PROLOG
Sie stellte den Radiorekorder im
Wohnzimmer an und legte eine Kassette ein. Sofort hellte sich ihre
Miene auf. Im heiteren Rhythmus der Akkordeontöne wiegte sie ihren
Oberkörper leicht hin und her. Ein Lächeln, gedankenverloren und
wie aus einer anderen Zeit, legte sich über ihre Züge.
Sie drehte die Lautstärke ein Stück weiter auf
und schloss die Augen. Starke Arme, sehnig und muskulös, umfassten
ihre Taille und wirbelten sie herum. Ein Schwindel erfasste sie -
wie damals vor dem Krieg, als sie Kind war und auf dem Jahrmarkt
vor dem Eiffelturm Karussell fuhr. Ganz benommen war sie nach den
Fahrten, wenn sie dann an einer der Kirmesbuden Süßigkeiten und
bunte Luftballons gekauft bekam.
Doch das war lange her.
Seitdem hatte das Leben sie mit all seinen
Stürmen, Schrecken und Enttäuschungen heimgesucht und geprüft. Nur
wenige Menschen überstehen eine solche Prüfung unbeschadet.
Sie war allein. Alberts Tod lag viele Jahre
zurück. Von dem fernen Kontinent, wohin ihre einzige Tochter
vor dreißig Jahren ausgewandert war, kamen keine Briefe mehr,
keine Telefonate, nichts. Nie mehr! Der Tod war grausam in seiner
Unabänderlichkeit. Die Brutalität dessen, was geschehen war, hatte
ihr einige Zeit zu schaffen gemacht. Inzwischen war der Schmerz
versiegt, wie ein Rinnsal in der Dürre, doch die Trauer hatte sie
nie verlassen. An manchen Tagen stülpte sie sich über ihre Seele
wie eine Glasglocke, unter der sie zu ersticken drohte.
An ihren eigenen Tod dachte sie jeden Tag. Mit
einer gewissen Neugierde fragte sie sich manchmal, in welcher
Gestalt er wohl käme? Und was würde wohl ihr letzter Gedanke sein,
wenn es so weit war? Vielleicht hätte sie keine Gelegenheit zu
einem letzten Gedanken, weil der Tod sie im Schlaf überraschte.
Schnell und schmerzlos, anders, als es ihrer Tochter beschieden
gewesen war. Das wäre das Beste und der einzige Wunsch, den sie
noch haben würde.
Nein, nicht der einzige! Bevor sie sanft
entschlief, wollte sie noch einen letzten Walzer tanzen...
Sie lächelte. Die Musik verklang. Das nächste
Stück trug den Titel »Paris en Fête«. Sie kannte alle Stücke
auf der Kassette.
Erneut drehte sie am Lautstärkeknopf und ging ins
Bad. Als sie sich kurz darauf ankleidete, wählte sie die Garderobe
sorgfältig aus. Ein gelb-lila geblümtes Seidenkleid mit langen
Ärmeln, die mit einem schmalen Bündchen abschlossen. Dazu passten
die lila Wildlederpumps,
ihre Lieblingsschuhe. Noch einige Spritzer Chanel Nummer 5, die
Turmalinkette ihrer Großmutter, den Brillantring, den Albert ihr
1951 zur Verlobung geschenkt hatte. Zufrieden betrachtete sie ihr
Bild im Spiegel des Kleiderschranks. Mit der dunkelbraunen
Echthaarperücke (leicht gelockt, Ponyfransen), die sie sich vor
einer Woche zugelegt hatte, und derentwegen ihre spärlichen, grauen
Haare ganz kurz geschnitten werden mussten, sah sie entschieden
jünger aus, als sie war. Und so fühlte sie sich auch.
Die Uhr auf der Anrichte im Wohnzimmer zeigte
kurz nach acht. Noch war keine Eile geboten. Der ganze Vormittag
lag vor ihr. Doch sie wollte festlich gekleidet und geschminkt
sein, für den Fall, dass er früher kam, sie vielleicht in ein Cafe
ausführte (möglicherweise auch zum Mittagessen), bevor sie sich
später in einem der Lokale ins Getümmel stürzten.
Es war ein Vergnügen, das sie sich beinahe jeden
Sonnabendnachmittag gönnte.
Beschwingt spitzte sie die Lippen und pfiff die
Melodie mit, die aus dem kleinen Rekorder laut durch die Wohnung
klang.
Gegen halb neun klingelte es. War er das
vielleicht schon? So früh kam er sonst nie... Ihr Herz schlug
schneller. Sie zupfte die Perücke zurecht, fuhr mit der Zunge
vorsichtig über ihre karmesinrot geschminkten Lippen, damit sie
frisch und erwartungsvoll wirkten, und ging mit eiligen
Trippelschritten zur Tür.
Sie hatte richtig vermutet. Etwas unbeholfen und
schüchtern stand er im halb dunklen Treppenhaus. In der rechten
Hand hielt er einen Blumenstrauß. Unter dem offenen Regenmantel
trug er einen nachtblauen Nadelstreifenanzug mit silberner
Krawatte. Die Augen waren hinter einer verspiegelten, dunkel
getönten Brille verborgen.
»Komm rein«, sagte sie und betrachtete ihn
wohlwollend. Dass sein Blick hinter der getönten Brille so gar
nicht zu dem jungenhaften Lächeln passte, das er ihr wie üblich zur
Begrüßung schenkte, bemerkte sie erst, als es zu spät war.