kletterte er an Land und blieb dort für den Augenblick liegen, Orn beobachtend.

Die Kreatur war jetzt erschöpft, unterkühlt und hilflos; sie würde leicht zu töten sein. Sie hatte sich beinahe selbst getötet, als sie über die steinige Barriere der kleinen Bucht gehüpft war. Aber Orn, erfüllt von der Romantik der jüngst vollendeten Werbung und in gewisser Weise mitfühlend mit der Zwangslage des Reptils, attackierte nicht. Es war sowieso nur wenig gutes Fleisch an ihm, und im Augenblick hatte er keinen Hunger. Wäre so eine Kreatur neben ihm abgestürzt, als er sich durch die Wüste kämpfte, hätte die Sache anders ausgesehen.

Nach einer Weile riß sich der Ptera von der Uferbank hoch und schleppte sich auf ramponierten, nassen gefalteten Flügeln und schwachen Beinen dahin. Er war unfähig zu stehen oder zu gehen, aber er konnte kriechen. Er schien überrascht zu sein, daß kein Angriff erfolgt war, hielt sich aber nicht damit auf, über die Sache nachzusinnen. Tatsächlich war sich Orn nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte; es war gegen seine Natur.

Der Ptera krabbelte unbeholfen zu seinem Baum, hakte dann seine Flügelklauen in die Borke. Mühevoll kletterte er, sich mit gefalteten Flügeln an den Stamm klammernd, ein tropfendes Cape. Erst als er seinen Ast erreichte, legte er wieder eine Pause ein, ließ sich in dessen Mitte auf das Holz plumpsen, wobei sein schwerer Kopf müde nach unten hing. Schließlich nahm er seine Schlafstellung ein, schlief jedoch nicht. Er bewegte sich den Ast entlang, im Wechselgriff und mit dem Kopf nach unten, bis er freien Raum hatte. Er breitete die Flügel aus, so daß die Sonne sie traf, wärmte und völlig trocknete. Dann ließ er sich abermals fallen.

Diesmal schloß er das Manöver erfolgreich ab und entschwand stolz in den Himmel.

An diesem Tag beobachteten sie, wie sich die Ptera ernährten, indem sie sich bis dicht über die Wellen ab- sinken ließen und kleine Fische in ihre langen Schnäbel schaufelten. Weil sie dies mit hoher Geschwindigkeit und immer gegen den Wind taten, konnten sie das Wasser berühren und wieder an Höhe gewinnen, ohne untergetaucht und gefangen zu werden, und die massiven rückwärtigen Knochen ihrer Köpfe balancierten das Gewicht der kompakten Bissen aus, die sie heraufholten. Es war eine elegante Operation.

Orn kümmerte sich kaum um das Leben und Schicksal irgendeines bestimmten Reptils, aber in gewisser Weise hatte sein Akt der Gnade seine Beziehung zu Ornette noch bedeutsamer gemacht. Gemeinsam sammelten sie die letzten Hilfsmittel, die sie benötigten. Den ganzen Tag schien die Sonne ohne Unterlaß - ungewöhnlich für dieses Tal -, und am späten Nachmittag entschieden sie, daß der Lehm fest genug war. Sie packten die Auskleidungsschichten hinein und machten das Nest weich und bequem.

In dieser Nacht nahmen sie ihr Nest zum ersten Mal in Besitz, in seiner Schüssel angenehm aneinandergeschmiegt. Und Ornette bot sich dar, und sie paarten sich endlich, während die drei Pteras schweigend an ihren Ästen hingen.