XII Aquilon
Sie hatte schon vorher in allernächster Nähe zu diesen beiden Männern geschlafen, sowohl auf dem Planeten Nacre als auch auf dem Floß Nacre. Sie kannte sie gut und liebte sie beide. Aber jetzt spürte sie ein wachsendes Unbehagen, eine Empfindung des Ungehörigen. Damals, als sie die Erde in der Quarantänekapsel umlie- fen, hatte sie sich fast entschieden, sie zu verlassen, anstatt weiterhin zwischen sie zu kommen. Die Ereignisse hatten dies verhindert, aber nicht wirklich die Gemütsverfassung beseitigt, die der Entscheidung vorangegangen war. Denn sicherlich würde sie zwischen die beiden kommen und der Grund für Kummer und Unglück sein, wenn sie ein Mitglied der Gruppe blieb. Sie spürte die weiblichen Triebe in ihr, die sie nötigten.
Sie blickte auf das Dach des Anbaus, unsichtbar in der Dunkelheit, aber gegenwärtig vor ihrem geistigen Auge, denn sie hatte Stunden damit verbracht, es mit Flechtwerk zu versehen. Ja, sie fühlte sich genötigt - aber zu was?
Eine Wahl zu treffen.
Aquilon war eine Frau; sie hatte Brüste, und die waren nicht allein wegen des Aussehens da; sie hatte Schenkel, und nicht nur zum Gehen. Sie war lange aus ihrer Jungmädchenzeit heraus. Aber sie hatte das Bedürfnis nach dem physischen Mann nicht gespürt - bis dieser Agent Subble sie dort in ihrem engen Apartment irgendwie erregt und zurückgewiesen hatte. Sie hätte vorher nie für möglich gehalten, daß ihr das ein Mann antun könnte, und es war ein Schock für sie gewesen. Als sie noch kein Lächeln gehabt hatte, das sie der Welt zeigen konnte, war sie dem gesellschaftlichen Leben natürlich aus dem Weg gegangen; aber dieses neue Lächeln hatte den Anschein gehabt, ihr die ganze Welt offenstehen zu lassen, alle früheren Geheimnisse ergründen zu können; Subble hatte diese Euphorie beseitigt.
Sie hatte ihn nicht geliebt in diesen wenigen Stunden, in denen sie zusammen gewesen waren, aber sie hatte seine kontrollierte Männlichkeit körperlich gespürt. Er hatte ihr vor Augen geführt, daß die Liebe, die sie angeblich zu Cal und Veg empfand, eine intellektuelle Angelegenheit war, die keine physische Substanz besaß; eine seelenverwandte Resonanz auf die Liebe, die sie ihr entgegenzubringen schienen. Sie hatte sich tatsächlich niemals vorgestellt, eine sexuelle Beziehung zu einem der beiden zu unterhalten.
Subble war ein Agent gewesen, in mehr als in einem Sinne. Er konnte sich mit anscheinend unwiderstehlicher Schnelligkeit, Kraft und Genauigkeit bewegen und auch eine schwierige Pose unendlich lange beibehalten, ohne schwach zu werden. Er konnte über Philosophie reden, und er konnte ohne Gewissensbisse töten. Er war ansehnlich, aber erbarmungslos selbst bei seinen Freundlichkeiten. Er hatte einen Körper wie den Vegs und einen Verstand wie den Cals. Er hatte sie verstanden.
Subble war gestorben und hatte damit jeden Verkehr mit ihm, wenn auch theoretischen, zu einer Verschwendung emotionellen Aufwands gemacht. Natürlich gab es Hunderte, vielleicht Tausende von Agenten, buchstäblich identisch mit ihm oder computerisiert, genau wie er zu werden. Aber es waren nicht die Fließbandphysis und der Fließbandgeist gewesen, die die Verbindung zwischen ihnen geschaffen hatten; es war ihre gegenseitige Erfahrung gewesen. Der Subble war für immer gegangen; die große Ähnlichkeit anderer Agenten war ohne Belang.
Das warf sie zurück in das Trio - mit einem Unterschied. So lange hatte sie gebraucht, um sich darüber klar zu werden.
Aber was war deshalb zu tun?
Sie schlief ein ohne Antwort. Ihre Träume jedoch drehten sich nicht um Liebe; sie drehten sich um Bra- chiosaurus.
Die Erkundungen der nächsten Woche verbannten jeden Zweifel, den sie noch über die Natur dieser Region genährt haben mochten. Sie waren auf paläontolo- gisches Gold gestoßen. Dies war eine vollkommene Kreidezeitenklave in der Paläozän-Welt. Das ganze Spektrum des Goldenen Zeitalters der Reptilien war vorhanden - eine breite ökologische Pyramide mit unübersehbaren Mengen kleinerer Formen, weitgehend Säugetiere, und einer geringen Anzahl von größeren, dominierenden Reptilien. Hier gab es tatsächlich Dinosaurier.
Fünfzehn Kilometer uferaufwärts, nordwestlich von ihrem Lager (»Es gibt nichts, was so dauerhaft ist wie ein vorübergehendes Lager«, bemerkte Cal und lächelte aus irgendeinem geheimen Grund, wurde die ozeanische Bucht zum Delta eines nach Süden laufenden Flusses. Es war offensichtlich, daß die emporragende Bergkette einst eine Salzwasserbucht mit einer Breite von etwa sechzig und einer Länge von neunzig Kilometern eingeschlossen hatte, aber diese war fast ganz mit dem fruchtbaren Schlamm und dem Treibgut des Flusses ausgefüllt worden, um einen gewaltigen warmen Sumpf zu bilden. Sein Zentrum war ein Frischwassersee, täglich mit hartem Regen anschwellend und von zarter Vegetation überwuchert, dessen Rand bis zu den Ausläufern der Riesen anstieg. Er war überall tropisch warm, nahe Meereshöhe; die Nächte sanken bis zu einer Temperatur von knapp zwanzig Grad ab, die Tage stiegen bis zu dreißig Grad an, wobei die vorherrschende Durchschnittstemperatur mehr am oberen Ende dieser Skala lag.
Unmittelbar in der Sonne war es natürlich viel heißer. Mittags bewegte sich kaum ein Reptil. Sie verbargen sich alle in irgendeinem Schatten, der vorhanden war, Räuber und Beutetiere gleichermaßen. Aquilon hatte vergessen, wie sehr Reptilien das Ausruhen liebten.
Die ihnen am nächsten gelegene Ecke des Deltas war der Tummelplatz mehrerer Familien von Schnabeltiersauriern. Cal bestand darauf, die richtigen Klassifizierungsbezeichnungen zu benutzen - die »Familie« rangierte unter »Ordnung« und über »Gattung« -, und natürlich kannten die Reptilien keine Familien im gesellschaftlichen Sinn. Aber sie taten sich zu kleineren oder größeren Gruppen zusammen, mit Ausnahme der Karnivoren, und Aquilon zog es vor, in diesem Rahmen eine Vermenschlichung vorzunehmen.
Im flüssigen Teil des Sumpfs weidete ein einsamer Brachiosaurus, vielleicht derselbe, dessen Bekanntschaft sie bei ihrer Ankunft so unglücklich gemacht hatten. Er verzehrte alles Weiche, was in Reichweite seines Halses wuchs, und einmal sah sie, daß er einen achtbaren Felsbrocken hochschaufelte. Cal hatte ihr Erstaunen gemildert: es war ganz normal, daß solche Reptilien Felsen verschluckten, um die Verdauung stabilerer Bissen zu fördern. Lange Perioden der Stasis waren erforderlich, während derer das voluminöse und zähe aufgenommen Material zermalmt und allmählich assimiliert wurde; dies war ein Grund, erklärte er, aus dem Säugetiere und Vögel auf einer Vierundzwanzig-Stunden-Basis viel mobiler waren als Reptilien. Überlegene Verdauung machte diese Starre hinfällig. Sie kam zu der Überzeugung, daß sie sich auch wie erstarrt fühlen würden, wenn sie Felsen in ihrem Magen herumrollen lassen müßte.
Gelegentlich verschwand der Saurier vollkommen, und sie nahm an, daß er unterhalb der Oberfläche ein Nickerchen machte. Er war ein Luftatmer, konnte aber vermutlich den Atem für eine lange Zeit ohne besondere Unbequemlichkeit anhalten, so wie es ein Wal tat - oder tun würde, in einigen zehn Millionen Jahren in der Zukunft.
Jenseits dar Bucht nahe den östlichen Bergen gab es noch mehr Schnabeltiere, diese mit grotesken Kämmen; sie nahm sich vor, zu gegebener Zeit einen eingehenderen Blick auf sie zu werfen. Und in den steppenartigen Bereichen zwischen Schlamm und Berg, wo Farnbäume und Zykas besonders üppig wuchsen, gab es Herden von Triceratops und verstreute Ankylosauru- ses, beides gepanzerte Reptilien von beträchtlicher Masse. Wahrhaftig, es war ein Paradies der Paläontologie.
Und Cal, der Paläontologe, wurde mehr und mehr deprimiert. Sie fand dies schwer zu verstehen. Cal hatte eine pessimistische Sicht vom Leben, aber es gab immer gute Gründe für seine Ansichten. Wenn er nur erklären würde, was ihn störte!
In der Zwischenzeit zeichnete sie eine Landkarte und trug alle bisher beobachteten und vermuteten Details ein. Sie hielt die vulkanischen Berge fest, Scylla und Charybdis und ihren Lagerplatz. Sie zog eine gepunktete Linie ihrer Route. Vielleicht als Ergänzung zu Cals Schlußbericht. Sie fanden eine bessere Örtlichkeit knapp vierzig Kilometer nördlich und errichteten ein zweites, dauerhafteres Lager neben einem kleinen Flüßchen, das aus der westlichen Kette herunterkam. Sie brachte ihre Karte entsprechend auf den neuesten Stand. Es gab in der Nähe einen hübschen Wasserfall und hügeliges Gelände, das vor den in der Steppe lebenden gepanzerten Dinosauriern sicher zu sein schien, und die Luft war hier kühler. Es gefiel ihr sehr gut. Veg, unermüdlich auf Erkundungsgängen, sagte, daß es am oberen Ende des Flusses einen verschneiten Paß durch die Bergkette und einige heiße Bodenstellen gab: selbst die schweigenden Vulkane waren weit davon entfernt, erloschen zu sein.
Es lauerten Gefahren hier, sicherlich; es gab wilde Raubtiere, größer als alle, die es vorher oder nachher auf der Erde gab, obgleich sie bisher nur ihre Spuren gesehen hatte. Aber gegen Gefahr war per se nichts einzuwenden, solange man nicht übermütig wurde. Dies war ein Besuch in der Geschichte, in der geschichtlichen Geologie, eine Erfahrung, die eine am heimischen Herd klebende Person nicht erwerben konnte. Der Erde so ähnlich.
Der Erde ähnlich? Es war die Erde, laut Cal, obwohl er während des letzten Monats über diesen Punkt nicht mehr gesprochen hatte. Sie vergaß das immer. Vielleicht deshalb, weil sie von Paläo als einer eigenständigen Welt dachte; oder vielleicht konnte sie sich einfach nicht die Überlegung zu eigen machen, daß irgend etwas, was sie hier hin mochte, ihre Welt verändern konnte, vielleicht sogar die menschliche Rasse elimierte und sie ebenfalls auslöschte. Dann konnte sie nicht hierher kommen, weil sie nicht existierte, und so würde es letzten Endes doch zu keiner Veränderung kommen.
Nein, es gab keinen Sinn, und dies war Paläo, und sie weigerte sich, von der Furcht vor einem Paradox beherrscht zu werden.
Aber es gab weltliche Probleme. Die Insekten waren grausam, nachdem sie sich auf die Neuankömmlinge eingeschossen hatten, und alle drei Menschen und, soweit sie wußte, auch die Mantas hatten Schwellungen von nächtlichen Bissen. Jemand hatte einen Teil der Nacht Wache zu stehen, weil sie sich darüber verständigt hatten, daß es nicht fair war, den Mantas die ganze Arbeit zu überlassen. Das bedeutete, daß einer der drei im allgemeinen zu wenig Schlaf hatte und gereizt war. Es war überraschend, wie schnell ein lästiges Jucken und eine nicht ausreichende Ruhepause zu persönlichen Unfreundlichkeiten ausarten konnten. Und das Essen.
Ihre Hände waren wund und ihre Fingernägel vom Scharren nach eßbaren Knollen in der Erde abgebrochen. Veg aß überhaupt kein Fleisch, und sie hatte es in den letzten paar Monaten auch unterlassen, aber jetzt war der Gedanke an gerösteten Fisch in der Tat verlockend. Kokosnuß war gut, und das waren auch die wenigen kleinen, am Berghang wachsenden Beeren, und sie hatte nußartige Früchte zu einem Pulver zerstampft, um über dem Kerosinbrenner mühevoll etwas zu backen, das vage an Brot erinnerte. Aber das üppige Grün des Wasserufers war zäh und holzig und im Inneren sandig, selbst wenn es gründlich gekocht wurde, und schmeckte nach Kreosot. Es ließ sie verstehen, warum Brach Steine in seinem Bauch brauchte, um es zu zerkleinern; er konnte es nicht aushalten, es lange genug im Maul zu behalten, um es zu zerkauen! Den Tricern machte es nichts aus; sie hatte gesehen, wie sie ganze Farnbäume abbissen und die Stämme zerkauten, wobei ihre Schnauzen und ihre phänomenalen rückwärtigen Zähne wie Sägewerke wirkten. Cal hatte auch das erklärt: die Tricer besaßen multiple Zahnreihen, eine über der anderen; die verbrauchten wurden automatisch durch neue ersetzt. Und der Oberkiefer stand dem unteren nicht unmittelbar gegenüber; die Zähne glitten scherenähnlich aneinander vorbei, kontrolliert von Kiefermuskeln, die fast einen Meter lang waren. Man mußte sich vorstellen, wie einige Forscher darüber theoreti- siert harten, daß die Saurier ausstarben, weil sie Blattpflanzen nicht kauen konnten!
Für die mutmaßlich überlegene Zahnanordnung der menschlichen Wesen waren die weicheren Knollen besser aber einige machten sie krank, und sie konnte sich bisher nicht sicher sein, welche. Die Wirkung schien mit Verzögerung und Unregelmäßigkeit einzutreten. Cal aß Fisch, kochte auch ohne Bedenken fette Eidechsen und hatte keine Probleme. Im unausgesprochenen Einver- ständnis tat er es allein; keiner von ihnen war sich sicher, in welchem Maß ihre diätetischen Unterschiede ideologisch oder physisch waren, aber keiner kritisierte den anderen auf seinem Gebiet, selbst dann nicht, wenn die Nerven am angespanntesten waren.
Sie sah es kommen: bald würde sie wieder umsteigen. Auf der Erde hatte sie die Art und Weise abgestoßen, auf die Tiere in grausamer Gefangenschaft für die Schlachtung aufgezogen wurden, aber hier waren die Tiere wild und frei und in der Lage, auf sich selbst zu achten, und es war die natürliche Ordnung, daß die schwachen oder langsamen oder dummen zur Nahrung für die starken und schnellen und schlauen wurden.
Aber vor allem war sie hungrig, und ihre Vorlieben stimmten damit überein. Was sie zurückhielt, war die Furcht, daß sich Veg in dem Augenblick, in dem sie dem Vegetarismus abtrünnig wurde, von ihr abwandte und sie somit ihre Wahl unter den Männern unfreiwillig getroffen haben würde. Vielleicht würde Cal mit seinem brillanten Verstand und seiner Willensstärke sowieso derjenige welcher sein, aber sie wollte ihre Entscheidung frei treffen, nicht auf dem Weg über ihre Eingeweide.
Indessen gab es auch beträchtliche Mühsal im Paradies.
Sie unterbrach ihre Beschäftigung - aus einem Korb voller bucheckerähnlicher Objekte, die Veg irgendwo gesammelt hatte, die grünen, verfaulten oder ver- wurmten (ungefähr die Hälfte) herauszusortieren - und griff nach ihrem Zeichenblock. Wenigstens das hatte sie noch: ihre Malerei. Sie ging flußabwärts, in die Richtung von Hackgeräuschen.
Veg zerhackte ausgewählte Hartholzschößlinge, verhältnismäßig selten in diesem Tal, und entrindete sie. Er hatte eine Reihe nackt in der Sonne ausgelegt, alle etwa einen Meter achtzig lang und zweieinhalb bis fünf Zentimeter im Durchmesser, je nach Ende. Er benutzte sein .kräftiges Pfadfindermesser, statt den Versuch zu unternehmen, die schlanken Bäume mit der Axt zu fällen, >und seine großen Armmuskeln spannten sich ansehnlich, als er arbeitete.
Ja, dachte sie, er war ein starker Mann, wenn auch nicht unbedingt ein schöner. Kaum einer von der Sorte, die sie als Vegetarier ansehen würde, die das Töten haßte. Ein kräftiger, seltsamer Mann, trotz all seiner Einfachheit.
»Was machst du da?« fragte sie schließlich.
»Knüppel«, grunzte er.
»Knüppel? Sind das keine Waffen?«
»Ja. Wir haben unser Dampfgewehr beim Umkippen verloren, und es gibt hier Tiere, die sich nicht einmal dadurch stören lassen würden. Wir müssen irgendwas haben. Knüppel sind defensiv, aber wirkungsvoll.«
»Aber Waffen.«
»Defensiv, sagte ich!« Letzte Nacht war er mit der Wache an der Reihe gewesen, mit dem menschlichen Part, und et hatte fröhlich gepfiffen. Aber jetzt spürte er es. Sie wußte, wie man sich nach vier Stunden Schlaf fühlte, aber sein Ton gefiel ihr trotzdem nicht.
Sie hielt ihre Stimme gedämpft. »Du meinst gegen einen Dinosaurier?«
»Ich denke, du könntest ihm den Knüppel in die Kehle rammen oder vielleicht seine Kiefer daran hindern, zuzuschnappen, oder ihm einfach eins auf die Nase geben. Viel besser als die bloßen Hände.«
Sie musterte die schlanken Stöcke zweifelnd. »Ich würde mich nicht danach drängen, es bei den Tricera- tops auszuprobieren. Mit einem einzigen Biß würde er.«
»Keiner verlangt es von dir«, schnappte er.
Beleidigt ging sie weg. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie emotional reagiert hatte, aber sie war auch wütend über ihn. Er hätte nicht zu schreien brauchen.
Sie fand Cal weiter hügelabwärts, nördlich des Lagers, wo er einen kleinen, zahmen Dinosaurier beobachtete. Sie hatte schon eine ganze Anzahl dieser harmlosen, fast freundlichen kleinen Reptilien in der Gegend gesehen, denn sie weideten üblicherweise in Herden von einem Dutzend oder noch mehr. Dieser hier war ungefähr anderthalb Meter groß, im Vergleich zur durchschnittlichen Reptilienspezies mit einem Kopf von beträchtlichem Volumen. Hell gefärbtes Hautgewebe umrandete sein Gesicht, rot und grün und gelb; es faßte seinen ganzen Kopf ein und türmte sich oben zu einer schwammigen Wölbung auf. Aquilon hatte keine Ahnung, was eine derartige Aufmachung ihrem Besitzer nutzte, erinnerte sich aber, daß die Evolution immer einen realistischen Zweck verfolgte.
Die Kreatur nagte an Farnkraut, und obwohl sie aufblickte, als sie herankam, kehrte sie zu ihrer Mahlzeit zurück, als sie haltmachte. Harmlos, sicherlich; wäre sie ein Räuber gewesen, hätte sie sofort angegriffen oder sich zurückgezogen. Abgesehen davon konnte sie an Hand der Gebißanordnung sagen, daß es sich um einen Pflanzenfresser handelte.
Sie blieb schließlich hinter Cal stehen, wohl wissend, daß der Laut ihrer Stimme das Tier aufschrecken würde. Sie öffnete ihren Zeichenblock und malte das Porträt des Dinosauriers; diese Gelegenheit durfte sie sich nicht entgehen lassen. Glücklicherweise war ihr Papier vom Floßwrack gerettet worden, obgleich sich jede Seite am Rand verfärbt hatte. Vielleicht war es materiell gesehen nicht so wertvoll wie die Funkausrüstung, aber sie war viel glücklicher, es zu haben.
Sie war angetan von diesem Reptil. Es wirkte verteidigungslos, und sein Kopf war so groß und breit. Hatte es eine Gehirnkapazität, die dem Menschen Konkurrenz machte? Konnte es intelligent sein, nach menschlichen Maßstäben? Seine Handlungsweise ließ nichts davon erkennen, aber.
Als sie fertig war, reichte ihr Cal ein Blatt mit seinen Notizen. Normalerweise verwendete er den Sprechschreiber, aber diesmal hatte er es mit der Hand gemacht, um das Schweigen zu bewahren. Sie blickte auf die krakelige Schrift: »TROODON, >knochenköpfiger< Ornithischier. Massiver Knochenschädel, kleines Gehirn.«
Massiver Knochen? Dieser Schädel, von dem sie gedacht hatte, daß er ein massives Gehirn enthielt. Was für eine Platzverschwendung!
Es gab noch mehr, aber sie blickte hoch, um einen der Mantas herankommen zu sehen. Der kleine Dinosaurier war alarmiert und hüpfte davon wie ein riesiges Kaninchen.
»Warum die ganzen Knochen?« erkundigte sie sich, weil sie jetzt wieder frei sprechen konnte. »Verlangsamen sie seine Bewegung nicht gerade, wenn Gefahr im Verzug ist?«
»Das hat die Paläontologen schon seit geraumer Zeit gestört«, gab Cal zu. »Ich würde Troodon sehr gerne in einer kritischen Situation erleben und mir Notizen machen. Gegenwärtig kann ich nur Vermutungen anstellen. Ein großer Kampsaurier würde normalerweise in einen Kopf dieser Größe hineinbeißen, die beste Methode, die Kreatur schnell zu töten. Der Körper würde noch ein bißchen herumzappeln, aber der Räuber wäre in der Lage, ihn niederzuhalten und den Rumpf in Ruhe zu verzehren. Aber wenn er seine Zähne in Troodons weich aussehendem Schädel versenkt.«
Aquilon lachte. »Keine Zähne! Er würde das nicht noch einmal versuchen!«
»Nicht genau. Es gibt mehrere Zentimeter Fleischpolster auf den Knochen, das den Aufprall dämpfen würde. Und der Karnosaurier würde schnell lernen, sich den ganzen Kopf einzuverleiben, nicht nur einen Teil davon, und damit Erfolg haben. Aber das wäre noch immer ein respektabler Happen, vielleicht ganz schmackhaft - aber nicht kaubar. Ich glaube, daß zu dem Zeitpunkt, an dem das Fleisch von den Knochen runter wäre, die anderen in der Herde längst die Beschäftigung des Karnivoren genutzt hätten, um sich davonzumachen. Demnach wäre es ein indirektes Instrument, das die Herde mehr schützt als das Individuum.«
»Das ist ein grausiger Mechanismus!«
»Und doch würde es die Anfälligkeit der Herde begrenzen und sorglose Räuber vielleicht ganz entmutigen. In jedem Fall beobachten wir eine sehr gut gedeihende Bevölkerung dieser Spezies.«
Der Manta war angekommen und hatte seine klumpenartige Position eingenommen.
»Was ist los, Circe?« fragte sie, wohl wissend, daß es einen guten Grund für eine derartige Unterbrechung geben mußte. Mehr und mehr hielten sich die Mantas für sich und harten zu der menschlichen Gruppe nur noch eine lose Verbindung. Einer erschien immer zur Nachtwache, und ganz sicher versteckten sie sich nicht; aber sie schienen ihre eigene Gesellschaft vorzuziehen. Die Kommunikation war ausreichend; sie konnte Circe jetzt sehr gut verstehen. EIGENARTIG - WICHTIG, signalisierte der Manta mit jener Kombination von Gesten und Schwanzschlägen, die sie nach und nach als ihren Kode herausgearbeitet hatten.
»Gefährlich?« Sie erinnerte sich, welche guten Dienste Circes Warnung beim ersten Mal geleistet hatte, als der Tsunami kam.
NEIN. Aber der Verneinung mangelte es an Überzeugungskraft; sie ließ mehr Wahrscheinlichkeit als Sicherheit erkennen. DIES. Und Circe peitschte viermal mit ihrem Schwanz den Boden und hinterließ eine Markierung wie eine Fußspur.
»Der Vogel!« rief Cal aus. »Der Vogel, der diese mächtigen Spuren gemacht hat, die wir bei Lager Eins sahen!«
JA. ZWEI, gab Circe an.
»Was ist hier im Land der Giganten so besonders an einem großen Vogel?« fragte Aquilon Cal.
»Es könnte der substantielle Beweis dafür sein, daß dies eine separate Welt ist.«
»Separat? Oh, du meinst. abgeschlossen?«
»Alternativ. Eine Welt parallel zu unserer eigenen in jedem wesentlichen Detail, aber unterschiedlich. Dieses Konzept gibt sicherlich mehr Sinn als das einer temporalen Verschiebung.«
»Temporal.? Zeitreise? Veränderung der Vergangenheit? Paradox?« Als ob sie sich nicht schon selbst Gedanken darüber gemacht hätte!
»Ungefähr in dieser Richtung. Die Ähnlichkeit Paläos mit der Erde ist viel zu groß, um zufällig zu sein. Die Größe, die Schwerkraft, die Atmosphäre, jede übereinstimmende Spezies - aber das haben wir schon diskutiert. Ich benutze die irdische Nomenklatur, weil sie paßt, aber ich kann es ganz einfach nicht einer Zeitreise zuschreiben. Es muß eine andere Erklärung geben, und der Alternativweltrahmen könnte passend gemacht werden.«
»Wieder da, wo wir angefangen haben«, murmelte sie. »Aber auf der Erde gab es im Paläozän keine Dinosaurier.«
»Wir können uns dessen nicht sicher sein, 'Quilon. Dies ist eine Enklave, ziemlich scharf vom Rest des Kontinents abgetrennt. Es könnte sie auf der Erde gegeben haben, so vollkommen zerstört, daß keine Fossilien als Beweis zurückgeblieben sind - oder lediglich so tief begraben, daß wir sie bisher nicht entdeckt haben. Besonders diese Örtlichkeit hier würde Opfer einer Erdverschiebung gewesen sein. Ich werde das bestimmt überprüfen, wenn.« Er machte eine Pause, und sie wußte, daß er an ihre Verbannung dachte. Sie konnten sobald nicht zur Erde zurückkehren, selbst wenn sie es wollten, falls überhaupt. »Es könnte passiert sein, und ich glaube fast, daß es auch so war. Die San Andreas-Falte unserer Zeit ist die Landfortsetzung einer pazifischen Meeresfalte. Der Kontinent hat sich darübergeschoben und gewaltige Teile einer unterseeischen Landschaft begraben. Dieses Tal könnte ein Stück des verschwundenen Gefüges sein, die Berge eine Gegenwirkung auf die extremen Turbulenzen des Gebiets. Es gibt hier nichts, das grundsätzlich unvereinbar mit dem wäre, was wir von unserer eigenen Welt wissen.«
»Ich bin nicht sicher, daß ich all dem folgen kann«, sagte sie und fragte sich, wen von ihnen er eigentlich so angestrengt überzeugen wollte und warum die Angelegenheit plötzlich so wichtig war. »Aber ich schließe daraus, daß Paläo entweder die Erde ist oder auch nicht.«
Er lächelte für einen Augenblick. »Das würde scheinbar alles abdecken. Dies könnte die Erde sein - abgesehen von jenem Vogelpaar, über das Circe berichtet. Alles andere paßt, mit Ausnahme der Chronologie einiger Reptilien wie etwa des Pteranodons. Sie sollten ausgestorben sein, bevor.«
»Aber ein großer Vogel paßt nicht? Ich würde meinen, daß zwei Vögel leichter zu erklären sein sollten als eine ganze Enklave mit anachronistischen Dinosauriern.«
»Falsch. Die Enklave ist lediglich eine übriggebliebene Tasche, eine kurze, im geologischen Sinne, Fortsetzung. Der Vogel - einer dieser Art, so früh - hätte sich im Lauf von Millionen von Jahren entwickeln müssen und wäre weit verbreitet gewesen. Es müßte Fossilien gegeben haben, andere Beweise seiner Gegenwart.«
»Cal, das hört sich für mich sehr dünn an. Es gibt so viele riesige Lücken bei den Fossilienfunden.«
»Quilon, wir stehen vor drastischen Alternativen. Wenn dies die Erde ist, stehen wir vor einem Paradox. Paradoxa können in der Praxis nicht existieren; die Natur wird sie irgendwie lösen, und uns könnte die Art und Weise dieser Lösung gar nicht gefallen. Überhaupt nicht. Das Prinzip der Affenpfote.«
»Der was?«
Er schien sie nicht zu hören. »Aber wenn dies nicht die Erde ist, sind die zwangsläufigen Folgerungen gleichermaßen mißlich. Es ist notwendig, Bescheid zu wissen.«
»Aber es ist lächerlich zu behaupten, daß ein Vogel - ich meine, zwei Vögel -, die wir noch nicht einmal gesehen haben.« Sie unterbrach sich. Sie hatte gerade einen Streit mit Veg gehabt und nun provozierte sie einen mit Cal. Wie auch immer die geologischen, ökologischen, paläontologischen und philosophischen Folgerungen aussehen mochten, so würde ihre Diskussion an der Wahrheit nichts ändern, und es war albern, ihre persönlichen Beziehungen deswegen zu belasten. Cal hatte offenbar mehr als einen bloßen Vogel im Sinn; dieser war nur ein Vorwand, um das zu( verbergen, was er sich zu diskutieren weigerte. Anderenfalls würde er sicher seine eigene Unlogik erkannt haben.
Es war ihre Sache, die Dinge zu glätten, statt sie aufzubauschen.
»Gehen wir nachsehen«, sagte sie.
Cal nickte.
Sie gesellten sich wieder zu Veg, der jetzt in besserer Stimmung zu sein schien, nachdem sein selbstauferleg- tes Unterfangen abgeschlossen war. Aquilon erwähnte ihren vorrangegangenen Wortwechsel nicht.
»Wie weit?« war alles, was Veg fragte.
Circe erklärte: dreißig Kilometer über das Wasser.
Sie benutzten lieber das Floß, als den gefährlichen Marsch um den See und durch den unerforschten Sumpf zu unternehmen. Sie kehrten zu Lager Eins zurück, machten die Nacre los und ruderten so weit, wie es der verbleibende Tag gestattete.
Es war gut, wieder auf dem Wasser zu sein, dachte Aquilon, als sie eingezwängt zwischen den beiden Männern in der Kabine lag. Irgendwie waren Entscheidungen auf dem ankernden Floß nicht so dringend, und sie begrüßte den Umstand, daß die Sicherheit ihrer Position ihnen allen dreien das gleichzeitige Schlafen erlaubte. Es wäre sonst ihre Nacht des Wachestehens gewesen.
Sie mußten sich lediglich als Dreierteam einrichten, während sich die Mantas entspannten, wo auch immer es war, daß die vier diese Nacht verbrachten. Sollten sich die theoretischen Fragen von selbst beantworten. Hier war es nett.
»Oh!« Sie sprang hoch, als ein kalter Wasserguß über den Kabinenboden glitt und ihr Gesäß naß werden ließ. Sie hatte die Gefahr vergessen. Morgen würde sie sich daran machen, die Nacre wieder abzudichten.
Am nächsten Tag landeten sie die Nacre am südlichen Ufer der kleinen Insel, die Circe bezeichnet hatte, und setzten ihren Weg über Land fort. Sie waren leise und vorsichtig, um die erwarteten Vögel nicht zu erschrecken. Jeder von ihnen harte einen von Vegs neuen Knüppeln bei sich, für alle Fälle.
Es gab keine Aufregungen. Die Insel war nicht mehr als der seit langem erodierte Gipfel eines uralten Vulkans, der mit Föhren und Kiefern bewachsen und von tiefem Wasser umgeben war. Nichts deutete auf große Reptilien hin, obgleich es einige Spuren von Schnabeltieren gab. Die menschliche Gruppe überquerte das Land ohne Vorkommnisse bis zur Nordseite und entdeckte eine kleine Halbinsel nebst Bucht.
Ein anderthalb Meter großer Vogel stand an der Landzunge der Halbinsel Wache. Veg marschierte auf ihn zu, stieß seinen Knüppel nach vorne.
»Buh«, sagte er.
Der Vogel kreischte nicht und flatterte auch nicht davon, wie Veg offenbar erwartet hatte. Er spreizte seine Flügel, die für seine Größe ziemlich klein waren, und schlug mit seinem großen, gekrümmten Schnabel nach dem Stecken. Als Veg zurückwich, hob der Vogel ein kräftiges Bein hoch in die Luft.
»Vorsicht, Veg«, rief Cal gedämpft.
»Das ist der, den wir suchen, und er ist gefährlich. Er ist ein Räuber - ein Killer. Sieh dir diesen Schnabel an, diese Krallen, diese Muskeln. Er könnte einen Menschen mit einem einzigen Hieb dieses Fußes verkrüppeln.« Veg war zu demselben Schluß gekommen. Er ließ den Knüppel vorschnellen und traf den Vogel mitten auf seinen langen Hals. Der Vogel wich schmerzerfüllt einen Schritt zurück.
»Oh«, rief Aquilon aus und legte ihre Hand an den eigenen Hals. Sie wollte nicht, daß der Vogel verletzt wurde, besonders dann nicht, wenn er so selten und bedeutsam war, wie Cal angedeutet hatte. Das war er natürlich nicht; er konnte es nicht sein. Aber er war auf seine Art ein bemerkenswerter Vertreter.
Sie blickte an ihm vorbei und erspähte den zweiten Vogel, der auf einem Felsen am Wasser kauerte. Schlimmer und schlimmer - das mußte die Partnerin des Stehenden sein, auf ihrem Nest sitzend. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie längst gekommen, entweder um dem Männchen zu helfen oder um gemeinsam mit ihm zu flüchten. Die Tatsache, daß sie an Ort und Stelle blieb, bedeutete, daß sie Eier zu schützen und zu wärmen hatte.
Die Menschen waren Eindringlinge in einen Nistplatz, Störenfriede. Aber Veg hatte das jetzt auch erkannt. Verlegen zog er sich zurück.
»Tut mir leid, Freund«, sagte er. »Wußte nicht, daß dies dein Zuhause ist. Dachte, du wolltest mir nur in die Quere kommen. Tut mir leid.«
Der Vogel beobachtete ihn, unsicher dastehend, den Hals dort, wo er getroffen worden war, schräg haltend. Der zweite Vogel beobachtete ebenfalls, vom Nest aus.
Beim Zurückgehen hatte Veg vergessen, wo er war. Er trat neben den schmalen Steg und kippte wunderschön um, als sein Fuß Wasser berührte. Der Knüppel flog in die Luft, als er mit wedelnden Armen hineinfiel. Es gab ein gewaltiges Klatschen.
Aquilon konnte sich das Lachen nicht verbeißen. Der Wechsel von der Krise zur Schimpflichkeit war zu schnell gekommen. Dann, um Ausgleich bemüht, ging sie zum Steg hinüber, um zu sehen, welche Hilfe sie anbieten konnte. - Circe stand ein paar Meter abseits, beobachtend, aber nicht teilnehmend. Was war dem Manta durch den Kopf gegangen, als er diese Farce beobachtete? Der männliche Vogel starrte auf die Szene, bewegte sich aber ebenfalls nicht. Als Veg heraustorkelte, tropfend, und Aquilon ihm half, entknotete er seinen Hals und beugte sich nieder, um forschend nach dem zurückgelassenen Knüppel zu picken.
Die menschliche Truppe zog sich zurück. Der Manta- Beobachter verschwand. Der Vogel blieb an der Landzunge der Halbinsel, bis der Kontakt abbrach. Aquilon hielt sich gerade lange genug zurück, um sein stolzes Porträt zu zeichnen.
Sie kampierten wieder auf dem (abgedichteten) Floß, das südlich von der Insel ankerte. Sie verzehrten ihr jeweiliges Abendessen, ohne sich dabei zu unterhalten, und legten sich gemeinsam in der Kabine nieder, als es dunkel wurde.
»Dieser Vogel ist intelligent«, sagte Cal.
»Ich hatte das schon aufgrund seiner Jagdgewohnheiten vermutet. Habt ihr beobachtet, wie er reagiert? Keine von den blinden animalischen Instinkten. Er studierte uns genauso aufmerksam, wie wir ihn studierten.«
»Ich wünschte, du hättest mir gesagt, daß dies der Vogel war, den wir suchten«, beschwerte sich Veg. »Da stand ich also und versuchte, ihn wegzujagen - ich dachte, du wolltest irgendeinen Giganten!«
Aquilon verbiß sich ihr Lachen. Die unvorhersehbaren Probleme der Kommunikation! Veg mußte sich einen Vogel, dessen Proportionen sich an der Größenordnung von Brachiosaurus orientierten, vorgestellt haben! Der sagenhafte Roc.
Dann dachte sie an etwas anderes. »Woher wußtest du, wie er jagt?« wollte sie von Cal wissen.
»Ich folgte natürlich seinen Spuren.« Sie hörte, wie sich Veg sein eigenes Lachen verbiß - auf ihre Kosten. Sie hatte das Offensichtliche genauso wie er übersehen.
»Ich verlor die Spur im Marschland«, fuhr Cal fort. »Aber ich lernte genug, um zu der Überzeugung zu kommen, daß der Verursacher der Klasse Aves ungefähr genauso ähnelt wie der Mensch der Klasse Mammalia. Das war bedeutsam. Also bat ich die Mantas, auf ihn zu achten.«
»Jetzt gibt er's mir«, murmelte Aquilon ergrimmt. Natürlich würde ein wirklich intelligenter Vogel eine ganz andere Sache sein. Sie hatte, wie Veg, nur in Größenmaßstäben gedacht, und es war Cal nicht in den Sinn gekommen, daß sie ihn beide mißverstanden hatten.
»Nun, da ich ihn gesehen habe, bin ich mir fast sicher«, sagte Cal enthusiastisch. »Keine solche Kreatur trat auf der Erde in den Perioden des Mesozoikums oder sogar des Känozoikums auf. Dies ist die Erde - aber eine Parallelerde, nicht unsere eigene. Sehr ähnlich, aber mit gewissen definitiven Unterschieden in der Entwicklung. Und es gibt eine Verschiebung in der Zeit, so daß diese Welt ungefähr siebzig Millionen Jahre hinter unserer eigenen hinterherläuft, geologisch. Vielleicht gibt es eine unendliche Anzahl von Parallelwelten, jede um einen Augenblick in der Zeit verschoben anstatt physikalisch entfernt. Unsere Verbindung kam zufällig zu dieser speziellen Alternativwelt, Paläo, zustande - eine absolut willkürliche Wahl. Wir hätten ebenso auf einer Welt landen können, die ein einziges Jahr entfernt ist oder fünf Milliarden Jahre.«
»Oder auf einer, die vor uns liegt, nicht hinter uns«, murmelte Aquilon. Cal hatte über die Folgerungen, die genauso schwerwiegend wie bei der Zeitreise sein mochten, nicht gescherzt. Welche Büchse der Pandora öffnete sich der Menschheit durch diese Entdeckung?
»Es könnte möglich sein, die ganze Geschichte unserer eigenen Erde zu verfolgen, indem man ganz einfach die aufeinanderfolgenden Alternativwelten beobachtet, wenn der Schlüssel zu ihrer kontrollierten Entdeckung einmal perfektioniert ist. Aber in der Zwischenzeit haben wir die Freiheit, diese spezielle Welt zu unserem Vorteil zu manipulieren, da wir jetzt wissen, daß kein Paradox im Spiel ist.«
Diese Ausdrucksweise hatte etwas an sich, das Aquilon nicht gefiel.
»Ich weiß nicht, was du meinst, Freund, aber es hört sich nicht gut an«, sagte Veg. »Was willst du mit Paläo tun?«
»Nun, natürlich der menschlichen Kolonisation öffnen. Paläo ist ideal für die Überbevölkerung der Erde. Gleiche Schwerkraft, gutes Klima, erstklassige Atmosphäre, unberührte Rohstoffquellen, wenige Feinde - abgesehen von gewissen Reptilien dieser einen Enklave und vielleicht von einigen verstreuten anderen. Diese hier könnte als Zoo bewahrt werden; sie wird für die Forschung einen unschätzbaren Wert haben.«
»Kolonisieren?« Aquilon gefiel dieser Wortlaut kein bißchen besser als Veg. »Dies ist eine unabhängige Welt. Wer sind wir, daß wir sie nach unserem Belieben übernehmen?«
»Wir sind Menschen, gattungsmäßig. Wir müssen die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen. Etwas anderes zu tun, wäre unrealistisch.«
»Laß mich das mal klarstellen«, sagte Veg in seiner gespielt einfältigen Art. Sie konnte die Anspannung seines Körpers spüren, als er neben ihr lag. »Du sagst, wir sollen einen Bericht abgeben, der besagt, daß Paläo okay ist, Leute hereinzulassen, ihn zu besiedeln und ihn genau wie die Erde zu machen. Und wenn ein paar Vögel oder Echsen in die Quere kommen, ist es ihr Pech?«
»Nun, für die Fauna sollten Vorkehrungen getroffen werden. Ich würde kein Genozid gutheißen, schon gar nicht in einem so schönen paläontologischen Laboratorium wie diesem. Aber abgesehen davon ist deine Zusammenfassung grundsätzlich zutreffend. Dies ist ein Wildnisgebiet, und die Erde braucht es dringendst. Es wäre ein Verbrechen gegen unsere Spezies, es brachliegen zu lassen.«
»Aber der Vogel«, protestierte Aquilon, deren Herz zu heftig schlug. »Du sagst, er ist intelligent. Das bedeutet, Paläo ist im technischen Sinn bewohnt.«
»Intelligent für Aves: Vögel. Das kann nicht an die menschliche Fähigkeit heranreichen. Aber ja, es ist am wichtigsten, daß dieser. dieser Ornisapiens bewahrt und studiert wird. Er.«
»Orn«, sagte Veg, wieder einmal vereinfachend. »In einem Zoo.«
»Nein!« rief Aquilon. »Das ist nicht das, was ich meinte. Das würde ihn umbringen. Wir sollten ihm helfen, nicht.«
»Oder ihn wenigstens in Ruhe lassen«, sagte Veg. »Er ist ein anständiger Vogel; er hat mich nicht angesprungen, als er die Chance dazu hatte, noch dazu, nachdem ich ihn mit dem Knüppel geschlagen hatte. Wir brauchen ihn nicht einzusperren oder ihm zu helfen, sondern ihn bloß lassen. Sie alle lassen. Das ist der Weg.«
»Wir scheinen«, bemerkte Cal, »eine Vielzahl verschiedener Meinungen zu haben. Veg hat das Gefühl, daß wir uns nicht zum Richter über die Spezies von Paläo aufschwingen dürfen, weder um ihnen beizustehen, noch um sie auszurotten.«
»Das ist es, was ich fühle«, stimmte Veg zu.
»'Quilon hat das Gefühl, daß der Vogel Beistand verdient, wegen seiner offensichtlich einzigartigen Entwicklung als eine Kreatur, die sich von irdischen Gattungen unterscheidet. Offenbar ist Orn hier nicht alltäglich und könnte in Gefahr sein, auszusterben.«
»Hm«, stimmte Aquilon zu. Cal war der gefährlichste von allen Widersachern: einer, der sich Mühe gab, die Position seines Gegners zu verstehen.
»Während ich das Gefühl habe, daß die Bedürfnisse unserer eigenen Spezies Vorrang haben müssen. Es ist ein Dekret der Natur, daß die Stärksten im Wettbewerb überleben, und wenn der Mensch diese Welt von einem winzigen Brückenkopf im Pazifik aus kontrollieren kann, dann verdient er es und ist dazu aufgerufen. Die Tatsache, daß die Tiere hier denen aus unserer eigenen Vergangenheit ähneln, ist ohne Belang; unsere Spezies braucht Raum, um sich auszudehnen.«
»Lebensraum«, flüsterte Aquilon kurz und knapp.
»Adolf Hitlers Redewendung«, sagte Cal, sofort auf die Anspielung eingehend, wie sie es erwartet hatte.
»Aber er gebrauchte sie als üblen Vorwand zur Eroberung.«
»Tun wir das nicht?«
Cal zuckte in der Dunkelheit die Achseln.
Sie spürte, wie sie sich erregte. »Nehmen wir an, eine andere Spezies - vielleicht eine fortgeschrittene Version von Orn hätte genauso über unsere eigene Erde gedacht«, meinte sie. »Nehmen wir an, sie wären gekommen, als wir noch affenartige Primaten waren, und hätten eine überlegene Technologie angewandt, um uns zu vertreiben.«
»Wir hätten es verdient. Wir sind jetzt noch affenartige Primaten.«
»Vielleicht sollten wir abstimmen«, sagte Veg.
»Kein Problem«, sagte Cal. »Seid ihr bereit, Man- tas?«
Vom Dach kam ein Tappen - die Berührung eines Mantaschwanzes auf dem Holz. Aquilon war verblüfft, obgleich sie es nicht hätte sein sollen. Sie waren vermutlich nach Eintritt der Dunkelheit gekommen, hatten die ausströmenden Schallwellen beobachtet und auf diese Weise die ganze Unterhaltung mitbekommen. Cal war sich der Zuhörer sicherlich bewußt gewesen und schien Vertrauen in das Ergebnis zu setzen. Wieso?
Veg war ebenfalls still, rang vermutlich mit ähnlichen Sorgen. Wie, fragte sie sich hastig, würde der Manta- verstand diese Krise sehen? Sie sahen die Dinge unter den Bedingungen ihres eigenen Nacre-Rahmens, ihres Manta-Rahmens - Karnivore, Omnivore und Herbivore -, wobei falsch und richtig dadurch interpretiert wurden. Vegs Vegetarismus war der ursprüngliche Schlüssel zum Kontakt mit diesen Kreaturen gewesen, da sie ihn theoretisch als schutzbedürftig vor dem Omnivoren der Gruppe angesehen hatten: vor ihr. So simpel war es nicht, hatte Cal behauptet, aber als Analogie reichte es aus. Natürlich war sie vom Typ des Omnivoren zum Typ des Herbivoren übergewechselt, während sich Cal vom Karnivoren zum Omnivoren gewandelt hatte; offenbar kannten die Mantas die Verhaltensweisen der Menschen jetzt gut genug, um diese Veränderungen zu akzeptieren. Alle Menschen waren echte Omnivoren, gleichgültig welche Diät sie im Augenblick zu sich nahmen; die brutale Natur des Menschen definierte ihn.
»Was fressen Vögel?« erkundigte sich Veg.
Es war eine einfältige Frage, und keiner antwortete. Veg wußte, was Vögel fraßen; er war ein älter Vogelbeobachter. Komisch, wurde ihr jetzt bewußt, daß er Orn so brüsk behandelt hatte. Vielleicht identifizierte er sich nur mit kleinen Vögeln, den saatfressenden, fliegenjagenden Sorten. Als Spezies waren die Vögel natürlich omnivorisch.
Omnivorisch.
Die Frage war keineswegs einfältig gewesen. Plötzlich wußte sie, wie die Manta-Abstimmung aussehen würde. »Nein«, sagte sie und versuchte, das Beben in ihrer
Brust zu kontrollieren. »Nicht abstimmen.«
»Warum nicht?« fragte Cal sie. Er wußte um seinen Vorteil und verfolgte ihn trotz seiner milden Worte rücksichtslos. Körperlich war er klein, geistig jedoch ein Gigant - und das galt sowohl für Disziplin als auch für Intelligenz.
»Es ist zu wichtig«, sagte sie, sich verstellend und in dem Bewußtsein, daß sie nicht gegen ihn ankommen konnte und daß Veg sogar noch wirkungsloser sein würde als sie. Cal hatte den Verstand und die Stimmen. »Zuerst ging es nur darum4, wohin wir als Gruppe gehen sollten, keine wirklich kritische Entscheidung. Diesmal geht es um das Schicksal einer ganzen Welt. Unserer Welt oder einer, die ihr sehr gleicht. Das ist nicht Sache der Mantas.«
Sie sah den Haken in der Falle und bemühte sich, ihm zu entgehen. »Kolonisation würde Paläo, so wie er ist, zerstören, das weißt du. Sie würden entscheiden, daß die Dinosaurier eine Bedrohung für die Touristen, für die Navigation oder für sonst irgendwas sind, und sie ausrotten. Also können wir eine solche Frage nicht unter uns entscheiden.«
»Ich hatte eigentlich nicht vorgeschlagen, daß wir dies tun sollten«, erwiderte Cal ruhig. »Wir haben lediglich einen ehrlichen Bericht für die Behörden der Erde zu verfassen und sie entscheiden zu lassen.«
»Aber sie sind Omnivoren«, rief sie, wohl wissend, daß sie damit einen unehrlichen Bericht befürwortete. Omnivore - sie meinte das als eine Beschreibung des Charakters, nicht der Diät. Die Omnivoren des Planeten Nacre waren absolut barbarisch, wirklich ohne Eigenschaften, die für sie sprachen - aus ihrer Sicht. Dies stand im Gegensatz zu den harmlosen Herbivoren und den tödlichen, aber disziplinierten Karnivoren. Der Ausdruck >Omnivore< war für sie etwas geworden, das al- les Verabscheuungswürdige im Leben repräsentierte. Der Mensch war ein Omnivore und hatte seine Sinnesverwandtschaft mit der Nacre-Brut bereits demonstriert. Jene erbarmungslose Aktion auf der Erde selbst, die dazu gedient hatte, potentiell gefährliche Pilzsporen auszumerzen.
»Das ist Orn auch«, sagte Cal. »Das ist nicht das, was ich meinte«, rief sie aus, wütend, weil sie in die Verteidigung gedrängt war.
»Du bist emotionell statt rational.«
»Ich bin eine Frau!«
Lastendes Schweigen kam auf.
Cal hatte recht, aber sie wußte, daß er unrecht hatte, ethisch. Cal hatte sich in dem Augenblick gegen Paläo entschieden, in dem er sich davon überzeugt hatte, daß es sicher war, dies zu tun. Die Mantas würde es nicht kümmern. Die Behörden der Erde würden sich nur für die Ausbeutung der natürlichen Rohstoffquellen und das vorübergehende Nachlassen des Bevölkerungsdrucks interessieren. Sie würden es unbedingt vorziehen, eine weitere Welt zu verwüsten, anstatt das Mißmanagement der ersten abzustellen. Es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte.
»Ich kann mich daran nicht beteiligen«, sagte sie schließlich. Sie .ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch aus der Kabine, die Männer getrennt durch eine frauengroße Lücke liegen lassend. Sie war angezogen; die Feinheiten der zeitgenössischen Konventionen waren hier, spaßig.
Sie stand im sanften Nachtwind an Bord des Floßes und blickte über das mondbeschienene Wasser zu der Insel hinüber. Große fliegende Insekten schwebten über ihrem Kopf und versuchten, sich auf ihr niederzulassen. Sie riß ihre Haube hoch und machte das Maschengitter vor ihrem Gesicht fest, klatschte es dabei gegen die
Seiten ihres Kopfes, um es von eingefangenem arthro- podischem Leben zu befreien. Dann zog sie ihre Handschuhe an, so daß kein Stück ihrer Haut mehr frei lag. Die Nacht war warm, und die Beengtheit ließ es ihr heiß werden, aber das war besser, als sich dem Appetit der Geflügelten auszusetzen.
Es war töricht, es war grausam - aber es würde noch schlimmer sein, mit der genozidalen Mehrheit gemeinsame Sache zu machen. Sie war Zeuge der Methoden des Menschen auf der Erde gewesen und konnte den Gedanken an die Vergewaltigung von Paläo nicht ertragen, die sicherlich bevorstand. So mußte sie also ihren eigenen Weg gehen, was auch immer dies bedeuten mochte. Sie blickte über das schwarze Wasser hinweg. Sie würde schwimmen müssen. Das würde sie wenigstens abkühlen! Es bestanden Chancen, daß keine großen Seeräuber in der Nähe waren. Die Reptilien schienen im allgemeinen nachts nicht aktiv zu sein, und ihre Größe hielt ihre Zahl gering. Dennoch zögerte sie, innerlich auf traurige Weise verwirrt. Sie versuchte sich einzureden, daß dem so war, weil sie Ichthyosaurus als Nachtjäger kannte, wegen jener kürbisgroßen Augen. aber es war die Trennung von denjenigen, die sie als lebenslange Freunde angesehen hatte, die sie wirklich in Schrecken versetzte. Wie konnte sie zurückkehren, wenn sie einmal diesen Bruch herbeigeführt hatte?
Das Scharren einer anderen Person, die sich durch das Kabinennetz arbeitete, wurde laut, und Veg stand neben ihr.
»Besser deinen Weg als seinen«, sagte er.
Sie verspürte eine erstickende Welle der Dankbarkeit ihm gegenüber. Sie hatte ihre Entscheidung allein getroffen, nichts von der seinen ahnend. Das Band zwischen den beiden Männern war stark, wie sehr sie sich im Temperament und in der Physis auch unterscheiden mochten. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, was sie auf sich gestellt tun würde.
»Wir werden schwimmen müssen«, sagte er, ihren eigenen Gedanken wiederholend. »Du wolltest zu den Vögeln, nicht wahr?«
So weit im voraus hatte sie nicht geplant, aber es schien zu passen. Tatsächlich hatte das Schisma mit den Vögeln angefangen.
Sie berührte seinen Arm, da sie in Hörweite Cals nicht sprechen und auch nicht gestikulieren wollte, weil sie wußte, daß die Mantas aufpaßten. Cal war das schwächste Mitglied der Gruppe (physisch!), und das Floß erforderte Muskelkraft, um bewegt zu werden. Muskelkraft konnten die Mantas nicht zur Verfügung stellen. Indem sie ihn verließen, setzten sie ihn aus.
»Ich werde am Morgen nachsehen«, sagte Veg. »Wir werden es regeln.« Er tauchte ins Wasser und rief einen phosphoreszierenden Spritzflecken hervor. Erleichtert folgte sie ihm.