X Veg

 

Es war eine wahrhaft ehrfurchtgebietende Gebirgskette: narbige Vulkankegel, die so dicht nebeneinander standen, daß sie eine scheinbar massive Wand bildeten, die sich bis ins Meer erstreckte. Die Dunstwolken ließen vermuten, daß sich die vulkanische Aktivität auch unter Wasser fortsetzte, und es gab nur wenige Fische.

»Ich verstehe das nicht«, lamentierte Cal. »Dies sollte ungefähr die Gegend sein, in der Niederkalifornien aufhört oder aufhören wird - auf unserem Globus. Diese Formation, um es euphemistisch zu sagen, ist atypisch.«

Veg steuerte die Nacre in tiefes Wasser, unberührt von diesem Aspekt. Er begriff, warum sich die Mantas nicht mit dieser Region abgegeben hatten: Es war pures Ödland.

Den Bergen schlossen sich viele weitere aktive Kegel an. Ein fast undurchdringlicher Nebel aus Gas und Asche verhüllte Teile des Ufers. Danach kam Wüste, von gezackten Erdspalten durchzogen. Sie legten mit dem Floß nur an, um die trostlose Landschaft und seltsam übelriechenden Wolken zu betrachten, und berührten das Land nicht.

An einer Stelle drehte sich der Wind und trieb die Nacre weit aufs Meer hinaus, bevor er sie zurückmanövrieren konnte. Der Gestank war abstoßend. Sie mußten sich die Hemden über den Kopf ziehen, um die stechenden Partikel von Augen und Lungen fernzuhalten. Die vier Mantas drängten sich in der Kabine zusammen und fühlten sich nicht wohler, obwohl sie natürlich nicht zu atmen brauchten.

Nach Tagen und Nächten tauchte eine weitere Gebirgskette auf, noch massiver und beeindruckender als die erste. Ihre ozeanische Barriere erstreckte sich weiter nach draußen und wurde zu mächtigen Riffen mit puzzleartigen Spitzen, die sich durch die Wasseroberfläche bohrten. Es sah so aus, als ob groteske Statuen auf dem Wasser standen und Jesus Christus verspotteten. Zweimal hing die Nacre fest und zwang sie auszusteigen. Bis zu den Hüften in der sandigen Flüssigkeit, mußten sie das Floß freikämpfen. Aber es gab ein paar Fische hier, auch Korallen und Krebse und Muscheln. Sie mußten im Wasser zu Vegs Mißfallen Schuhe tragen, denn die Fische hatten Zähne, die Krebse Schalen, und die Korallen waren scharfkantig.

»Aber wo es Leben gibt, da gibt es auch Hoffnung«, sagte Aquilon.

Veg fand das nicht sehr lustig, aber er mußte ihr zustimmen, daß ein bißchen Meeresleben besser war als keins.

Schließlich entdeckten sie tiefes Wasser, harten das Floß aber buchstäblich über eine letzte Sandbank zu tragen. Das Floß reichte auch ohne ihr Gewicht und das der Mantas zu tief nach unten, um das Navigieren leicht zu machen, und es knirschte furchtbar, wenn man es per Hand zog. Das Palmholz hatte sich mit Wasser vollgesogen, und das machte es noch schlimmer. Veg mußte untertauchen und den Kiel entfernen, aber auch so blieb das Floß an jedem denkbaren Riffsegment hängen. Er stemmte seine Füße gegen den felsartigen Korallenboden und zerrte an dem Frontseil, während Cal und Aquilon mit den Paddeln stocherten.

Obwohl er voll beschäftigt war, konnte er nicht verhindern, Aquilons Anatomie zu bemerken, als sie sich mit dem Floß abmühte. Ihre wohlgeformten Beine waren vom Wasserspiegel bis zu ihren kurzen Shorts nackt, und ihre Mittelpartie lag . ebenfalls frei. Ihr Busen spannte sich, als sie die Arme bewegte, jede Brust ein lebendes Wesen, das sich gegen den Halter drängte. Ihr blondes Haar war zurückgebunden, aber mehrere lange Strähnen hatten sich befreit und flogen nun unberechenbar vor ihrem Gesicht hin und her.

Ah, sie war reizend jetzt, viel mehr als das eine Mal nach der Landung, wo sie mit ihrer Nacktheit Eindruck gemacht hatte. Kleider machten die Frau, nicht den Mann, denn sie unterstützten und verbargen und betonten und ließen die Geheimnisse da, wo Geheimnisse hingehörten. Nicht daß sie nackt unattraktiv war. Oh, nein! Aber jetzt. Jetzt hatte er das Bedürfnis, durch das Wasser zu jagen, sie in ganzer Größe hochzuheben und. Und nichts. Mit Aquilon mußte alles auf freiwilliger Basis geschehen. Die bloße Berührung ihrer Finger an seinem Arm bedeutete ihm mehr als die leidenschaftlichste Umarmung jeder anderen Frau, die er jemals gekannte hatte. Ihr Lächeln ließ seinen Atem stocken, obgleich er sie längst vor ihrem ersten Lächeln geliebt hatte. Sogar damals auf dem Planeten Nacre, wo sie den schockierenden Gesichtsausdruck gehabt hatte, der aussah, als ob ihre Muskeln falsch miteinander verbunden waren - selbst damals hatte ihn der Schrecken nur deshalb gepackt, weil ihm etwas an ihr lag. Tatsächlich schien es unwahrscheinlich, daß es eine Zeit gegeben haben könnte, in der.

Das Floß löste sich von dem unbekannten unterseeischen Hindernis, an dem es festgehangen hatte, und Veg taumelte vorwärts ins tiefe Wasser. Er ließ das Seil los und machte Mund und Augen zu, als er aufschlug. Das warme Wasser zerrte an seiner Kleidung, und die gespeicherte Luft holte ihn augenblicklich an die Oberfläche zurück, bevor es mit einer peinlichen Blase aus seinem Hemd entwich.

Für einen Augenblick öffnete er unter Wasser die Augen. Es war hier ganz klar.

Ein riesiger Fisch kam auf ihn zu. Er ähnelte einem Schwertfisch, aber er hatte eine Flosse auf dem Rücken wie die eines Hais, und seine Augen waren so groß wie ein menschlicher Kopf. Die Kreatur war gut sieben Meter lang, schlank, schnell und stark. Veg schnellte sich in einer Weise aus der Tiefe auf das Riff, an die er sich später nie wieder erinnern konnte. Er stand an der Trennlinie und zeigte benommen hinüber.

Der Fisch durchbrach die Wasseroberfläche und sprang zum Teil in die Luft, wobei sich sein mächtiges Nasenbein öffnete und viele kleine Zähne freilegte. Dunst stieg aus einem Atemloch über den Augen empor.

»Das ist kein Delphin«, rief Aquilon erstaunt.

Cal stand mit offenem Mund! Veg hatte den kleinen Mann noch nie so überrascht gesehen.

Die Kreatur verschwand so schnell, wie sie gekommen war, ohne einen Angriffsversuch zu starten. Veg fühlte sich weich in den Knien. Dieses tellergroße Auge! »Habe noch nie einen solchen Fisch gesehen«, sagte er unsicher.

»Fisch?« Cal erwachte aus seiner Erstarrung.

»Hast du ihn nicht gesehen? Mit dem Rachen und den.«

»Das war Ichthyosaurus!« sagte Cal, als sei es unge- heuer bedeutsam.

Jetzt begann Aquilon zu reagieren.

»Das Reptil?«

»Das Reptil.«

Veg stellte fest, daß es da etwas gab, das ihm entging, aber er wartete, bis die Nacre wieder beladen war und sie wieder unterwegs waren, bevor er darauf zurückkam.

Die tückischen Riffe umschlossen ein ziemlich flaches Meeresbecken von etwa fünfzig Kilometern Durchmesser. Zwei große Inseln, die voneinander durch einen anderthalb Kilometer breiten Kanal getrennt wurden, befanden sich darin. Sie waren gebirgig. Auf beiden ragten häßliche schwarze Kegel in den Himmel, von denen der eine gelbbraunen Rauch ausstieß.

»Scylla und Charybdis«, murmelte Aquilon. »Laßt uns drumherum fahren.«

Veg steuerte gehorsam nördlich, um Scylla an der Westküste zu passieren, und nahm dabei Kurs aufs Land. Der wieder angebrachte Kiel war nicht sonderlich stabil, aber das Wetter in dieser Bucht war mild, und er hatte keine Schwierigkeiten. Ungefähr fünf Kilometer trennten die Insel vom Land, und auf beiden Seiten gab es kleine weiße Strände, denen sich Dschungelgewirr anschloß. Nahe am Wasser standen hohe Baumfarne, aber landeinwärts, an den Berghängen, konnte Veg das satte Grün von Kiefern und Tannen erkennen. Es war leicht dunstig, und er mußte in regelmäßigen Abständen niesen.

»Viel Blutenstaub in der Luft«, erklärte Cal.

»Da wir gerade beim Thema sind«, sagte Veg. »Was stimmt nicht mit dem Fisch, der ein Reptil ist?«

Aquilon blickte Cal an. »Er hat soeben die Wette mit den Dinosauriern gewonnen, aber er weiß es noch nicht!«

»Habe ich?« fragte Veg. »Alles, was ich gesehen habe, war ein großäugiger Fisch, dunkelgrau mit hellgrauem Bauch und einer Schnauze, die mich fast gerammt hätte. Und ihr.« Cal sah ernst aus. »Nichtsdestoweniger zwingt uns seine Gegenwart zu einem beträchtlichen Umdenken.«

»Der komischste Dino, den ich je gesehen habe. Wie lange, sagst du, sind sie schon tot?«

Aquilon streckte die Hand aus, um sein verfilztes Haar zu zerzausen. Sie wenigstens war entspannt. »Ausgestorben ist das Wort, nicht tot. Und es ist siebzig Millionen Jahre her, auf der Erde. Die Dinosaurier starben am Ende des Kretazän aus.«

»Also sind sie hier seit fünf Millionen Jahren verschwunden. Wir haben noch keinen gesehen, und vielleicht werden wir auch keinen sehen, wenn wir nichts ins Bordelzän zurückgehen.«

»Kretazän«, sagte Cal, der den weit hergeholten Scherz nicht mitbekommen hatte, ein weiteres Zeichen dafür, daß der Mann schwer erschüttert war. »Der Name kommt von dem lateinischen Wort Creta, was Kreide bedeutet. Also die Kreidezeit. Kreidefelsen wie die weißen Klippen von Dover.«

»Die Dinosaurier waren also voll von Kreide«, sagte Veg und fragte sich, wie weit er das Spiel noch treiben sollte. »Sie brauchten sie in ihren großen Knochen, nehme ich an.«

»Ich fürchte, das stimmt nicht so ganz. Die Kreide kommt von den Skeletten von Milliarden einzelliger Tiere, den Foraminiferen, die in flachen Meeren lebten. Aber tierische Kreidelager sind kaum mehr als eine Episode in der siebzig Millionen langen Geschichte der Kreidezeit.«

Veg blieb ernst. »Auf der Erde vielleicht. Aber dies ist nicht die Erde.«

»Aber sie ist es«, murmelte Aquilon. »Die Erde des Paläozän. Dämmerung des Zeitalters der Säugetiere.«

»Ich weiß, was Säugetiere sind«, sagte er und blickte auf ihren Busen.

»Zitzen«, sagte sie ohne Verlegenheit. »Typisch für die Säugetiere.«

»Deren Hauptmerkmal das. Haar ist«, fügte Cal hinzu und unterdrückte ein Lächeln.

Veg ging nicht darauf ein, erkannte aber, daß Cal seine Bestürzung überwunden hatte. »Wenn es also Dinosaurier gibt, dann würde dies hier Kreta und nicht Pa- läo sein. Was ist nun mit diesem berühmten Fisch?«

»Cal hat es gerade erklärt«, sagte Aquilon. »Es ist kein Fisch. Es ist ein Ichthyosaurus - ein schwimmendes Reptil. Seine Vorfahren lebten an Land, und es atmet Luft.«

»Genau wie ein Krokodil. Was beweist das?«

Cal übernahm. »Ichthyosaurus ist ein Angehöriger der Klasse Reptilia, Ordnung Ichthyosauria - die schwimmenden Reptile. Man sieht ihn nicht als einen Dinosaurier an. Die Dinosaurier sind tatsächlich eine gelungene Mischung von zwei Ordnungen der Reptile, den Saurischia und den Ornithischia, also volkstümlich Eidechsen und Vögel. Sie waren in erster Linie Land- und Sumpfbewohner.«

»Irgendwie bist du meiner Frage ausgewichen. Icky ist kein Saurier, so wie ich mir das dachte. Gut. Jetzt sag mir also, warum du es für so bedeutsam hälst, dieses Fischreptil. Was hat es mit den Dinosauriern zu tun?«

»Jetzt hat er dich«, sagte Aquilon zu Cal.

»Sie waren zeitgenössische Erscheinungen. Die Kreidezeit war der Zenit der reptilischen Ausbreitung. Nahezu alle Arten florierten zu dieser Zeit - und nahezu alle starben vor dem Paläozän aus. Der Ichthyosaurus ging schon vor einer Anzahl der landbewohnenden Arten dahin, also.«

»Wenn also Icky noch hier ist, dann sind es auch die Dinos«, sagte Veg. »Jetzt begreife ich den Zusammenhang. Es ist so, als würde ein Dinosaurier seinen Kopf über den Berg strecken.«

»Natürlich muß daraus nicht zwangsläufig folgen.«

»Oh, nein. Ich bin froh, daß es folgt. Geschieht dir recht!«

»Aber versteh doch, dies ist das Paläozän«, sagte Cal. »Die Meeresfauna und alles, was wir an Land beobachtet haben die Evolution der anderen Spezies ist samt und sonders eindeutig. Dinosaurier haben hier keinen Platz, überhaupt keinen Platz, es sei denn.«

»Es sei denn?« Sowohl Aquilon als auch Veg waren neugierig.

»Es sei denn, es gibt eine Enklave. Ein isoliertes Überbleibsel der Kreidezeitfauna - zum Aussterben verdammt, aber ihre Zeit um ein paar Millionen Jahre überlebend. Jene Meeresreptilien, die sich von Fischen oder Belemniten ernähren, mögen überdauern wie dieser spezielle Ichthyosaurus, dem wir begegnet sind, aber nicht jene, die sich auf Ammoniten spezialisiert haben. Warum es allerdings keine Fossilien geben soll.«

»Es könnte auf der Erde geschehen sein«, sagte Aquilon. »Wir können immer noch ein Fossilienbett unter Wasser finden, das beweist.«

»Runter!« flüsterte Veg scharf.

Sie gehorchten augenblicklich und brachen die Unterhaltung ab. Schweigend folgten sie seinem Blick.

Sie waren dabei gewesen, die grüne Biegung der Insel Scylla zu umrunden, wobei Veg das Floß mit der Stange vorwärtsbewegte. Stehend hatte er das beste Blickfeld, weshalb er es zuerst gesehen hatte. Aber es ließ sie alle zusammenzucken. In dem Schweigen blickte einer der Mantas um die schattige Seite der Kabine herum: Hex, der auch etwas zu sehen bekam.

Es war ein gewaltiger schlangenartiger Hals, der zuerst so aussah, als sei er kurz unterhalb des Kopfes abgetrennt worden. Die Säule ragte fünf Meter weit aus dem Wasser und war kaum mehr als dreißig Meter von dem Floß entfernt. Der Hals war glatt und rund und lief leicht spitz zu, und als Veg ihn näher betrachtete, stellte er fest, daß er in einem Kopf endete, der kaum größer war als der schmälste Durchmesser des Halses selbst. Ein Auge war halb unter einer Art fleischigem Kranz verborgen, und darunter befand sich eine gerundete, gerunzelte Maulöffnung. Trotz des kleinen Aussehens des Kopfes schätzte er, daß der Kiefer mehr als einen halben Meter lang war. Diese Kreatur konnte, begriff Veg, einen Mann mit drei kurzen Bissen längs verspeisen.

Dunstwolken bildeten sich über dem Kranz und deuteten auf die Lage der Nasenlöcher hin, und jetzt konnte Veg ihr schweres Atmen hören. Es mußte noch viel mehr Körper unsichtbar unter Wasser geben, denn er konnte kein Ausdehnen oder Zusammenziehen des sichtbaren Teils sehen, als die Luft ein- und austrat.

Als sie noch hinblickten, wandte sich der winzige Kopf dem Land zu, um einen Bissen schwimmenden Blattwerks aufzunehmen. Die Zähne waren Haken, die mehr klammerten als schnitten oder kauten. Die Kreatur hatte sie entweder nicht bemerkt oder betrachtete sie als nicht bemerkenswert.

Veg stakte die Nacre still rückwärts. Langsam kamen sie um Scyllas Biegung herum und gerieten aus der Sicht des Monsters, als dieses den Kopf hochhob, um zu schlucken.

»Das ist die größte Schlange, von der ich je gehört habe«, verkündete Veg, als sie die begrenzte Sicherheitsdistanz erreicht hatten.

»Keine Schlange könnte den Kopf so hochheben«, sagte Aquilon offensichtlich erschüttert. »Es sei denn, sie wäre mehr als sechzig Meter lang, und das ist unwahrscheinlich. Ich nehme an, es ist ein anderes schwimmendes Reptil. Da war eins mit einem langen Hals, nicht wahr, Cal?«

Cal lächelte mit leicht obskurer Zufriedenheit. »Ja, das stimmt, 'Quilon. Irgendein Plesiosaurus-Typ. Aber so eine Kreatur könnte kaum so still im Wasser stehen und würde keine Wasserkresse verzehren. Dies ist ein Reptil ganz anderer Art - ein echter Saurier. Wir haben nur einen kleinen Teil davon gesehen.«

Aquilon versteifte sich. »Natürlich! Die Donnerechse Brontosaurus!«

»Nein, nicht ganz. Der Kopf paßt nicht. Die Nasenlöcher des Brontosaurus befanden sich auf dem Scheitelpunkt, und ich bezweifle, daß viele von ihnen den Jura überlebt haben. Das dürfte sein späterer Vetter sein, der größte von ihnen allen: Brachiosaurus.«

»Brach«, sagte Veg und hielt sich an dem Namen fest. »Hört sich wie ein Fantasy-Held an.«

Aquilon schüttelte den Kopf, weil sie die Anspielung nicht verstand.

»Brachiosaurus. Das bedeutete >Arm-Bein<, weil seine Arme länger sind als seine Beine, sozusagen. Bei Brontosaurus war es umgekehrt. Seine Hüften waren höher als seine Schultern.«

»Ich dachte immer, Bronto wäre der größte Dinosaurier«, sagte Aquilon.

»Bronto wog etwa fünfunddreißig Tonnen. Brach dürfte fünfzig Tonnen erreicht haben.«

»Oh!«

»Ziemlich harmlos, abgesehen von Unfällen. Die Sauropoden waren Pflanzenfresser und wurden nicht wild, wenn man sie nicht reizte. Aber ihre Größe.«

»Vegetarier«, sagte Veg. »Gute Jungs. Schließen wir ihre Bekanntschaft.«

»Mit fünfzig Tonnen fast geistlosem Reptil?«

Aber Aquilon zuckte die Achseln. Wie Veg schien sie sich in gewissem Maße an Gefahren gewöhnt zu haben. Und Paläo war bisher so sicher, wie es Nacre gewesen war.

Sie näherten sich wieder, vorsichtig. Kopf und Hals waren noch da, fressend wie zuvor, und erinnerten an einen Kran, als sie auf- und niederfuhren und sichtbare Ausbuchtungen von den nach unten wandernden Grünzeugballen zeigten.

»Harmlos, hast du gesagt«, murmelte Veg. Er verlor etwas von seinem Enthusiasmus, als er so machtvoll an die Ausmaße dieser Kreatur erinnert wurde.

»Denke daran, daß die Sauropoden nicht sehr intelligent sind, wie 'Quilon schon bemerkte«, sagte Cal. »Und wie du erwähntest, sind große Vegetarier.«

». gute Jungs, die allerdings manchmal lästige kleine Karnivoren zufällig zerquetschen«, sagte Veg lächelnd.

»In diesem Zeitalter waren die Reptilien nicht zwangsläufig klein. Aber wie ich schon erklärte, mag diese Kreatur eine totale Länge von mehr als fünfundzwanzig Metern haben, und es dauert einige Zeit, bis die Nervenimpulse von einem Ende bis zum anderen.«

»Ja, das begreife ich.« Sie flüsterten jetzt, eingeschüchtert durch die Gegenwart des Giganten. »Wenn Brach also denken sollte, daß wir Nahrung sind, eine Art von neuer Rübe vielleicht, dauert es noch eine ganze Weile, bis er sich entschließt, etwas zu unternehmen.«

Aquilon war jetzt eifrig dabei, ein Porträt der Fleischsäule zu malen. »Für den Fall, daß er seine Meinung ändert und sich entschließt, keinen Bissen von uns zu nehmen, könnten wir aus demselben Grund schon halb seine Gurgel runtergerutscht sein, bevor er aufhört zu schlucken.«

Cal lächelte. »Tatsächlich könnte er frühzeitig genug aufhören zuzubeißen, da sein Gehirn den Augen und Kiefern am nächsten ist. Aber größere Bewegungen.«

Sie waren jetzt ziemlich nahe an den Kopf herangekommen, eingelullt durch dessen friedfertige und mühselige Tätigkeit. Runter. zubeißen. rauf. schlucken. und wieder von vorne.

Veg blickte in die Kabine, um festzustellen, wie die Mantas das Ganze aufnahmen, und entdeckte, daß nur noch zwei da waren. Die anderen hatten sich offensichtlich während der allgemeinen Aufregung davongemacht und nutzten vielleicht die Vorteile des gegenwärtig bewölkten Pummels. Aber er hatte jetzt keine Zeit, dem auf den Grund zu gehen. Brach war zu wichtig.

Noch näher heran - ein eindrucksvoller Anblick. Die Haut des Halses war gar nicht so glatt, sondern mit warzenartigen Knoten bedeckt, und der Kopf war voller Runzeln und Falten, deren Topologie sich bei jeder langsamen Kieferbewegung änderte. Das Maul baggerte Blätter, Stengel, Wasser und Schlamm von der Sandbank hoch und verlor während des wahllosen Kauprozesses wieder einiges davon. Brach war entweder sehr alt oder sehr häßlich. Aber das schlammige Wasser verbarg immer noch den Rest des Reptilienkörpers.

»Ich habe mal gehört«, sagte Aquilon, »daß Dinosaurier bei der Entdeckung einer Klippe vor ihnen ihre Beine erst zum Stillstand bringen konnten, als sie schon heruntergestürzt waren. So hat ihre schiere Größe zum Aussterben geführt.«

»Wie so viele Gerüchte stimmt auch dieses nicht«, sagte Cal. »Ich nehme an, daß eine Kreatur von der Größe des Brachiosaurus in einer solchen Situation aufgrund seiner Masse in vollem Galopp über die Klippe hinwegsetzen würde. Fünzig Tonnen machen nicht vor einem Fliegendreck halt. Aber Brach wäre nie in eine solche Lage geraten.«

»Warum nicht?« Veg ertappte sich bei dieser Frage, obwohl er kaum interessiert war. Dieser Dialog war lediglich eine Methode, das Unglaubliche verstehen zu wollen und die gesunde Furcht zu übertünchen. Sie redeten zu viel. Aber das Monster fraß weiter.

»Brach würde niemals so unbedarft durch die Gegend laufen. Im ausgewachsenen Zustand ist er viel zu schwer, um sich halbwegs bequem an Land bewegen zu können. Er muß im Wasser oder wenigstens doch im Sumpf bleiben, damit sein Körper Auftrieb bekommt.«

»Verstehe«, sagte Aquilon.

»Mehr noch als Bront ist Brach tieferem Wasser angepaßt«, fuhr Cal fort. »Betrachte die Lage der Nasenlöcher und die Winkelstellung des Kopfes. Aber seine Reichweite ist scharf auf das seichte Küstenwasser begrenzt. Seine Gegenwart hier, anstelle Bronts, ist ein Zeichen dafür, daß die flachen Sümpfe weniger ausgedehnt sind, als sie waren. Und das haben wir natürlich ja schon unmittelbar gesehen. Evolution ist niemals zufällig.«

»Vielleicht sollten wir weiterfahren, wenn wir es vorhaben«, sagte Aquilon leise.

»Aber alles, was wir gesehen haben, ist der Kopf«, protestierte Veg spöttisch. Fünfzig Tonnen waren zu viel, selbst wenn man davon tatsächlich nur zwei oder drei Tonnen sehen konnte.

»Das ist alles, was man normalerweise beobachtet«, sagte Cal. »Angenommen daß irgend jemand vor uns schon mal Gelegenheit dazu gehabt hat. Geben wir uns besser damit zufrieden.«

Veg war gewillt, sich überzeugen zu lassen. Er stakte das Floß in tieferes Wasser, dann griffen er und Aquilon nach den Paddeln. Sie passierten den Kopf in einer Entfernung von rund fünfzehn Metern. Veg schätzte, daß Brach in einer Wassertiefe von sieben Metern stand, und das sagte viel über seine Größe aus.

Sein Paddel traf irgend etwas.

»Hindernis«, sagte er. »Baumstamm unter der Oberfläche vielleicht. Weichen wir aus, bevor wir.«

Zu spät. Das Floß kollidierte mit dem Objekt und schüttelte sie alle durch. Veg spürte, wie der Kiel abgerissen wurde. Es würden erhebliche Reparaturen erforderlich werden.

»Riff?« fragte Aquilon und strich das Haar zurück, das ihr ins Gesicht gefallen war.

Veg stocherte mit der Stange. »Das Wasser ist tief hier. Ich finde keinen Grund.«

Er stocherte weiter vorne, um das Hindernis ausfindig zu machen.

Cal war durch den Zusammenprall stärker erschüttert worden, zum Teil, weil er physisch weniger robust war, und zum anderen Teil, weil er sich nicht an einem Paddel festhalten konnte. Außerdem mußte er, dachte Veg, geistesabwesend gewesen sein. Veg selbst war in der Lage, so etwas wie einen Dinosaurier auf Paläo zu akzeptieren, aber für Cal war dies offensichtlich viel schwerer. Der kleine Mann saß jetzt ganz still da und erholte sich, während die anderen die Lage prüften.

»Weg hier - schnell!« stieß Cal hervor.

Wieder reagierten sie auf die Weisung des bestimmenden Mitglieds ihrer Gruppe. Zuerst war es Veg gewesen, der Brach entdeckt hatte, jetzt war es Cal, gar nicht so erschöpft, wie es ausgesehen hatte. Sie hatten auf Nacre lange genug zusammengearbeitet, um nun hier auf Paläo fast intuitiv zu wissen, wann ihr Leben von augenblicklicher Kooperation abhängig war.

Als sich das Floß aufgrund des angestrengten Einsatzes der Paddel zu bewegen begann, erklärte Cal: »Das war kein Baumstamm oder Riff. Das war der Schwanz.«

Aquilon blickte auf das aufgewühlte Wasser hinter ihnen. »Der Schwanz. des Dinosauriers?«

Und wieder brachten die Ereignisse die Bestätigung. Die Spitze einer massigen, fleischigen Extremität tauchte aus dem Wasser auf und erzeugte Wellen.

Veg starrte zu dem Kopf hinüber. »Er frißt noch immer. Das kann nicht derselbe.«

Dann hörte der Kopf mit dem Kauen auf. Er hob sich und drehte sich ihnen zu, während der Schwanz wütend das Wasser peitschte.

». diese langsame Reaktionszeit«, murmelte Aquilon.

»Paddelt weiter«, sagte Cal drängend. »Er ist jetzt auf uns aufmerksam geworden. Der Schlag gegen den Schwanz muß ihm weh getan haben. Wenn er zu der Überzeugung kommt, daß wir Feinde sind.«

»Harmlos, sagtest du«, wiederholte Veg leicht ironisch.

»Oh, ich bin ziemlich sicher, daß er nicht angreifen wird. Sein natürlicher Instinkt sollte Flucht vor Gefahr sein, aber.«

»Wir haben seinen Schwanz verletzt«, sagte Aquilon.

Sie konnten es jetzt alle sehen, als sich der Schwanz über die Wellen erhob. Wässriges Blut strömte daraus hervor. Ihr Kiel hatte eine Kerbe in das schwammige Fleisch geschnitten, keine ernsthafte Verletzung für eine Kreatur dieser Größe, aber ausreichend, um das Wasser zu röten.

»Tut weh, wette ich«, stimmte Veg ihr mit einiger Sympathie zu. Eine Wunde dieser Größenordnung wäre für eine kleinere Kreatur tödlich gewesen. Sie war einen guten Meter lang und mehrere Zentimeter tief.

Dann begann das Wasser zu toben. Brach war zu einem Entschluß gekommen.

»Weg!« rief Cal. »Er läuft!«

Die beiden Mantas aus der Kabine kamen jetzt heraus, obwohl immer noch direktes Sonnenlicht vorhanden war. Sie. segelten über die Wasseroberfläche. Veg wußte, daß sie dies nicht lange tun konnten. Die Sonne würde sie schrecklich verbrennen und ihre Augen verletzen.

Aber der Dinosaurier kam auf die Nacre zu!

Der kleine und doch so massige Kopf pendelte hin und her, während er dicht über dem Wasser dahinglitt, und der Hals zog eine weiße Schaumwelle hinter sich her. Der Schwanz zog sich zurück. Nur die Spitze kam noch aus den Wellen heraus. Zwischen beiden - eine Entfernung von mehr als sechzehn Metern - bildete sich so etwas wie ein Strudel.

»Lenkt den Kopf ab!« rief Cal. »Greift nicht an! Treibt ihn!«

Er redete zu den beiden Mantas, die das Boot jetzt unsicher umkreisten.

»Blufft ihn! Drängt ihn zur Seite!«

Hex und Circe (Veg war sicher, daß er sie erkannte) schienen zu begreifen. Abwechselnd schossen sie auf den Kopf hinunter, wobei ihre Körper in der Schräglage wie Drachen aussahen. Der Kopf reagierte ziemlich schnell, zuckte vor ihnen zurück, kam aber weiter auf das Boot zu. Wie Cal erklärt hatte, brauchte es seine Zeit, den Kurs eines solchen Bergs zu ändern.

Brachiosaurus erreichte das Trio, aber der Kopf verfehlte sie um sieben Meter, wobei die Augen nicht einmal auf sie gerichtet waren. Wasser wallte zur Seite und brachte das Floß zum Tanzen, als die gewaltige Körpermasse dem wurmförmigen Vorderteil folgte. In einem momentanen Strudel sahen sie seine gefleckte Flanke und die rhythmischen Muskelbewegungen.

Der Körper verfehlte sie nur um drei Meter, und das auch nur, weil das Floß mit der Strömung zur Seite gerissen wurde.

Dann war der Torso vorbei, und sie balancierten erleichtert auf der Woge. In diesem Augenblick der Unaufmerksamkeit schlug der Schwanz zu. Es war nicht der schneidende Peitschenhieb der Mantas, aber seine blinde Wucht war genauso vernichtend.

Der Schwanz hob sich unter dem hinteren Ende der Nacre aus dem Wasser und kippte sie um.

Aquilon sprang seitlich weg und tauchte ins Wasser ein, bevor das Floß umstürzte. Veg schlang seinen Arm um Cals Mittelpartie, hob ihn hoch, als sich die Nacre aufbäumte, und warf sich nach links. Das Floß stellte sich auf ein Ende und versank im Wasser. Dann schoß es wieder hoch und schien auf die andere Seite geworfen zu werden. Veg trat mit den Füßen, die" Arme weiterhin um Cal geschlungen, und entfernte sich von dem Wirbel.

Die Wellen legten sich. Der Dinosaurier war verschwunden, das Floß umgekippt, aber stabil, und schon hockten die beiden Mantas darauf. Aquilon winkte und zeigte an, daß mit ihr alles in Ordnung war. Und glücklicherweise schob sich eine Wolke vor die Sonne und verschaffte den Mantas Erleichterung.

Veg hob Cal hoch und hoffte, daß der Mann nicht zuviel Wasser geschluckt hatte. Aber seine Sorge war grundlos. Cal stieß den Atem aus, den er während des Umkippens angehalten hatte, und lächelte. Veg vergaß immer wieder, daß sich sein Freund seit Nacre beträchtlich erholt harte. Cal blieb klein und leicht, aber in keiner Weise gebrechlich. Veg ließ ihn los, und gemeinsam schwammen sie zum Floß zurück. Dort gesellte sich Aquilon zu ihnen. Sie blickten sich über den zerschmetterten Kiel und die beiden Mantas hinweg an.

»Kommt euch das bekannt vor?« erkundigte sich Aquilon mit gespielter Heiterkeit. Jetzt, da es naß war, erschien ihr Haar glatt und dunkel, und ihre Augen waren mehr grau als blau.

Veg wußte, was sie meinte. Damals auf Nacre, gleichzeitig einen Tag und ein Jahrzehnt her, hatten sie das Abenteuer begonnen, durch das sie zu einem Trio zusammengeschweißt worden waren. Der Anfang war das Wrack eines Traktors gewesen - und das Wissen, daß ihr Rückweg zur menschlichen Basis ein schrecklicher werden würde. Sie hatten ihr Blut geteilt, im wahrsten Sinne des Wortes.

Er hielt sich an einer Kante des Floßes fest und betrachtete die Trümmer. Ein Kerosintank schwamm in der Nähe, aber es war nichts von der Lampe zu sehen, die dazugehörte. Dahinter befand sich ein Bastkorb, allerdings ohne die Nahrung, die er enthalten hatte, Aquilon hatte während der langen Reise nach Süden Gelegenheit gefunden, ihre geschickten Finger zu beschäftigen, und allerlei Dinge aus natürlichen Materialien gefertigt. Es tat weh, ihre Handarbeit davontreiben zu sehen. Der größte Teil ihrer Ausrüstung blieb am Floß verankert, denn es war fest angebunden worden. Es würde eine mühsame Arbeit werden, alles wieder zu lösen und in Sicherheit zu bringen, aber es ließ sich machen.

Ihr Funkgerät, so sorgsam gehütet, als ob es gebraucht würde, hatte sich aus seiner Verankerung befreit und lag jetzt mit Sicherheit auf dem Grund des Kanals. Ihre theoretische Verbindung mit der Zivilisation existierte nicht mehr. Ja, es war wie in den alten Zeiten, und er war nicht traurig darüber. Sie konnten hier für immer verschollen bleiben, und er würde zufrieden sein. Ein Freund wie Cal, eine Frau wie Aqui- lon.und natürlich die Mantas.

Wenigstens die Paddel waren noch da. Eins war zerbrochen, konnte aber repariert oder ersetzt werden. Palmwedel gab es reichlich. Die kräftige Bambusstange war unbeschädigt.

Es wäre sinnlos gewesen, das Floß hier aufrichten zu wollen. Sie würden es an Land schleppen müssen und dann sehen, was sie retten konnten. Die meisten ihrer Ausrüstungsgegenstände konnten ein solches Bad vertragen.

Hex und Circe hoben ab und kurvten über das Wasser. Sofort kamen sie zurück.

»Oh, oh«, sagte Veg. »Schwierigkeiten?«

Zwei Knalle, fast gleichzeitig. Beide Mantas pflichteten ihm bei. Sie redeten selten so zusammen.

»Räuber!« rief Cal. »Ich hätte daran denken sollen. Diese Wunde.«

Er meinte das Blut, das immer noch das umliegende Wasser verfärbte. Veg wußte, daß Cal das Wort immer noch ungerne aussprach: Blut. Natürlich würde der Geruch die bösartigen Kreaturen des Meers anlocken. Brach mußte ganze Kannen, Eimer, Wannen von Blut verloren haben.

»Haie!« rief Aquilon.

Und schon waren die drei menschlichen Wesen aus dem Wasser heraus und auf dem umgekippten Floß. Veg war sicher, daß sich keiner der anderen des Hin- aufkletterns bewußt war, ebenso wie er sich dessen nicht bewußt war. Wenn man während des Schwimmens an Haie oder Krokodile dachte, verließ man das Wasser sehr schnell, das war alles.

Es war kein Fehler. Es gab Haie, unverwundbar durch die Schwänze der Mantas, weil sie unterhalb der Oberfläche blieben. Veg schlug mit dem unbeschädigten Paddel nach ihnen - wie war es in seine Hand gekommen? - und sie zogen sich zurück, aber nicht weit.

Cals Gesicht war verkniffen. »Die Haie kommen hier nicht rauf«, sagte er. »Aber die Reptile - wenn es Kra- nosaurus in diesen Wassern gibt.«

»Wer?« Aquilon hatte das zerbrochene Paddel und fischte damit nach der schwimmenden Stange.

Veg ließ sie fischen. Wenn er zu ihr hinüberging, würde das Floß in eine Schräglage geraten, und Stabilität war plötzlich sehr wichtig.

»Kronosaurus - ein kurzhalsiger Plesiosaurier. Sechzehn Meter lang, Kiefer vier Meter lang, die Größe eines kleinen Wals.«

»Ich verstehe die Botschaft«, unterbrach Veg.

Angestachelt von dieser Vision dachte er daran, sein eigenes Paddel auf seiner Seite des Floßes einzusetzen, so daß die Nacre näher an die Stange herankam, um die sich Aquilon bemühte. Aber sie holte sie schon ein und kümmerte sich um das Kerosin.

Sie konferierten hastig und beschlossen das Offensichtliche: Landung an der nächstgelegenen Stelle. Auf diese Weise würde der Brückenkopf der Nacre auch die Stelle markieren, wo das verlorengegangene Funkgerät auf dem Grund des Ozeans lag. Vorausgesetzt, die Wiederbeschaffung würde dann noch einen Sinn haben, da es nicht gegen eine so totale und dauerhafte Durch- nässung versiegelt war.

Er und Aquilon fingen an zu paddeln.

»Harmlos, sagtest du«, murmelte Veg. Seine Stimmung hob sich, als sie das rosafarbene Wasser verließen und nichts anderes sahen als frustrierte Haie. »Würde bei Gefahr fliehen, sagtest du.« Aber er lächelte.

»Er ist geflohen, wenn du Brach meinst«, erwiderte Cal. »Aber er ist in tieferes Wasser geflohen. Die meisten seiner Feinde sind Landbewohner.«

Sie waren zwischen dem Dinosaurier und dem tiefen Wasser gewesen, und Brach besaß nicht viel Intelligenz. Es paßte.

Er hatte die Kreatur noch immer nicht gesehen. Nur seinen Kopf und seinen Schwanz und einen Teil der Schulter.

Die Haie, die offenbar erkannt hatten, daß sie keinen Vorteil haben würden, wenn sie das Floß verfolgten, verschwanden. Aber keiner an Bord wollte schwimmen.

Mühsam brachten sie das Floß in Staktiefe und beförderten das unhandliche Monster dann ans Ufer.

Farnbäume ragten über das Wasser, gigantische Vettern der Pflanzen, die Veg einst in seinem Holzfällerareal auf der Erde mit der Hand gepflückt hatte. Ein seltsamer Nadelbaum mit eigenartig gerollten Nadeln wuchs vor ihnen in die Höhe. Er sah kein Gras, keine Blumen. Halb schwimmende Wasserpflanzen drängten sich an der Gezeitenlinie zusammen.

»Landschaft der Kreidezeit«, murmelte Cal. »Erstaunlich.« Aber er klang mehr ehrfürchtig als überrascht. Glücklicherweise waren keine küstenbewohnenden Räuber in Sicht. Bis zu den Waden im Schlamm hoben Veg und Aquilon das beladene Floß an. Aber es war viel zu schwer, um so umgedreht werden zu können. Sie würden es halten müssen, während Cal Stöcke darunterlegte. In diesem morastigen Terrain gab es keine Felsen, die als Stütze dienen konnten. Aber zuerst würden sie es hinter die Flutlinie schleifen müssen, so daß es in der Nacht nicht weggetragen werden konnte.

»'Quilon, du hältst es gerade, während ich ziehe«,

sagte Veg.

Sie versuchten es, aber die Nacre hob sich nur ein paar Zentimeter, weil seine Füße im braunen Morast wegrutschten.

»Zwecklos«, grunzte er. »Wir werden es auseinandernehmen und richtig herum wieder zusammensetzen müssen. Genausogut können wir hier unser Lager aufschlagen.«

Die Aussicht machte ihn nicht unglücklich. Das Segeln, wurde er sich klar, war nicht seine Sache. Wandern und Campen waren besser. Es erinnerte ihn an ihre andere gemeinsame Wanderung, auf dem Planeten Nacre. Irgend etwas hatte damals angefangen. Etwas Faszinierendes. Mehr und mehr beschäftigte sich sein Bewußtsein damit.

Sein Blick traf den ihren, über das Floß hinweg. Auch sie wurde sich dessen bewußt. Durch die Rückkehr zur Erde war das, was sich entwickelt hatte, abgeschnitten worden. Aus irgendeinem Grunde hatte sie es so gewollt. Aber jetzt. jetzt konnte es zu diesem Anfang eine Mitte und ein Ende geben.

Nein, es machte ihm nichts aus, für ein paar Tage oder Wochen oder noch länger gestrandet zu sein. Gefahren und Anstrengungen machten ihm auch nichts aus. Mit Aquilon hier in diesem uralten Waldland, hier für den zweiten Anlauf.

»Vermutlich hätte Brach hier nicht gefressen, wenn es nicht ziemlich sicher wäre«, stellte Cal fest. »Ein großer Landkarnivore könnte Brachs Kopf abbeißen, und das wäre letzten Endes tödlich. Reptilien sterben sehr langsam. Wenn ich unsere Begegnung mit dem Monster auch nicht unbedingt als Glücksfall bezeichnen würde, so hat sie doch auch ihre positiven Aspekte. Wir können nicht sagen, was wir weiter drinnen angetroffen hätten.«

»Trotzdem sollten wir nicht gleich hier campieren«, sagte Aquilon und blickte angeekelt auf den blasigen Morast, der ihre Füße bedeckte. »Das Schlafen in einer überschwemmten Kabine war schon schlimm genug, aber das.«

Das Ganze hatte etwas Lächerliches an sich, und Veg lachte.

Aquilon wollte ihn mit einem bösen Blick durchbohren, sah dann aber nochmals auf ihre verschmierten Knöchel und lachte ebenfalls.

Ja, es war gut, wieder zurück zu sein. Die Erde war wie ein Dampfkochtopf, in dem die Temperatur stieg und dessen Ventil verstopft war. Hier waren sie besser dran.

Die beiden übrigen Mantas, Diam und Star, waren zu irgendeinem Zeitpunkt wieder zu ihnen gestoßen, vielleicht in dem Augenblick, in dem das Problem der Landung sie abgelenkt hatte. Veg glaubte sicher, daß sie derselben Meinung waren. Sie hatten dieses Territorium nicht nur aus Spaß und guter Laune erkundet.

Die Nacht verbrachten sie unter einem großen Baum, dessen kräftige Äste und kleine Zweige ihm das Aussehen eines steifarmigen Oktopus verliehen. Jeder Zweig hatte ein gespaltenes, fächerförmiges Blatt, ganz anders als das verästelte Grün konventioneller Bäume. Es war ein Ginkjo, und Cal schien ihn für etwas ganz Besonderes zu halten, obwohl er behauptete, daß es ihn auch auf der zeitgenössischen Erde gab.

Sie befanden sich in einem aus Cycasstämmen, Palmwedeln und Farnblättern improvisierten Anbau, der auf einer Anhöhe über dem Brückenkopf stand. Cal hatte ihn entworfen und dabei mehr praktische Fähigkeiten offenbart, als Veg von ihm erwartet hätte. Veg hatte die grobe Arbeit verrichtet und das besondere

Holz herbeigeholt. Aquilon hatte Fasern geflochten, um das Dach dicht zu machen. Ja; sie waren ein gut funktionierendes Team.

Die übrige Arbeit war mühsamer gewesen als das Entwerfen und Bauen des Hauses. Veg mußte die Nylonschnüre der Nacre lösen und die Bohlen so weit voneinander trennen, daß er an die Gerätschaften in der zerstörten Kabine herankam. Dann mußte er die Vorräte zum Camp schaffen, wo Aquilon und Cal den Bau innen und außen mit Farnwedeln verkleideten.

Veg hielt scharf Ausschau nach Lebensformen aller Art, feindlich oder auch nicht, obwohl Hex bei ihm war und einen guten Leibwächter abgab. Er wußte nicht viel über Dinosaurier, nur daß sie groß und gefährlich waren

- selbst die herbivorischen, wie das zerstörte .Floß bewies. Brach würde allerdings nicht an Land herumwandern, wenn Cal recht hatte und natürlich hatte er recht. Aber andere Kreaturen mochten überall sein. Brach wäre nicht so schnell ins tiefe Wasser geflohen, wenn es an Land nichts gegeben hätte, was er fürchtete.

Eine Kreatur, die einen Dinosaurier von fünfzig Tonnen schrecken konnte, konnte von einem ZweiZentner-Mann kaum ignoriert werden. Unvertraute Vögel zwitscherten in den Baumfarnen und jagten nach Käfern. Kleines Getier huschte durch das Unterholz. Fische schwammen im Wasser. Es gab viel Leben, aber nichts Furcherregendes - bis jetzt.

Er hob die letzte der Kisten, die sie mitnehmen wollten, wuchtete sie auf die Schulter und trottete durch den Matsch. Ja, sie alle mußten hier wachsam sein, stets auf der Hut vor unbekannten Bedrohungen. Aber die Luft war feucht und warm, die beißenden Insekten waren noch nicht auf ihn aufmerksam geworden, und er fühlte sich wundervoll frei. Vielleicht würde er morgen zwischen den Zahnen irgendeines Monsters sterben, dessen Namen er nicht einmal richtig aussprechen konnte. Aber er würde sterben wie ein Mann, nicht wie eine Sardine.

Hex eilte voraus, als sie aus dem Sumpf herauskamen und festen Boden unter den Füßen hatten. Es war Dämmerung, schon zu trübe für ihn, um klar zu sehen, aber er liebte die Herausforderung. Der Manta flog zu einer Seite, machte halt neben einem Baum - Venushaar nannte Aquilon ihn, obwohl er genauso aussah wie der Ginkjo - und stand da wie ein schwarzer Klumpen. Mit Hilfe kleiner Tricks - schräg auf bestimmte Objekte blicken, die Augen verengen konnte Veg noch immer Details ganz gut ausmachen. Auf was starrte der Manta da? Er kam heran und starrte ebenfalls. War das eine. Es war.

Veg hockte sich neben dem Manta nieder. Mit der einen Hand hielt er die Kiste hoch, während er mit der anderen störendes Blattwerk zur Seite schob.

Im hart gewordenen Schlamm befand sich der Abdruck eines zweibeinigen Dinosauriers oder eines sehr großen Vogels. Drei kräftige Krallenabdrücke, die Spitzen nach unten und vorwärts geneigt, keine rückwärtige Zehe. Mit Zähnen oder einem Schnabel versehen - ein Landwanderer, der mit so effektiven Klauen bewaffnet war, daß er einen Menschen im Handumdrehen zerfetzen konnte.

Die Kreatur war irgendwo innerhalb der Reichweite ihres Camps. Veg war froh, daß die Mantas in dieser Nacht Wache halten würden.