17. KAPITEL
Am Tatort in der Rue de Lappe herrschte die
übliche Betriebsamkeit. Die Techniker der Spurensicherung gingen
ebenso akribisch wie routiniert ihrer Arbeit nach. Das Projektil
aus der Tatwaffe steckte im Kopf des Toten und würde bei der
Autopsie sichergestellt werden. Nahe einer Wandleiste wurde die
Patronenhülse gefunden. Franck betrachtete sie eingehend und sagte
zu seinem Chef: »Neun Millimeter Parabellum, wenn mich nicht alles
täuscht.« Er steckte das Beweisstück in eine Plastiktüte und gab
sie einem der Techniker aus der Ballistikabteilung.
Brigitte Foucart hatte in ihrer zügigen Art
festgestellt, dass Patrice Montana nicht länger als drei Stunden
tot sein konnte.
»Genickschuss, Maurice«, sagte sie. »Sieht aus wie
eine Hinrichtung.«
»Stimmt. Keine Kampfspuren. Vielleicht hat er
seinen Mörder gekannt. Hat ihm vertraut und ihm nichtsahnend den
Rücken zugekehrt.«
LaBréas Blick fiel auf das Beistelltischchen am
Kamin. Die Hochglanzprospekte der Luxusautos, die am Vormittag noch
dort gelegen hatten, waren verschwunden.
»Hat jemand von Ihnen hier im Raum irgendwelche
Autoprospekte sichergestellt?«, fragte LaBréa die Mitarbeiter des
Technikerteams. Niemand hatte die Prospekte gesehen. LaBréa gab
Anweisung, danach zu suchen.
Sandra Pannache, die Verlobte des Ermordeten,
hatte ihre arrogante, feindselige Art der Polizei gegenüber
abgelegt. Völlig aufgelöst und verweint saß sie in der Küche und
beantwortete LaBréas Fragen. Kurz vor elf Uhr hatte sie die Wohnung
verlassen, um in den Geschäften rund um die Bastille Einkäufe zu
erledigen. Da war Patrice Montana gerade im Bad gewesen, um sich zu
rasieren. Um zwölf saß sie beim Friseur; der Termin dauerte etwa
eine Stunde. Anschließend hatte sie im Fitnessstudio in der Rue St.
Antoine vorbeigeschaut. Dort arbeitete eine Freundin von ihr am
Empfang. Die beiden hatten ein nahe gelegenes Bistro aufgesucht, um
eine Kleinigkeit zu essen. Danach war Sandra Pannache zurück in die
Rue de Lappe gegangen, wo sie LaBréa und Franck vor der Haustür
traf.
»Erwartete Monsieur Montana Besuch?«, wollte LaBrea
wissen. »War er mit irgendjemandem in der Wohnung verabredet? Einem
Geschäftsfreund vielleicht?«
»Davon hat er mir nichts gesagt.«
»Hatte er Feinde? Leute, die ihm Geld
schuldeten?«
»Patrice war keiner, der anderen Leuten Geld lieh.
Er hat sein Leben lang hart gearbeitet. Ihm war nie etwas geschenkt
worden. Er hielt sein Geld zusammen.«
»Wie lange kannten Sie ihn schon,
Mademoiselle?«
»Seit drei Jahren. Wir wollten heiraten.« Sie
schluchzte. LaBréa wartete, bis die junge Frau sich beruhigt
hatte.
»Hat er Ihnen erzählt, was er früher gemacht hat?
Bevor er das Paradis übernahm?«
»Nein. Er hat überhaupt nie viel über sich erzählt.
Ich weiß nur, dass er als Kind in der Nähe von Bagnolet gelebt
hat.«
»Hatte er Geschwister? Andere Verwandte?«
»Geschwister? Nein. Und seinen Vater kannte er gar
nicht. Der hat ihn zwar als sein Kind anerkannt und ihm seinen
Namen gegeben, ist aber gleich nach der Geburt spurlos
verschwunden. Und von irgendwelchen anderen Verwandten war nie die
Rede. Das fand er ja so schön bei mir, dass ich eine so große
Familie habe. Wir sind sechs Geschwister. Mit meinen Eltern treffen
wir uns regelmäßig einmal im Monat zum Abendessen. Patrice hat sich
da immer wohlgefühlt. Und meine Familie mochte ihn.«
»Vor sechs oder sieben Jahren wurde er öfter in
Begleitung einer jungen Frau und eines etwa neunjährigen Jungen
gesehen. Hat er die beiden mal erwähnt?«
»Nein. Wer soll das gewesen sein?«
»Das wissen wir nicht. War Monsieur Montana schon
einmal verheiratet?«
»Auf keinen Fall! Das hätte er mir sicher
erzählt.«
LaBréa blickte sie skeptisch an. Ein kleines
Lächeln huschte über seine Lippen.
»Sind Sie sich da so sicher, Mademoiselle? Ich
meine, dass er es Ihnen erzählt hätte?«
Die junge Frau schüttelte hilflos den Kopf und
begann wieder zu weinen.
Claudine, die zusammen mit Jean-Marc in die Rue de
Lappe gekommen war, hatte sich bei den Nachbarn umgehört, ob jemand
etwas gesehen oder gehört hatte. Was nicht der Fall war. Daraus
schloss LaBréa, dass die Tatwaffe vermutlich mit einem
Schalldämpfer versehen war. Die Kollegen der Ballistikabteilung
würden das sehr schnell herausfinden. Da das Projektil noch im Kopf
des Toten steckte, würde man alles über Waffentyp und Kaliber der
Waffe erfahren. Claudine würde sich jetzt auf den Weg machen, um
das Alibi der Verlobten zu überprüfen. Sie hatte sich die Namen der
Geschäfte notiert, in denen die Frau einkaufen war, die Adresse des
Friseurs und des Fitnessstudios.
Das Zeitfenster, in dem der Mörder zugeschlagen
hatte, umfasste nur wenige Stunden. Genauer gesagt: Wenn die
Aussage der Verlobten stimmte, musste es zwischen elf und kurz nach
vierzehn Uhr geschehen sein. In dieser Zeit war sie nicht in der
Wohnung gewesen.
Als LaBréa und Franck Sandra Pannache vor dem Haus trafen und kurz
darauf Patrice Montana in seinem Arbeitszimmer tot auffanden, war
es zwanzig nach zwei gewesen.
Jean-Marc nahm sich Handy und Festnetzapparat des
Ermordeten vor. Die Geräte waren bereits auf Fingerabdrücke
überprüft worden. In den Anrufprotokollen des Handys fanden sich
keine Nummern. Sie waren in letzter Zeit offenkundig gelöscht
worden. Die letzten beiden Nummern auf dem Display des digitalen
Festnetzapparats hingegen waren gespeichert. Jean-Marc rief dort
jeweils an. Die erste Nummer gehörte zu einer kleinen Pension in
Deauville. Sie war in der Woche zuvor am Freitag gewählt worden.
Mit diesem Anruf hatte Patrice Montana das Zimmer für den
Urlaubstrip reserviert, den er am Morgen erwähnt hatte. Die zweite
Nummer entpuppte sich als die der Bank des Ermordeten. Er hatte
sich am Nachmittag des Vortags bei seinem Bankberater erkundigt, ob
er einhundert Aktien des nationalen Elektrokonzerns abstoßen oder
weiter halten sollte.
»So wenige Anrufe«, sagte LaBréa zu Jean-Marc.
»Auffällig für jemanden, der aus einem Kurzurlaub früher
zurückkommt, weil er geschäftliche Dinge zu erledigen hat.«
»Stimmt. Aber vielleicht hat er vom Handy aus
telefoniert.«
»Und dann löscht er die Nummern sofort?
Warum?«
»Na ja«, erwiderte Jean-Marc. »Vielleicht hat er
sie gar nicht gelöscht, sondern der Mörder. Weil seine eigene
Nummer auch dort gespeichert war.«
»Richtig, Jean-Marc.« LaBréa nickte ihm anerkennend
zu. »Kann man die gelöschten Nummern irgendwie
rekonstruieren?«
»Ja, das geht. Über die Anrufprotokolle des
Mobilfunkanbieters. Aber das dauert mindestens einen Tag. Ich
kümmere mich darum.«
»Danke, Jean-Marc.«
»Warten Sie mal.« Jean-Marc nahm noch einmal das
Handy des Ermordeten, scrollte im Menü und schüttelte gleich darauf
den Kopf. »Das Adressbuch wurde vermutlich auch gelöscht, Chef.
Jedenfalls ist dort keine einzige Nummer verzeichnet.«
Franck und LaBréa durchsuchten die restlichen
Räume der Wohnung. Drei Aktenordner mit Geschäftsunterlagen und
Kontoauszügen ließen auf den ersten Blick nichts Verdächtiges
erkennen. LaBréa gab Anweisung, sie ins Präsidium zu schaffen,
ebenso den Laptop des Toten.
Franck entdeckte in einer Ecke im Flur, gleich
neben der Haustür, einen Papierschnipsel.
»Hier, Chef«, sagte er und kam ins Schlafzimmer, wo
LaBréa die Schränke durchsuchte. »Eine Telefonnummer.«
LaBréa betrachtete den Zettel. Die Ziffern waren
mit ungelenker, großer Handschrift geschrieben. Er
zog sein Handy aus der Tasche und gab die Nummer ein. Nach einer
Weile meldete sich jemand. LaBréa reagierte überrascht.
»Autohaus Frolet?«, fragte er verblüfft und blickte
Franck fragend an. Seinem Mitarbeiter schien der Name geläufig zu
sein. Deshalb sagte er rasch: »Oh, Verzeihung, falsch verbunden«,
und brach das Gespräch ab.
»Ein Vertragshändler für Luxusschlitten im 8.
Arrondissement.« Franck zog einen Kaugummi aus der Hosentasche.
»Die verkaufen Aston Martins, Ferraris, Lamborghinis, und zwar auch
gebraucht.«
»Interessant.« LaBréa spürte eine plötzliche
Erregung. Er kannte dieses Gefühl. Es stellte sich immer dann ein,
wenn sein Alarmsystem auf Rot schaltete, weil eine Spur plötzlich
heiß zu werden versprach. Immer noch waren die Hochglanzprospekte
nicht gefunden worden, und jetzt diese Telefonnummer... Wie kam sie
in den Flur? Hatte Montana sie ausgeschnitten und dort verloren?
LaBréa dachte angestrengt nach. Er konnte sich nicht erinnern, dass
auf den Prospekten Name und Telefonnummer eines Autohauses vermerkt
waren. Oder hatte er es übersehen? Er steckte den Zettel in einen
Plastikbeutel und ging mit raschen Schritten in die Küche.
Dort saß die Verlobte des Ermordeten immer noch auf
ihrem Stuhl. Inzwischen hatte sie sich ein wenig gefangen und
einige Telefonate geführt. Sie hatte den Barkeeper des
Paradis vom Tod seines Chefs unterrichtet
und schon erste Schritte für die Beerdigung unternommen.
»Wollte Monsieur Montana sich einen neuen Wagen
kaufen?«, fragte LaBréa die junge Frau.
»Einen neuen Wagen?« Sandra Pannache blickte ihn
verständnislos an. »Bestimmt nicht. Wie kommen Sie darauf? Vor zwei
Monaten hat er sich doch gerade den großen Nissan-Kombi gekauft.
Damit war er sehr zufrieden.«
»Und Sportwagen? Interessierte er sich
dafür?«
»Ich glaube nicht. Jedenfalls hat er nie so was
erwähnt.«
LaBréa nickte. Das bestätigte Patrice Montanas
Aussage vom Vormittag.
»Bei unserem Gespräch mit ihm lagen Prospekte von
Sportwagen in seinem Arbeitszimmer«, fuhr er fort. »Er sagte, die
hätte jemand bei ihm vergessen. Wissen Sie vielleicht, wer das
gewesen sein könnte?«
»Keine Ahnung, Commissaire. Vielleicht meinte er
einen seiner Geschäftspartner.«
»Wen zum Beispiel?«
Die junge Frau hob die Achseln.
»Seine Geschäftspartner kenne ich nicht. Das sind
alles Leute aus der Gastronomie, Großhändler. Meistens traf er sich
auch gar nicht mit ihnen hier in der Wohnung.«
LaBréa zeigte der Frau den Zettel mit der
Telefonnummer.
»Ist das seine Handschrift?«
Sandra Pannache nahm den Plastikbeutel und
betrachtete den Inhalt eingehend.
»Nein«, sagte sie entschieden. »Das sehe ich an den
Zahlen. Die Sieben, die schreibt er nämlich ganz anders. Nicht mit
einem Strich durch die Mitte. Das hat mich schon immer gewundert.
Er meinte, in Amerika schreibt man die sieben ohne Strich. Und er
war ein großer Fan von Amerika. Dort hätte er gern gelebt.« Sie
schluckte, und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
»Danke, Mademoiselle.« LaBréa verließ die Küche und
gab Franck und Jean-Marc einen Wink.
»Irgendetwas stimmt nicht mit diesen Luxusautos«,
meinte er kopfschüttelnd. »Erst verschwinden die Prospekte, und
dann finden wir die Nummer eines einschlägigen Autohändlers. Und
das bei jemandem, der sich für solche Wagen nicht interessiert
hat.«
Auch LaBréa hatte sich nie für schnelle und teure
Autos, noch nicht einmal für Autos im Allgemeinen begeistern
können. Als junger Student hatte er sich einen gebrauchten,
taubenblauen 2 CV ohne jeden Komfort gekauft. Dreitausend Francs
hatte er seinerzeit dafür hinlegen müssen. Zahlreiche Beulen in der
Karosserie zeugten von einer stürmischen Nutzung des Gefährts.
Verschiedenfarbene Kotflügel (der rechte gelb, der linke giftgrün)
gaben dem Wagen eine Art Multikulti-Anstrich,
was damals geradezu revolutionär war. Bei einer Fahrt mit
Kommilitonen an die Kanalküste, im Sommer 1984, hatte das Getriebe
dann nach längerem Kampf seinen Geist aufgegeben. LaBréa und seine
drei Studienfreunde ließen den Wagen stehen und setzten ihre Reise
per Anhalter fort. Irgendwann holte ein Verschrottungsdienst den 2
CV vom Rand einer Allee zwischen zwei Dörfern auf dem platten Land
der Normandie ab, und LaBréa musste für die Entsorgung
siebenhundert Francs berappen.
Seit dieser Zeit hatte er nie wieder einen eigenen
Wagen besessen. In Marseille hatte seine Frau Anne im Lauf der
Jahre verschiedene Modelle von Renault gefahren, angefangen vom
alten R4 bis zum neuesten Clio. Da LaBréa von Berufs wegen
jederzeit ein Dienstwagen zur Verfügung stand, hatte sich die Frage
nach der Anschaffung eines privaten PKW für ihn nie mehr
gestellt.
Und so war er jetzt, im Unterschied zu Franck und
Jean-Marc, auch keineswegs beeindruckt, als er und seine
Mitarbeiter die Verkaufsräume des Autohauses Frolet betraten. Beim
Anblick eines zitronengelben, nagelneuen Ferrari California und
eines nachtblauen Lamborghini LP 560 Spider mit safranfarbenen
Lederpolstern pfiff Franck voller Anerkennung durch die Zähne.
Jean-Marc beugte sich durchs offene Fahrerfenster des Ferrari und
warf einen Blick aufs Armaturenbrett.
»Mein lieber Mann«, sagte er zu Franck. »Sieht aus
wie das Cockpit eines Airbus.«
Franck sah auf das Preisschild an der
Windschutzscheibe und lachte kurz auf.
»Tja. Auch der Preis kommt dem eines Airbus
nahe.«
LaBréa ging zügig durch den Showroom in den
hinteren Teil der Halle, wo sich hinter einer Glastrennwand
Büroräume befanden. Ein junger Mann, gediegen gekleidet in Anzug
und Krawatte, erspähte die Beamten und kam ihnen mit einem
gewinnenden Lächeln und beschwingten Schritts entgegen.
»Guten Tag, meine Herren. Was kann ich für Sie
tun?«
LaBréa zückte seinen Polizeiausweis und stellte
sich und seine Mitarbeiter vor. Aus dem Gesicht des Mannes wich das
Erwartungsvolle tiefem Misstrauen. »Polizei?«, meinte er gedehnt
und räusperte sich. »Um was geht es denn?«
»Sind Sie hier der Inhaber, Monsieur?«
»Ja. Ich bin der Juniorchef. Gestatten? Silvain
Frolet.«
»Wir ermitteln in einem Mordfall. In der Wohnung
des Ermordeten wurde Ihre Telefonnummer auf einem Zettel gefunden.
Kannten Sie einen Mann namens Patrice Montana?« LaBréa gab dem Mann
eine Beschreibung Montanas und erwähnte dessen Beruf.
Silvain Frolet schüttelte energisch den Kopf.
»Der Name sagt mir nichts, und so, wie Sie ihn
beschreiben, kenne ich den Mann nicht.«
Jean-Marc hatte sich vom Informationscounter in der
Mitte des Raums einige Prospekte gegriffen. Er gab sie LaBréa. Sie
waren identisch mit denen, die sich am Vormittag in der Wohnung des
Ermordeten befunden hatten. LaBréa zeigte sie dem
Autohändler.
»Genau solche Prospekte waren wenige Stunden vor
dem Tod des Opfers noch in dessen Wohnung.«
»Ja und?« Silvain Frolet blickte ihn fragend an.
»Trotzdem kenne ich den Mann nicht.«
»Wer sind denn Ihre Kunden?«, wollte Franck
wissen.
»In letzter Zeit läuft das Geschäft ziemlich flau.«
Frolet klang resigniert. »Die Krise, Sie wissen schon. Wir haben
dreißig Prozent weniger Verkäufe als noch im vergangenen
Jahr.«
»Und in letzter Zeit? In den letzten Tagen?«
Der Autohändler überlegte einen Moment.
»Gestern kam ein Anruf wegen des neuen Ferrari
California. Ein saudischer Prinz interessiert sich für eine
spezielle Luxusausstattung. Er kommt am Freitag vorbei.
Hoffentlich, kann ich nur sagen! Wenn das Geschäft klappt, haben
wir fürs ganze Jahr ausgesorgt.«
»Und sonst?«
»Sonst leider nichts Konkretes. Nur heute Mittag,
da rief ein Mann an. Er interessiert sich für einen gebrauchten
Ferrari, Modell 360 Modena. Er hatte unsere Anzeige im Figaro vom
letzten Sonnabend gelesen.«
»Nannte der Mann seinen Namen?«, fragte Jean-Marc
und zückte Notizbuch und Kugelschreiber.
»Nein. Aber als ich ihm sagte, der Wagen sei noch
zu haben, wollte er vorbeikommen, um eine Probefahrt zu
machen.«
»Wann?« LaBréa spürte eine plötzliche Anspannung.
Sein Jagdinstinkt war erwacht.
»Noch heute. Doch ob er tatsächlich kommt...«
Skeptisch wiegte er seinen Kopf. »Was meinen Sie, wie viele Leute
hier anrufen und eine Probefahrt vereinbaren. Aber wenn sie dann
nochmal über den Preis nachdenken, machen sie in neunzig Prozent
der Fälle einen Rückzieher.«
»Wie teuer ist denn dieser Ferrari?«, wollte LaBréa
wissen.
»Zweiunddreißigtausend Euro. Inklusive
Mehrwertsteuer.«
Erneut stieß Franck einen Pfiff aus.
»Das ist ja ein echtes Schnäppchen!«
»Ein Notverkauf«, fügte Silvain Frolet hinzu. »Der
Wagen hat sechzigtausend Kilometer auf dem Buckel, und der Besitzer
braucht Geld.«
»Wer ist der Besitzer?«
»Der Boss einer großen Werbeagentur. France
Publicité. Er hat den Wagen vor vier Jahren bei mir gekauft.
Brandneu. Aber seine Agentur hat Insolvenz beantragt. Ich habe ihm
geraten, den Wagen nicht zu verschleudern. Aber ihm steht das
Wasser wohl bis zum Hals.«
Er nannte Jean-Marc den Namen des Mannes, und der
Paradiesvogel notierte ihn.
»Hat dieser Kaufinteressent am Telefon noch mehr
gesagt? Wo er wohnt, um wie viel Uhr genau er vorbeikommen
wollte?«
»Wo er wohnt? Hat er nicht gesagt. Und eine
Telefonnummer hat er auch nicht hinterlassen. Er meinte, er käme so
gegen achtzehn Uhr. Ich sagte ihm, dass ich das Geschäft um sieben
Uhr schließen würde. Und ich sagte ihm auch, dass wir
Gebrauchtwagen nur gegen Barzahlung verkaufen. Also keine
Finanzierung, kein Ratenkauf. Er meinte, das sei kein
Problem.«
LaBréa blickte auf seine Uhr. Es war kurz nach
vier.
»Und sonst? Hat sich sonst noch jemand für einen
Ihrer Wagen interessiert, Monsieur?«
»Nein, leider nicht. Ich sagte ja bereits, im
Moment herrscht eine ziemliche Flaute.«
LaBréa nickte und überlegte. Sein Gefühl sagte ihm,
dass er hier am Ball bleiben sollte. Er hatte einen Plan.
»Hören Sie, Monsieur Frolet. Sie tun jetzt bitte
genau das, was ich Ihnen sage. Wir besprechen das am besten in
Ihrem Büro.«
Franck warf noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick
auf die beiden Luxuswagen und folgte dann den anderen ins Büro des
Autohändlers.
Nachdem er Silvain Frolet genaue Instruktionen
erteilt hatte, ging LaBréa mit seinen Mitarbeitern in ein nahe
gelegenes Bistro, um eine Kleinigkeit zu essen. Seit dem hastig im
Taxi verschlungenen, lauwarmen Stück Entenbrust am Mittag hatte
LaBréa nichts mehr gegessen und war entsprechend hungrig. Jean-Marc
und Franck ging es ähnlich, wobei Franck ohnehin jemand war, dessen
Appetit unersättlich schien. Zwischendurch aß er oft mehrere
Packungen Kekse, eine Tafel Schokolade, dick belegte
Sandwiches.
Um diese spätnachmittägliche Zeit herrschte in dem
Bistro gähnende Leere. Normalerweise servierte man hier erst ab
achtzehn Uhr wieder warmes Essen. Doch die Wirtin, eine blasse,
magersüchtig aussehende Mittdreißigerin, ließ sich zu einer
Ausnahme bewegen. Alle drei bestellten ein Minutensteak mit Pommes
frites, dazu Mineralwasser. Gegen halb sechs verließen sie das
Bistro und gingen zurück zum Autohaus Frolet. Unterwegs meldete
sich Claudine und teilte LaBréa mit, dass der Bordellbesitzer
Marcel Villiers »sauber« sei. Kein Vorstrafenregister, keine
sonstigen Auffälligkeiten. Außerdem stand das Kaliber der Waffe
fest, mit der Patrice Montana erschossen worden war.
»Neun-Millimeter-Parabellum, Chef.«
»Das hatte Franck schon vermutet. Der
Waffentyp?«
»Eine Smith & Wesson 5904. Die Ballistiker
haben mikroskopisch kleine Schrammen an der linken Seite der
Geschosshülse entdeckt.«
»Dann war die Waffe tatsächlich mit einem
Schalldämpfer versehen«, stellte LaBréa fest.
»Ja. Wenn wir die Tatwaffe finden, müssten diese
Schrammen eins zu eins auch im Pistolenlauf nachzuweisen
sein.«
»Richtig. Danke, Claudine.« Er steckte sein Handy
in die Tasche und blickte erneut auf die Uhr. Einen Moment lang
kamen ihm Zweifel, ob er und seine Leute in Erwartung eines
unbekannten Käufers, der sich für schnelle und teure Autos
interessierte, hier nicht ihre Zeit vergeudeten. Doch dann schob er
diesen Gedanken beiseite. Die Ermittlungen traten in eine
entscheidende Phase, das spürte er. Einen Beweis dafür gab es
nicht, doch LaBréa verließ sich auch dieses Mal auf seine
Intuition. Es konnte kein Zufall sein, dass irgendjemand im Umfeld
von Patrice Montana sich für schnelle Autos interessierte und am
Tag der Ermordung des Geschäftsführers einen Probefahrttermin bei
dem Autohaus verabredet hatte, dessen Telefonnummer am Tatort
gefunden worden war.
Die Gebrauchtwagen des Autohauses Frolet befanden
sich auf dem Parkplatz der Firma. Drei Ferrari-Modelle,
ein schwarzer Aston Martin DB9 Volante, zwei ältere Lamborghini
und ein Maserati-Viertürer waren vor der Front eines Nebengebäudes
akkurat nebeneinander geparkt. Ringsum trennten hohe Mauern den
Parkplatz von den anderen Grundstücken ab. Von der Straße her
gelangte man durch eine Toreinfahrt auf das Gelände. Gleich an der
Einfahrt gab es eine Schranke und ein altes Parkwärterhäuschen.
Silvain Frolet hatte gesagt, dass es nicht mehr genutzt würde, und
dass die Schranke automatisch bei Ein- und Ausfahrt aufging.
Der feuerrote Ferrari 360 Modena, für den sich der
unbekannte Anrufer interessierte, stand ganz rechts außen. Vom
Parkwärterhäuschen aus war er gut zu sehen.
Der Weg vom Parkplatz ins Autohaus, zu den
Büroräumen und dem Showroom, führte durch eine kleine Werkstatt,
die etwa fünfzig Meter vom Parkhäuschen entfernt lag. In der
Werkstatt herrschte im Moment kein Betrieb. Es gäbe zu wenig
Reparaturbedarf bei den Kunden, hatte Silvain Frolet gemeint.
Deshalb würden Reparaturen nur von mittwochs bis freitags
durchgeführt.
Sie teilten sich auf. LaBréa begab sich ins
Parkwärterhäuschen und nahm auf einem alten, dreibeinigen Schemel
Platz. Von hier aus konnte er den gesamten Innenhof überblicken.
Franck und der Paradiesvogel gingen ins Büro des Autohauses.
Jean-Marc tauschte sein buntes Outfit mit einem grauen Overall, der
dem
Mechaniker der Firma gehörte, und begab sich in die Werkstatt.
Dort hatte Silvain Frolet in der Zwischenzeit seinen Privatwagen,
einen schwarzen Ferrari California, das allerneueste Modell, auf
die Hebebühne gefahren. Jean-Marc sollte sich an dem Auto zu
schaffen machen und dabei den Hof unter Kontrolle behalten.
Franck, als echter Kenner der teuren Schlitten,
würde in die Rolle des Besitzers des gebrauchten Ferrari schlüpfen
und dem Unbekannten »seinen« Wagen zeigen und darüber fachsimpeln.
Dem Juniorchef des Autohauses war eingeschärft worden, sich auf
keinen Fall draußen zu zeigen, sondern in seinem Büro zu
warten.
LaBréa blickte auf die Uhr. Es war fünf vor sechs.
Würde der Mann pünktlich sein? Würde er überhaupt kommen?
Allmählich dämmerte es. Silvain Frolet schaltete
vom Büro aus Scheinwerfer an, die den Parkplatz mit den gebrauchten
Luxuswagen in kaltes Licht tauchten. Die Farbe des Himmels
wechselte von kräftigem Azur in ein samtenes Schwarzblau.
LaBréa zwang sich, ruhig zu bleiben. Irgendetwas
würde geschehen. Doch was? Um fünf nach sechs klingelte sein
Handy.
»Ich glaube, da kommt er«, flüsterte Jean-Marc.
LaBrea wusste, dass man durch das Fenster im oberen Teil der
Werkstatttür Richtung Showroom und Büro blicken konnte. »Jetzt geht
Franck auf ihn zu, Chef.«
»Danke, Jean-Marc. Funkstille, bis er bei Ihnen
durch die Werkstatt gegangen ist und hier im Hof ankommt.«
LaBréa schaltete sein Handy aus. Angestrengt
starrte er zum Eingang der Werkstatt. Er wusste nicht, wie viel
Zeit vergangen war. Plötzlich betrat Franck mit dem
Kaufinteressenten den Hof. Als die beiden zu den geparkten Wagen
gingen und LaBréa den Unbekannten besser ins Auge fassen konnte,
war er wie vom Donner gerührt.
Diesen Mann hatte er schon einmal gesehen! Seine
Gestalt, sein Gesicht, die Art, sich zu bewegen... Es gab keinen
Zweifel.
In Sekundenschnelle entschied er, was zu tun
war.
15. Januar 2002
Eines Tages, nicht in weiter Ferne, wartet
der Tod. Schon immer hat er gewartet, von Anfang an. Mick hatte
früh begriffen, dass es nur einen Weg gab, diese unumstößliche
Tatsache zu vergessen: die Zwischenzeit, die man Leben nennt, so
gut wie möglich zu nutzen. Und das wollte er tun, jetzt, nachdem er
alles hinter sich gelassen hatte und frei war.
Anfang Januar hatte er mit Mahmouds Familie
Kontakt aufgenommen und erfahren, dass sein Freund zu einer
dreiwöchigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Da er ein
Wiederholungstäter war, hatte der Richter keine Gnade walten lassen
und ihn wegen versuchten Einbruchs in einen PKW in den Bau
geschickt. Heute würde Mahmoud entlassen werden, und Mick befand
sich auf dem Weg zum Gefängnis, um ihn abzuholen.
Es hatte geschneit. Ein Himmel voller
milchiger Wolken ließ darauf schließen, dass noch mehr Schnee
fallen würde. Die Bürgersteige und Straßen waren noch nicht
geräumt, und die Autos schlingerten über die Boulevards. Zu Fuß
durchquerte Mick das 3., 4. und 5. Arondissement. Das Gefängnis La
Santé lag im
14. Arondissement. In dieser Gegend war er nie zuvor gewesen.
Seine Wege und diversen Aktionen führten ihn meistens ins 10. und
11. Arondissement. Seit geraumer Zeit mied er auch die Zone und die
bekannten Straßen in diesem Viertel.
Noch blieb Zeit. Um zehn wurde Mahmoud
entlassen, und die digitale Uhr über dem Eingang einer Apotheke in
der Rue Broca zeigte erst sieben nach neun an.
Vieles war geschehen in den letzten Tagen des
alten Jahres, dessen Ausklang er gleichmütig hingenommen hatte, wie
so vieles in seinem Leben. Am Silvestermorgen war er zum letzten
Mal durch die Zone geschlendert. Aus den Bistros und Boutiquen
erklang Weihnachtsmusik. Falsche Töne in einer falschen Zeit in
einem Leben voller falscher versprechungen... Auf einem Flugblatt,
das er unterwegs fand, warb ein griechisches Lokal mit einem
üppigen Silvestermenü und suchte zudem eine Küchenhilfe für den
Abend. Kurz entschlossen hatte Mick sich auf den Weg gemacht und
sich im Lokal vorgestellt. Es lag im 6. Arrondissement, gleich
hinter der Place St. Michel in der Rue de la Harpe, im griechischen
Viertel der Stadt. Der Wirt, ein dicker, rotnasiger Mann mit
buschigen Augenbrauen und einem starken Akzent, hatte ihm vier Euro
die Stunde angeboten und ihn gleich dabehalten. Mit einer
schmuddelig-weißen Schürze bekleidet hatte Mick in einer Ecke der
engen Küche bis zum frühen
Abend Gemüse und Salat geputzt. Schmierige Fettund Dunstspuren an
Decke und Wänden und ein Geruch nach ranzigem Öl und Knoblauch
gaben der Küche ihr typisches Flair. Der Koch, ein Schwarzer mit
blitzenden Goldzähnen im Oberkiefer, Chef von drei weiteren Köchen
und zwei Gehilfen, hatte ihn herablassend behandelt und ihm nach
dem Gemüseputzen nur noch Drecksarbeit zugewiesen. Er musste große
Fische schuppen und ausnehmen. Der Gestank war so überwältigend,
dass ihm speiübel wurde. Der eigentliche Stress begann zwei Stunden
vor Mitternacht. Das Lokal war brechend voll. Die Küchenbrigade kam
kaum nach mit den Bestellungen des Silvestermenüs, daszum größten
Teil aus Meeresfrüchten, deftigen Fleischspießen und ganzen
gebratenen Fischen bestand, garniert mit Salat, Paprika, Auberginen
und Bergen von Pommes frites.
Als um zwei Uhr die Küche schloss, fühlte
Mick sich so ausgelaugt und fertig wie nie zuvor in seinem Leben.
Auch das Rinderhacksteak mit Pommes frites, das er, ebenso wie das
Küchenpersonal, gegen achtzehn Uhr gegessen hatte, tröstete ihn
nicht darüber hinweg, dass der Wirt ihn schamlos ausgebeutet hatte.
Mick steckte den mageren Lohn ein und ging in die Nacht hinaus. Mit
ehrlicher Arbeit, also Hilfs- und Drecksarbeit, würde er seinen
Lebensunterhalt in Zukunft nicht verdienen, so viel stand fest.
Doch er wollte sein Erspartes zum Ende des Jahres noch ein wenig
aufstocken, und der Job beim Griechen war ihm da gerade recht
gekommen.
Die Straßen waren voller Menschen. Viele
hielten Champagnerflaschen in den Händen und prosteten einander zu.
»Frohes neues Jahr!«, schallte es übermütig von überallher.
Die Hände tief in die Taschen vergraben, ging
er in die Rue de Marseille. Dort, direkt am Ufer des Canal St.
Martin, befand sich sein neues Zuhause, eine verlassene
Wellblechhütte. Eine alte Schaumstoffmatratze, mehrere Decken aus
Armeebeständen, die er aus einem Obdachlosenheim hatte mitgehen
lassen, und ein mit Holz zu beheizendes Kanonenöfchen schufen so
etwas wie Heimeligkeit. Er war nie anspruchsvoll gewesen.
Irgendwann würden die Zeiten sich ändern. Dann würde er sich für
alles entschädigen. Denn die Zwischenzeit bis zum Tod, der auch ihn
einmal ereilen würde, wollte er nutzen. Mit allen Mitteln. Er
musste nur auf den geeigneten Moment warten.
Sein Erspartes befand sich in einem sicheren
Versteck außerhalb der Wellblechhütte. Niemand würde auf die Idee
kommen, in einer alten Regentonne nach Geld zu suchen. In der Tonne
stand das Wasser fast einen halben Meter hoch. Eine dunkle, faulig
riechende Brühe. Die Blechbüchse hatte er wasserdicht verpackt.
Jetzt, in den ersten Stunden des neuen Jahrs, holte er sie aus dem
nassen Versteck und legte den Lohn des Griechen dazu.
Der penetrante Küchengeruch aus dem Lokal,
der in seinen Kleidern steckte, hielt sich noch mehrere Tage. Der
Geruch nach Fisch, Armut und Scheitern. Doch er wollte nicht
scheitern. Er würde kein Loser sein. Wenn Mahmoud doch bloß schon
draußen wäre!
Vor dem Eingangstor zum Gefängnis La Sante
ging er mit gleichmäßigen Schritten auf und ab. Die Profilsohlen
seiner Stiefel hinterließen ein Muster im Schnee. In Abständen
wurde das Gefängnistor geöffnet, und ein Gefängniswagen fuhr hinein
oder heraus. Hinter den vergitterten Fenstern, die er gerade noch
so über den Mauern erkennen konnte, brannte vereinzelt Licht. Der
Tag war dunkel, und jeden Moment konnte es wieder anfangen zu
schneien.
Dann war es so weit. Das Tor öffnete sich,
und Mahmoud trat heraus. Seine bunte Wollmütze hatte er tief ins
Gesicht gezogen. Mick sah sofort, dass er in den drei Wochen Knast
abgenommen hatte. Seine Wangen wirkten eingefallen, die schwarzen
Augen lagen noch tiefer in den Höhlen. Mahmoud grinste.
»He! Kumpel! Das ist ja ’ne Überraschung!«
Aus der Tasche seiner gesteppten Jacke kramte er eine
zerknautschte, filterlose Zigarette und zündete sie an. Dann warf
er seinen armeefarbenen Rucksack über die Schulter und gab Mick
einen kräftigen Klaps auf den Rücken.
»Los, komm, das wird jetzt erst mal gefeiert,
Kumpel.«
Auf der Suche nach einer Kneipe gingen sie
durch die Rue de la Sante Richtung Boulevard Arago. Mahmoud hatte
in der Haft Pläne geschmiedet, wie sie beide ihre Geschäfte
fortführen konnten, und erzählte Mick unterwegs davon. Schon lange
hatte Mick sich nicht so gut gefühlt. Sein Freund war aus dem
Knast, er war nicht mehr allein, und bald würden sie ihre alten
Gewohnheiten wieder aufnehmen und nach allen Seiten expandieren.
Das Leben, diese erzwungene Zwischenzeit bis zum Tod, war voller
üppiger Überraschungen, wie ein Selbstbedienungsladen. Man musste
nur ins richtige Regal greifen.
Die Fußgängerampel an der Kreuzung zum
Boulevard stand auf Rot. Mahmoud scherte sich nicht darum und ging
über die Straße, während Mick kurz zögerte und nach links und
rechts blickte. In Sekundenbruchteilen geschah es dann. War es ein
grüner oder ein blauer Kombi, der von rechts über die Kreuzung
fuhr? Auch später konnte Mick sich nicht daran erinnern. Als der
Fahrer des Wagens Mahmoud erblickte, trat er auf die Bremse. Der
Kombi brach auf der schneeglatten Straße aus und rutschte mit
voller Wucht auf Mahmoud zu. Dieses Geräusch! Das Geräusch eines
auf der Kühlerhaube aufprallenden Körpers sollte Mick noch lange im
Gedächtnis bleiben.
Wie erstarrt war Mick an der Fußgängerampel
stehen geblieben. Als einige andere Autos anhielten, Menschen
zur Unfallstelle eilten und jemand sein Handy zückte, um den
Rettungsdienst und die Polizei zu rufen, lief Mick auf die Straße.
Sein Freund lag auf dem Rücken, die Arme um den Körper geschlungen,
als wolle er sich schützen. Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen
weit geöffneten, gebrochenen Augen, als wollte er sagen: So ist das
also, wenn man stirbt!
Irgendwann fragte jemand, ob er den
verunglückten kenne? Mick schüttelte den Kopf, stand langsam auf
und verließ den Unfallort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Etwas
war zerbrochen, unwiderruflich. Ein Abschnitt war zu Ende, ein
neuer würde beginnen. Mick hörte die Sirene des Rettungswagens, der
vom Krankenhaus Sainte Anne heranbrauste. Den Blick auf seine
Stiefel und die Spuren, die sie im Schnee hinterließen, gesenkt,
ging er ohne Ziel. Schmerz durchzuckte ihn. Er war immer noch frei,
aber allein. Und er ahnte, dass dieser Zustand lange anhalten
würde, vielleicht für immer.
Der Tag verging, und als die Dämmerung
anbrach, wusste Mick nicht, wo die Stunden geblieben waren. In
einer Métrostation hatte er sich aufgewärmt und einer Gruppe
russischer Musiker gelauscht, die zu Balalaika- und
Akkordeonklängen wehmütige Lieder aus ihrer Heimat sangen. Die
Musik brachte ihn auf eine Idee.
Es war bereits dunkel, als er den Weg zur
Wohnung seines Cousins einschlug.