I Orn

 

Orn wachte erschöpft auf. Er fror und fühlte sich irgendwie klebrig. Seine Muskeln waren nicht voll leistungsfähig. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierher gekommen war, aber er wußte, daß er es sich nicht leisten konnte, seiner Verwirrung freien Raum zu lassen.

Irgend etwas stimmte nicht. Er hob den Kopf und öffnete mit einiger Anstrengung seine verklebten Augen. Zuerst tat ihm die Helligkeit weh, wurde dann aber zu einem glanzlosen Leuchten, als sich seine sensitiven Augen selbst schützten. Er befand sich in einer Höhle, und es herrschte Dämmerlicht: der Anfang oder das Ende eines Tages. So viel begriff er, als er sich an den unbelebten Kreislauf erinnerte.

Er lag in verkrümmter Haltung auf kaltem Stein. Schwerfällig zog er vier klebrige, ungelenke Glieder unter dem Körper hervor, stellte sich dann mit größerer Zuversicht auf zwei.

Ja, im allmählich heller werdenden Licht nahm er den ebenen Boden und die natürlich gewellte Decke wahr, die hinter ihm in die Dunkelheit abfielen. In unmittelbarer Nähe befand sich ein großer Haufen von vertrockneten Halmen: ein Nest, in dem ein einzelnes monströses, längliches Ei und die klebrigen Bruchstücke eines anderen lagen.

Behutsam stieß Orn das vollständige Ei an. Kalt - hier würde nichts ausschlüpfen. Dahinter befanden sich Steine und Knochen und andere Überreste unbestimmten Ursprungs. Alles war tot.

Unsicher ging er dem Licht entgegen, wobei er den verstreuten Gliedmaßen, Exkrementen, Zähnen und den vertrockneten Blättern und Ästen auswich, die den

Weg säumten. Die Anstrengung erwärmte seinen Körper, und er begann, sich besser zu fühlen. Aber während sich seine physische Verfassung besserte, schien sein Geist zurückzugleiten und die Orientierung zu verlieren. Seltsame Visionen durchzogen sein Bewußtsein, unglaubliche periphere Erinnerungen, die nicht seine eigenen sein konnten und die sich verflüchtigten, als er sich ihrer bewußt wurde.

Er entspannte sich, versuchte nicht, den Zuckungen seines Hirns auf den Grund zu gehen, und trotzdem traten die Bilder absurderweise jetzt ganz scharf hervor.

Erinnerung...

Sie begann weit, weit zurück in der Dämmerung, als es feuchter und wärmer gewesen war als heute. Er trieb dahin in einem nährenden Ozean und nahm alles, was er brauchte, durch seine poröse Haut auf. Er strebte dem Licht entgegen, hundert Millionen Jahre später, zuckte jedoch zurück, verbrannt und mit der Erkenntnis, daß es zu grausam war, um sich ihm zu nähern. Er mußte warten, mußte sich anpassen, und das war nicht einfach. Er blieb, wo er war, und verzehrte, was er konnte, und langsam, sehr langsam, über einen Zeitraum von einer Milliarde Jahre, wuchs seine Körpermasse. Aber irgendwie wurde sein Hunger umso stärker, je größer er wurde. Er konnte nicht genug Nahrung bekommen. Niemals genug, niemals genug.

Die eigenartige Erinnerung verblaßte, als er um die Ecke bog und im helleren Licht vor dem Höhleneingang stehenblieb. Grünes Unterholz und das intensive Grauweiß des Himmels lagen vor ihm. Es war Morgen: nicht die dunstige Dämmerung vor zwanzig Millionen Jahren, sondern ein eisiger, nüchterner Sonnenaufgang.

Der Leichnam eines mächtigen Vogels lag mit gespreizten Beinen vor dem Höhleneingang. Aufgerichtet wäre er groß genug gewesen, um die Decke zu berühren, er hatte einen dicken, leicht gebogenen Schnabel, Stummelflügel und scharfe hervorstehende Krallen. Unter den zerzausten grauen Federn waren die langen, starken Oberschenkelmuskeln noch immer angespannt, so als ob er gerannt wäre oder gekämpft hätte, als der Tod ihn ereilte. Der kräftige Hals war verdreht, so daß der Kopf starr zur Seite blickte. Getrocknetes Blut besudelte das untere Gefieder. Ein Auge starrte in die Sonne. Das austrocknende Gewebe hatte den Augapfel bereits schrumpfen lassen. Einstmals stolze Schwanzfedern lagen abgebrochen im Schmutz. Ein verzweifelter Kampf hatte stattgefunden, und der Vogel hatte verloren. Aber der Sieger war nicht lange genug geblieben, um das Fleisch zu verzehren. Auch das war seltsam.

So schnell wie er alle Dinge seiner Umgebung identifizieren konnte, stellte er fest, daß der Vogel weiblich war. Orn spürte ein unbestimmtes Alarmgefühl, als er den Leichnam ansah. Er stellte keine Mutmaßungen über die Bedeutung seines Erwachens neben dem verlassenen Nest dieser Kreatur an und fragte sich auch nicht, was sie vernichtet hatte. Statt dessen forschte er in seiner verwirrten Erinnerung... und fand den Vogel darin.

Vor sechzig bis achtzig Millionen Jahren hatten die warmblütigen Vögel die Loslösung von ihrer Reptilienabstammung abgeschlossen, wobei sie ihre Körperwärme mit Hilfe des aus den Schuppen entstandenen Gefieders bewahrten. Sie lebten in hohen Nadelbäumen und felsigen Schluchten, wo es nachts kalt wurde und sie stetige Wärme brauchten, um in den windigen Höhen lebensfähig bleiben zu können. Sie spreizten kraftvoll ihre vier Beine, um mehr Auftriebskraft zu gewinnen, und brachten sich beim geringsten Anzeichen von Gefahr durch Springen und Gleiten in Sicherheit, denn einige der räuberischen Reptilien konnten klettern, und alle waren hungrig. Der Baumspringer, der zu Boden stürzte, war tot, und das nicht etwa von dem Sturz.

Aber bald war eine Gattung der Vögel zu groß geworden, um durch die Luft entfliehen zu können, und während ihre leichteren Vettern immer höher in den Himmel emporstiegen, wobei sie ihre Vorderflügel ausdehnten und ihre hinteren Flügel zu Krallen verkümmern ließen, stemmte diese niedere Gattung ihre Hinterbeine fest auf die schreckliche Erde und gab das Flüchten auf. Hier überlebten nur die Schnellfüßigen, die mit dem starken Schnabel und dem guten Gedächtnis. Manchmal mußten sie rennen, manchmal kämpfen, und sie mußten auf Anhieb wissen, was in der Hochburg der Reptilien gerade angebracht war.

Sie hatten Erfolg. Sie konnten in kältere Gebiete Vordringen als die Reptilien und auch nachts unterwegs sein. Andere landgebundene Gattungen spalteten sich ab. All dies wußte Orn. Die Notwendigkeit dazu, der Anblick dieses urtümlichen Vogels, hatte seiner Erinnerung den Anstoß gegeben. Er war für ihn keine Kreatur des Schreckens, sondern der Geschichte, die einen Weg von fünfzig Millionen Jahren zurückgelegt hatte, um so gewaltsam vor dieser Höhle zu sterben. Orn hatte kein Mitleid mit dem Vogel. Dies war die Natur des Lebens. Die Schwachen, die Sorglosen, die Unglücklichen - sie starben und wurden durch andere ersetzt.

Er ging um den Körper herum und blieb in der Sonne stehen. Eine mächtige Kiefer, ebenso uralt und auf ihre Weise genauso großartig wie der Vogel, ragte in der Nähe in die Höhe. Der Boden war mit hohen Farnen bedeckt, die ihre Wedel im leichten Wind schaukelten. Orn wußte, daß ähnliche Pflanzen die Landschaft für eine sehr lange Zeit beherrscht hatten. Erst jüngst waren andere gekommen, um ihnen das Land streitig zu machen, aber diese anderen hatten hier nicht viel Erfolg gehabt.

Während die aufgehende Sonne den Frost aus dem Land vertrieb, kratzte er prüfend über den Boden. Im Vergleich zu den dick behörnten Zehen des toten Vogels waren seine eigenen schwächlich und zart, aber ein paar behutsame Kratzer legten die Struktur des Bodens frei. Unter den Blättern und Zweigen und Nadeln an der Oberfläche befand sich schwammiger Humus, der vor eigenem erwachenden Leben strotzte. Er richtete den Blick nach unten und sah sich die Miniaturlandschaft an.

Da waren Grillen und Schaben und schwarzschildige Käfer, die eifrig mikroskopische Trümmerstücke davontrugen. Winzige Spinnentiere, jene flügellosen Gliederfüßer, die sprangen, indem sie ihren gegabelten Schwanz gegen den Boden schnellten, hasteten in Deckung, weil sie die Sonne verabscheuten.

Orn kannte sie. Die Gliederfüßer hatten sich schon vor sehr langer Zeit abgespalten, so weit zurück, daß er an ihre frühe Evolution keine Erinnerung mehr hatte. Irgendwann, als er sich noch im Urmeer zwischen der frostigen Dunkelheit und dem brennenden Licht abmühte und seinen zwanghaften Hunger stillte, indem er zu einem aufsaugenden Kelch, einer Walze, einem Klumpen mit Eingeweiden wurde, als er langsam Seiten- und Schwanzflossen entwickelte und unkontrolliert der Beute nachjagte, als er Augen bekam, um sich das Licht nutzbar zu machen, und Kiemen, um das Wasser zu atmen, und einen Orientierungssinn, um richtig zu navigieren, irgendwann während dieses komplexen, Milliarden Jahre währenden Entwicklungsprozesses, der seinem Gang an Land voranschritt, hatten die kleinen Gliederfüßer ihren eigenen mysteriösen und höchst erfolgreichen Weg gefunden. Nun krochen und flogen sie und fertigten Netze und Stöcke und Kokons und Erdhöhlen und lebten ihr emsiges Leben in vielbeiniger, vielflügliger und im Grunde genommen geistloser Bestimmung.

Orn bewegte sich weiter vorwärts, alles beobachtend, aber nichts in Frage stellend. Zaghafte haarige Säugetiere, die Angst vor ihm hatten, huschten aus dem Weg. Sie gehörten harmlosen Gattungen an. Er durchschritt ein flaches Tal, das gemächlich zu einer Wasserfläche hinabführte. Zarte, niedrige Vegetation der neuen Art breitete sich am Rand des Wassers und auf seiner Oberfläche aus. Ein großer Teil davon trug Blüten. Dort wo ein Bächlein über nackten Stein strömte und sich zwischen runden, bemoosten Felsen hindurchwand, blinkten kleine Fische auf. Sie gehörten uralten und mannigfaltigen Gattungen an, und dann und wann kam einer von ihnen hoch, um die Oberfläche des Sees zu küssen.

Abermals erinnerte sich Orn. Fließendes Wasser war ein ganz anderes Element als die träge Tiefe des Meeres. In gewisser Weise unterschied es sich so sehr vom Land wie die Luft. Das weiche Fleisch aus den ruhigen Meerestiefen hatte in seiner ganzen Länge eine Stange aus versteiftem, aber flexiblem Knorpel entwickeln müssen, um dem neuen Phänomen der Strömung gefahrlos begegnen zu können. Diesem Knorpel lagerte sich das Muskelgewebe an. Das Fortkommen war nicht länger zufällig, sondern vorwärts gerichtet, gegen die Strömung. Bevor sich seine Gattung von. der der Fische getrennt hatte, war sie in die weniger bewohnten Regionen oberhalb der Strömung eingedrungen und hatte sich dabei verändert. Das Rückgrat schützte immer wichtiger werdende Nerven, denn Koordination war lebensnotwendig geworden. Schließlich verhärtete sich der Knorpel zu Knochen. Das Skelett war ein Geschenk des fließenden, frischen Wassers, und so hatte das Land bereits das Meeresleben beeinflußt.

Aber die Flüsse der Vergangenheit waren schnell und flach und strömten aus der öden, unwirtlichen Landmasse, die den Kontinent bildete, und von Zeit zu Zeit strandete der ehrgeizige Schwimmer in irgendeinem stillstehenden Tümpel. Er mußte sich sein Leben von der Oberfläche holen, so wie es die Fische in diesem See jetzt taten, und die Blase in seinem Maul halten, um ihr den Atem zu entziehen, der das Wasser verlassen hatte. Aber sein Maul war jetzt angefüllt mit Kiefern und Zähnen und Zunge, die er zur Ernährung benötigte. So wurde er gezwungen, in seiner Kehle eine spezielle Höhlung zu entwickeln, einen Sack, eine Kammer, eine... Lunge. Als das Wasser seines isolierten Tümpels schließlich völlig versickerte, mußte er seine Flossen zu vier kräftigen Gliedern werden lassen, um den Körper gegen die Eingeweide zerquetschende Schwerkraft des Landes abzustützen, und die neuen Lungen erhielten das Leben vollkommen. Es war ein kurzer, aber verheerender Zug, diese erste Reise über das grausame Land, und fast jeder Fisch, der es versuchte, kam dabei um. Aber jene wenigen, die nicht nur entschlossen und stark, sondern auch glücklich waren - Orns eigene Gattung -, wurden durch einen tieferen, frischeren Teich belohnt.

Orn erinnerte sich an die ursprüngliche Heimat: das Wasser. Er erinnerte sich an die allmählich länger werdenden Aufenthalte auf dem Land, das nur von fleischiger Vegetation und den hurtig dahinhuschenden Gliederfüßern bewohnt wurde, bis er den größten Teil seines Lebens darauf verbrachte und nicht mehr länger ein echter Fisch war. Er erinnerte sich daran, wie sich die Hülle um die weichen Eier verhärtete, bis sie in gewissem Maße den Gewalten von Sonne und Luft widerstehen konnte. Ein kleiner, aber wichtiger Schritt, denn er bedeutete, daß die See ihren letzten noch verbliebenen Griff verloren hatte. Ein vollständiger Lebenszyklus konnte sich vollziehen, ohne daß das Meer noch seinen Anteil daran hatte.

Am Ufer des Sees, fand er den Körper des männlichen Vogels. Auch dieser war gewaltsam ums Leben gekommen, aber im Gegensatz zu seinem Partner hatte er seinen Gegner mitgenommen. Ein langes, mächtiges Reptil lag mit dem Bauch nach oben im Sand, den Schwanz im Wasser, die Augen zwei blutige Höhlen, die Eingeweide ein gähnendes Loch. Geronnenes Blut am Schnabel und an den Krallen des Vogels verrieten die Wildheit seines Angriffs, den er hier an der Grenze der Reptiliendomäne geführt hatte. Aber die verstreuten Federn und das Blut auf seiner Brust zeigten an, daß die Zähne des Krokodils nicht nur nach der leeren Luft geschnappt hatten.

Hätte das Reptil das Wasser erreicht, bevor der Vogel angriff, würde es den Kampf leicht gewonnen haben. Aber das war nicht der Fall gewesen, vielleicht wegen der Wunden, die der weibliche Vogel geschlagen hatte. Nun waren alle drei Kämpfer Nahrung für die versammelten Fliegen.

Das Krokodil.

Als Orn es anblickte, verstand er den Weg, den es eingeschlagen harte, seit seine Vorfahren sich in jüngerer Zeit als die Fische von seinen eigenen entfernt hatten. Seine Gattung war kletternd und von Ast zu Ast springend an Land auf den Bäumen geblieben, bevor sie auf den Boden zurückkehrte. Sie war zu einem Warmblüter und zu einem Allesfresser geworden, mit einem hochentwickelten Hirn. Aber das Krokodil war zum Teil ins Wasser zurückgegangen, wo es sich hinter seiner hornigen Haut versteckte und auf alles Jagd machte, was hineinfiel oder zu nahe heran kam.

Dieses Mal hatte sich das Krokodil zu weit von seinem Jagdgebiet entfernt, vielleicht um die riesigen Eier in dem Höhlennest zu rauben, während der eine Vogel abwesend war, und darauf bauend, daß der zurückgebliebene Vogel nicht kämpfen würde...

Orn gab sich keine Mühe, sich weitere Details auszumalen. Er war geschwächt, müde und allein und verspürte jetzt auch einen mörderischen Hunger. Die ererbten Erinnerungen schlossen schließlich die Lücke zwischen seiner Evolution und ihm selbst, und er begriff, daß es in seiner mißlichen Lage keine Hilfe von außerhalb geben würde. Er war ein Angehöriger der fortgeschrittenen Rasse, die die Landflächen dieser Welt betreten hatte, aber gegenwärtig stand ihm nicht mehr als sein generalisierter Körper und sein Wissen um die Entstehung der lebenden Wesen zur Verfügung, um sich selbst am Leben zu halten.

Er verschwendete keinen Gedanken daran, was passiert wäre, wenn das Krokodil die beiden Eier erreicht hätte, bevor die Eltern zurückkehrten, oder den Umstand, daß das ältere Ei kurz vor dem Ausschlüpfen stand, als das fatale Zusammentreffen stattfand. Die Wärme der Mutter war im kritischen Augenblick weggenommen worden und hatte das Küken gezwungen, zu handeln oder zu sterben. Er dachte nicht über die Zufälligkeiten des Schicksals nach und sann nicht auf Rache. Sein Verstand war mehr auf weitreichendes, umfassendes Rassengedächtnis als auf echte Gedankengänge ausgerichtet. Rassengedächtnis war sein Überlebensinstrument - ein Werkzeug, wie es keine andere Spezies in Anspruch nehmen konnte.

Orn schüttelte seine stummeligen, noch federlosen Flügel und näherte sich dem vor ihm aufgetürmten

Fleisch. Fliegen schwärmten hoch, als sein Schnabel nach unten hackte. Er war hungrig, und es gab niemanden, der ihm Nahrung bringen würde.