14. KAPITEL
Eilig schritt LaBréa den Korridor entlang.
Die Tür zum Mitarbeiterbüro stand offen. Franck und Claudine
arbeiteten an ihren Computern. Jean-Marc telefonierte, beendete
jedoch gerade das Gespräch. LaBréa wandte sich an ihn.
»Wo ist der Barkeeper?«
»Der wartet im Konferenzraum«, erwiderte Jean-Marc.
»Der Geschäftsführer ist immer noch nicht zu erreichen.«
»Wo wohnt der Mann denn?«
»Direkt über dem Paradis in der Rue de
Lappe. Da war ich vorhin und hab geklingelt. Aber niemand hat
geöffnet. Vielleicht ist er gar nicht in der Stadt. Er hat heute
und morgen frei. Vom Barkeeper hab ich seine Handynummer. Doch da
läuft nur die Mailbox. Ich hab schon zweimal eine Nachricht
hinterlassen. Bisher hat der Typ noch nicht zurückgerufen.«
LaBréa gab Jean-Marc einen Wink, und die beiden
gingen in den Konferenzraum, wo der Barkeeper wartete. Jean-Marc
hatte ihm ein Glas und eine Flasche Wasser hingestellt, aus der
bereits kräftig getrunken worden war. Als LaBréa und der
Paradiesvogel den Raum
betraten, zeigte sich der Mann völlig überrascht und starrte
LaBréa ungläubig an.
»Sie sind der Commissaire?! Sie waren doch gestern
Abend bei uns im Lokal! Ich hab gehört, wie Sie dem Chef sagten,
Sie kämen...«
LaBréa unterbrach ihn.
»Aus der Auvergne, ich weiß. Aber das spielt jetzt
keine Rolle, Monsieur. Darf ich wissen, wie Sie heißen?«
Der Barkeeper, der heute ein Paar ausgebeulte
Jeans, ein verwaschenes Hemd und ein schlecht sitzendes
Tweedjackett trug, schien plötzlich genervt.
»Grégory Renard. Das hab ich alles schon Ihrem
Kollegen gesagt. Jetzt verraten Sie mir bitte, wieso Sie mich an
meinem freien Tag hier aufs Präsidium bestellen und dann
stundenlang warten lassen?«
»Nicht stundenlang, Monsieur«, warf der
Paradiesvogel ein. »Sie sind erst vor etwa einer Stunde hier
eingetroffen.«
Während LaBréa Gregory Renard gegenüber Platz nahm,
schlug Jean-Marc eine Mappe auf, die er mitgenommen hatte. Er schob
dem Mann das Foto der toten Griseldis Geminard zu.
»Kennen Sie diese Frau?«, fragte LaBréa.
Der Barkeeper nahm das Bild in die Hand und
betrachtete es. Er nickte.
»Ja, irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Wer ist
das?«
»Die Frau heißt Griseldis Geminard und kam laut
Zeugenaussagen regelmäßig am Sonnabend ins Paradis.«
Erneut nickte der Barkeeper.
»Ja, jetzt erinnere ich mich. Sie kam meistens mit
einer Freundin, etwa in ihrem Alter, vielleicht ein bisschen
jünger. Die beiden waren ständig auf der Tanzfläche.«
»Mit wem haben sie getanzt? Kannten Sie die
Männer?«
»Soweit ich mich erinnere, haben die beiden
hauptsächlich miteinander getanzt. In der Altersklasse ist
das durchaus üblich. Warum fragen Sie, Commissaire?«
»Weil diese Frau vorgestern Morgen tot aufgefunden
wurde«, entgegnete LaBréa.
Der Barkeeper stutzte einen Moment, verzog dann
jedoch gleichmütig die Lippen.
»Sehr bedauerlich für die Lady. Aber was habe ich
damit zu tun?«
»Sie wurde ermordet, Monsieur Renard. Und wir
beleuchten ihr gesamtes Umfeld. Wann haben Sie die Frau das letzte
Mal im Paradis gesehen?«
Der Barkeeper dachte kurz nach.
»So genau kann ich das nicht sagen. Ich bin am
Sonnabend gerade aus dem Urlaub zurückgekommen. Gestern Abend war
mein erster Arbeitstag.«
»Wo waren Sie denn?«, erkundigte sich Jean-Marc
beiläufig. Der Barkeeper sah ihn erstaunt an.
»Es geht Sie zwar nichts an, aber ich war bei
meiner Schwester auf Mallorca. Zwei Wochen. Mit dem Billigflieger,
wenn Sie es genau wissen wollen.«
LaBréa ließ nicht locker.
»Wann haben Sie Madame Geminard das letzte Mal
gesehen, Monsieur? Versuchen Sie sich zu erinnern.«
»Ich weiß es nicht. Ist sicher schon ’ne Weile her.
Und mit der Freundin kam sie schon lange nicht mehr.«
Erneut schaltete Jean-Marc sich ein.
»Haben Sie denn mal gesehen, dass sie sich mit
jemandem länger unterhielt? Oder verabredet war? Mit einem jungen
Mann vielleicht?«
Gregory Renard überlegte und schüttelte dann den
Kopf.
»Woher soll ich das wissen?« Er lehnte sich zurück
und strich über seine schief gewachsene Nase. »Denken Sie etwa,
dass die Frau von jemandem umgebracht wurde, der bei uns als Gast
verkehrt hat?«
»Wir denken gar nichts«, sagte Jean-Marc trocken.
»Beantworten Sie einfach unsere Fragen.«
»Das Paradis ist ein anständiger Laden,
Commissaire. Eine Institution in der Stadt, und zwar schon seit den
Zwanzigerjahren. Und noch nie wurden wir mit einem Mord in
Zusammenhang gebracht!«
LaBréa ging nicht darauf ein.
»Ich bitte Sie noch einmal, Monsieur, versuchen Sie
sich zu erinnern. Verließ die Frau auf dem Foto das
Lokal mal in Begleitung? Tanzte sie öfter mit demselben
Herrn?«
»Ich sagte doch schon, als sie mit der Freundin
kam, haben die beiden zusammen getanzt. Und danach ist mir nicht
aufgefallen, mit wem sie getanzt hat.«
LaBréa gab Jean-Marc ein Zeichen. Der Paradiesvogel
legte dem Barkeeper die Fotos von Annie Normand und Leonore Foures
vor, den beiden anderen Mordopfern.
»Haben Sie diese beiden Frauen schon einmal im
Paradis gesehen?«, fragte er.
Der Barkeeper sah sich die Fotos genau an.
»Nein«, sagte er schließlich. »Definitiv
nicht.«
»Noch eine letzte Frage, Monsieur Renard.« LaBréa
nahm die Fotos und gab sie Jean-Marc zurück. »Seit wann arbeiten
Sie denn im Paradis?«
»Seit Anfang 2007. Vorher war ich in
Marseille.«
»Auch als Barkeeper?«
»Ja. Aber in einer Disko.« Er grinste. »Aber da
wurde es mir zu stressig. Die laute Musik, Drogen, ausgeflippte
Kids...«
»Der Name der Disko?«
»Dschungel. Direkt an der Cannebiere.«
Das Gespräch mit dem Barkeeper hatte wenig
erbracht. Lediglich die Bestätigung, dass Griseldis Geminard
tatsächlich öfter im Paradis gewesen war. Nach dem Tod ihrer
Freundin war sie allein in das Lokal gekommen.
Ob sie dort ihren Mörder kennengelernt hatte, blieb weiter im
Dunkeln. Einen Hinweis darauf gab es nicht. Es konnte alles auch
ganz anders gewesen sein, und der Mörder war in einem völlig
anderen Umfeld zu suchen. In jedem Fall würden Gregory Renards
Angaben zu seinem Urlaub und seiner Tätigkeit in Marseille
überprüft werden. Das Wasserglas würde Jean-Marc gleich ins Labor
bringen, damit es auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren untersucht
wurde.
LaBréa war frustriert, als er mit Jean-Marc das
Konferenzzimmer verließ. Inzwischen war es kurz nach vier, und er
berief die Talkrunde ein. Vorher telefonierte er noch mit seiner
Tochter, die sich gerade auf dem Nachhauseweg von der Schule befand
und ausnahmsweise einmal nicht zum Fußballtraining ging.
»Na, wie war’s heute, Cherie?«
»Wir haben die Englischarbeit zurück.«
»Und?«
»Ich hab die zweitbeste Note, eine Zwei plus«,
sagte Jenny voller Stolz.
»Fantastisch! Herzlichen Glückwunsch. Wie hast du
das geschafft? Englisch ist doch sonst nicht gerade deine
Stärke.«
»Ich hab eben gelernt, Papa. Aber du kriegst so was
ja gar nicht mit, weil du immer nur arbeitest.« Es klang enttäuscht
und auch ein wenig vorwurfsvoll. Erneut rührte sich bei LaBréa das
schlechte Gewissen.
»Was soll ich denn machen, Jenny? In meinem Beruf
gibt es nun mal keine geregelten Arbeitszeiten.«
Jenny stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Ich weiß. Soll ich irgendwas zum Essen einkaufen,
Papa?«
»Nicht notwendig, Cherie. Ich sagte doch, wir gehen
heute Abend essen. Ins Gamin de Paris.«
»Oh, super! Hoffentlich haben sie als Nachtisch
diese tolle Apfeltarte.«
»Bestimmt. Die haben sie doch immer. Onkel Richard
kommt auch dazu. Er hat seinen Urlaub abgebrochen, weil Großmama
gestorben ist.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Dann
fragte Jenny mit leiser Stimme: »Papa, muss ich auch mit zur
Beerdigung?«
LaBréa wusste, warum seine Tochter diese Frage
stellte. Jenny hatte Angst, dass beim Begräbnis ihrer Großmutter
Erinnerungen an die Beerdigung ihrer Mutter vor einem Jahr in
Marseille aufsteigen könnten. Dennoch sagte er: »Ich denke schon,
dass du mitgehen solltest, Jenny. Sie war deine Großmutter, und du
warst ihr einziges Enkelkind. Auch nach dem Tod zollt man einem
Menschen, den man gekannt und auch geliebt hat, Respekt. Selbst
wenn du kaum Kontakt zu Großmama hattest.«
»Ich wollte ja bloß mal fragen«, erwiderte Jenny
kleinlaut. »Also dann, bis heute Abend! Und sag bloß nicht wieder
ab, weil dir irgendwas dazwischenkommt!«
»Keine Angst, mein Schatz, das Essen mit euch hat
heute absoluten Vorrang. Außerdem bekommst du ja noch deine zehn
Euro für die gute Englischnote.«
Kaum hatte die Talkrunde in LaBréas Büro begonnen,
rauschte Direktor Thibon herein. Wie immer hielt er es nicht für
nötig anzuklopfen. Er schien aufs Höchste aufgebracht, was
niemanden im Raum wunderte, da Roland Thibon als Choleriker galt.
Schon sein bloßes Erscheinen versetzte LaBréa und seine Leute in
Alarmbereitschaft. Selten verliefen die Gespräche sachlich und aufs
Wesentliche bezogen.
»Was haben Sie sich dabei gedacht, LaBrea?«, begann
Thibon ohne Umschweife. »Eben traf ich Couperin unten auf dem
Parkplatz. Und ich musste mir von ihm anhören, dass dieser Mordfall
an der alten Dame weite Kreise zieht und der Täter noch mehrere
andere Opfer auf dem Gewissen hat!««
»Nicht mehrere, Monsieur le Directeur, sondern
eins. Ein Fall aus dem Jahr 2003.«
»Wieso erfahre ich das erst jetzt? Und aus dem Mund
des Ermittlungsrichters und nicht von Ihnen?«
LaBréa ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Ich hatte mittags in Ihrem Büro angerufen, und
Ihre Sekretärin...«
Thibon unterbrach ihn wütend.
»Was glauben Sie, wie peinlich mir das vor Couperin
gewesen ist! Der wird jetzt wieder überall herumerzählen,
dass meine Leute mir systematisch Informationen
vorenthalten.«
»Davon kann keine Rede sein, Monsieur! Ich...«
Weiter kam LaBréa nicht.
»Halten Sie den Mund! Couperin muss von mir denken,
dass ich meinen Laden nicht in Ordnung halte!«
Jeder im Polizeipräsidium und im Justizpalast
wusste von der Intimfeindschaft zwischen Ermittlungsrichter
Couperin und Direktor Thibon. In der Vergangenheit hatte Thibon
bereits mehrfach versucht, Couperins Versetzung in die Provinz zu
lancieren. Doch der Gerichtspräsident, ein Mann mit Prinzipien und
klarem Urteilsvermögen, hatte diese Pläne stets vereitelt. Er
schätzte Couperins Arbeit, von Thibon hielt er dagegen nicht allzu
viel. Auch das war allgemein bekannt.
»Sie hätten mich übers Handy anrufen können,
LaBrea«, wetterte Thibon weiter. »Um mich zu informieren. Dann
hätte ich vor Couperin nicht wie ein dummer Junge dagestanden und
mir sein blödes Grinsen ansehen müssen!«
Allmählich kroch die Wut in LaBréa hoch. Wie er es
machte, war es verkehrt. Das alte Spiel zwischen Thibon und ihm.
Das LaBréas Vorgesetzter zwangsläufig immer gewann. Informierte
LaBréa ihn in einem frühen Stadium über den Stand der Ermittlungen,
war es meistens zum falschen Zeitpunkt. Tat er es nicht, fühlte
Thibon sich übergangen und veranstaltete ein Riesentheater.
»Ich erstatte Ihnen gern ausführlich Bericht,
Monsieur, wenn Sie es wünschen.«
»Was heißt ›wenn Sie es wünschen‹?! Das ist
schließlich Ihre verdammte Pflicht! Kommen Sie in einer halben
Stunde in mein Büro. Aber pünktlich! Denn Pünktlichkeit ist eine
Tugend, die ich sehr schätze, LaBrea. Auch wenn Honore de Balzac
schon vor über hundert Jahren gesagt hat: ›Tugend ist
vielleicht nichts als die Höflichkeit der
Seele.«‹
Beifallheischend blickte er in die Runde. Claudine
und Jean-Marc sahen den Direktor ausdruckslos an, während Franck
sich wegdrehte, weil er sich kaum noch das Lachen verkneifen
konnte. Thibon verließ LaBréas Büro und knallte die Tür hinter sich
zu.
»Womit haben wir das eigentlich verdient?«, stöhnte
Claudine. »Wenn er doch endlich die Karriereleiter hinauffallen
würde, damit wir ihn los sind!«
Jetzt prustete Franck los.
»Das erträgt man nur mit Humor«, sagte er. »Den
Spruch, den er da wieder losgelassen hat, den verstehe ich, ehrlich
gesagt, nicht so ganz. Klärst du mich mal auf, Jean-Marc?«
Jean-Marc winkte ab.
»Vergiss es. Ich bin nur froh, dass er sich nicht
wieder über meine Klamotten ausgelassen hat.«
LaBréa und seine Mitarbeiter tauschten sich über
ihre Erkenntnisse aus. Die Überprüfung der Telefonate auf
Griseldis Geminards Festnetzanschluss war für Franck ein
Kinderspiel gewesen. Die alte Frau hatte kaum telefoniert, und
Franck hatte die wenigen Anrufe rasch zurückverfolgen können. Es
handelte sich um Terminvereinbarungen bei ihrem Hausarzt und beim
Friseur. In einer Apotheke hatte sie ein Medikament bestellt, das
ihr von ihrem Arzt verschrieben worden war. Sie hatte keine
privaten Gespräche geführt und in den letzten vier Wochen selbst
nur einen einzigen Anruf erhalten: von der Verwaltung des Friedhofs
Père Lachaise, wo ihr Mann begraben lag. Die Grabplatte hatte sich
abgesenkt, und man wollte die Witwe darüber informieren, dass
entsprechende Arbeiten notwendig wurden.
»Kein Anruf von der Tochter Augustine?«, fragte
LaBréa. Franck schüttelte den Kopf.
»Nein, Chef.«
»Und Sie, Claudine? Wissen Sie schon
Näheres?«
»Ich warte auf Nachricht von Bill Waters aus New
York. So schnell geht das wahrscheinlich alles nicht. Dort ist ja
eine andere Zeitzone. Sie haben jetzt Montagvormittag.«
LaBréa rief Gilles von der Spurensicherung an und
erkundigte sich, wann mit dem Ergebnis der Spurenauswertung im
Stellwerk zu rechnen war.
»Frühestens morgen Mittag, Commissaire. Es wurde ja
ziemlich viel Material sichergestellt, was anscheinend seit Jahren
dort lag. Das ist eine Menge Arbeit.«
»Ich weiß, und ich will Sie auch nicht drängen.
Rufen Sie mich aber bitte sofort an, wenn sich was ergibt.«
»Natürlich. Wie immer, Commissaire.«
LaBréa wandte sich an Franck.
»Sie haben doch gute Kontakte zu den Kollegen von
der Sitte. Vielleicht kann sich einer von denen mal ein bisschen
umhören, ob vor acht bis zehn Jahren eine Prostituierte in der
Gegend um die Gare de Lyon verschwunden ist. Besonderheit: Sie
hatte ein Kind. Ich verspreche mir zwar nicht allzu viel davon,
aber wir wollen nichts unversucht lassen.«
»Wird gemacht.«
»Und Sie, Jean-Marc, bleiben bitte an Patrice
Montana, dem Geschäftsführer des Paradis, dran. Er hat sich
immer noch nicht gemeldet.«
»Okay, Chef.«
LaBréa blickte auf seine Uhr. Bis zum Termin mit
Thibon blieben ihm noch zehn Minuten.
»So, Schluss für heute«, sagte er, stand auf und
fuhr ironisch fort. »Der Schöngeist legt Wert auf Pünktlichkeit.
Und Pünktlichkeit ist eine Tugend. Und Tugend ist die Höflichkeit
des Herzens.«
»Der Seele, Chef«, verbesserte ihn der
Paradiesvogel. »Das ist ein großer Unterschied!« Womit er von allen
Seiten Lacher erntete.
Das Gespräch bei Direktor Thibon gestaltete sich
kurz und unerfreulich. Erneut überhäufte der Direktor LaBrea
mit Vorwürfen, bevor er sich seinen Bericht anhörte. LaBréa atmete
erleichtert auf, als Thibon ihn endlich entließ.
Ein zugezogener Himmel empfing ihn, als er sich auf
den Heimweg machte. Den ganzen Nachmittag über hatte es geregnet.
Jetzt war ein böiger Wind aufgekommen, der die Wolken vor sich
hertrieb. Nur vereinzelt fielen noch Regentropfen.
LaBréa ging am Rathaus vorbei, an dessen Fassade
vor vielen Monaten das überlebensgroße Porträt von Ingrid
Betancourt angebracht worden war. Eine digitale Tafel zeigte die
Anzahl der Tage, die seit der Gefangennahme der prominenten
Politikerin durch die kolumbianischen FARC-Rebellen vergangen
waren. Am heutigen Abend las LaBréa die Zahl 2102.
Zweitausendeinhundertundzwei Tage Geiselhaft im Dschungel
Südamerikas. Das waren fast sechs Jahre Gefangenschaft unter
unvorstellbaren Bedingungen. Vor wenigen Wochen hatten LaBréa und
Celine eine Petition für die Freilassung der Franco-Kolumbianerin
unterschrieben. LaBréa blieb einen Moment stehen und betrachtete
das schmale Gesicht der Frau. Als er weiterging, schienen ihre
Augen ihm zu folgen.
Eine Stunde später betrat er mit Celine und Jenny
das Gamin de Paris, wo ihn die Wirtin mit Handschlag
begrüßte und sie an einen Tisch am Fenster führte, den sein Bruder
reserviert hatte. Kurz darauf gesellte sich
Richard zu ihnen. Er sah erholt aus und war braungebrannt, was
jedoch nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass der Tod seiner
Mutter ihn sichtlich mitnahm. Die Brüder sprachen über die
Modalitäten des Begräbnisses und erinnerten sich an alte Zeiten in
ihrem Elternhaus. Céline und Jenny redeten über Jennys Klassenfahrt
nach Chartres, die nach den Herbstferien stattfinden sollte. Das
Essen war gut wie immer. Als Nachtisch gab es Jennys geliebte
Apfeltarte, eine Köstlichkeit, die nirgends so gut schmeckte wie in
diesem Restaurant.
Gegen zehn verließen sie das Lokal und spazierten
in die Rue des Blancs Manteaux. Céline verabschiedete sich und
verschwand in ihre Wohnung.
Als Jenny eine halbe Stunde später im Bett lag,
zeigte LaBréa seinem Bruder die Briefe des unbekannten Liebhabers
aus dem Nachlass von Lucia LaBréa. Richard war perplex. Auch er
hatte nichts von dem Geheimnis ihrer Mutter geahnt und den Mann nie
gesehen.
»Was machen wir mit diesen Briefen?«, fragte
Richard. »Bewahren wir sie auf?«
»Wozu?«, erwiderte LaBréa. »Wahrscheinlich werden
wir nie erfahren, wer dieser Bernard gewesen ist.«
»Dann vernichte sie, Maurice. Niemand braucht je
etwas davon zu erfahren.«
Wenig später verabschiedeten sie sich. Richard,
dessen Wohnung im 1. Arrondissement lag, würde in gut zehn Minuten
zu Hause sein. Er lebte wieder allein, denn seine Freundin Fanny
hatte ihn vor einigen Wochen verlassen. LaBréa schien es, als sei
er nicht allzu unglücklich darüber.
»Also dann, Maurice, bis Freitag.« Richard schlug
den Kragen seines Regenmantels hoch. »Elf Uhr, Haupteingang.«
LaBréa nickte. Für Freitag um elf Uhr war die
Bestattung ihrer Mutter auf dem Friedhof Montparnasse
angesetzt.
1. Dezember 2001
Wochen waren vergangen, und noch hatte sich
nichts geändert. Doch morgens, wenn er in der Spiegelscherbe über
dem Waschbecken sein Gesicht betrachtete, entdeckte er in seinen
Augen die Veränderung, die allmählich in ihm vorging. Härte lag in
seinem Blick, die kalte Überlegenheit desjenigen, der einen
Entschluss gefasst hat. Die Eintönigkeit seines Alltags würde bald
ein Ende finden. Das alles hier würde vorbei sein. Die gemeinsame
Zeit mit Dolly, die dahinfloss wie ein träger, dreckiger Fluss,
würde nur noch ein blasser Erinnerungsstreifen am Horizont
sein.
Mehr und mehr hatte er seinen Tagesablauf
verändert. In die Zone ging er nur noch selten und sagte Dolly
nichts davon. Mit seinem alten Schulfreund Mahmoud verband ihn
jetzt eine Art geschäftliches Interesse. Nach zähem Ringen hatte
dieser sich einverstanden erklärt, ihn bei jedem Raubzug mit
dreißig Prozent an den Erlösen zu beteiligen. Inzwischen gab es ein
festes Netz von Abnehmern und Zwischenhändlern für die Ware, die
weiterhin hauptsächlich aus elektronischen Gebrauchsgütern bestand.
Die alte Blechbüchse unter der Bohle nahe seiner Schlafstatt
war prallgefüllt. Die Ersparnisse beliefen sich auf knapp
zweitausend Euro. Ein schönes Startkapital. Er musste nur den
geeigneten Zeitpunkt abpassen und auf der Hut sein, dass Dolly den
Schatz nicht entdeckte.
Es war kalt geworden. Seit Tagen lag die
Stadt unter einer Schneedecke wie unter einem Schonbezug. Dolly
steigerte ihren Schnapskonsum, wobei ihr als Ausrede das kalte
Wetter diente, das ihr angeblich die Arbeit erschwerte. Tatsächlich
waren die nächtlichen Besucher seltener geworden und ihre Einnahmen
zurückgegangen. Vor einer Woche war sie mit einem ausgeschlagenen
Schneidezahn nach Hause gekommen und mit einem blauen Auge, das
sich inzwischen lila und gelb verfärbt hatte. Jean-Marie, einer
ihrer Stammkunden, ein grobschlächtiger Hüne und ehemaliger
Seefahrer, war im Suff ausgerastet. In letzter Minute hatte Dolly
aus Jean-Maries schäbiger Wohnung fliehen können und war am Ende
heilfroh, dass der Typ zu betrunken gewesen war, um sich an ihre
Fersen zu heften.
»Wie gut, dass ich den Kerl nie mit nach
Hause genommen habe«, sagte sie am nächsten Tag und grinste. »Einen
guten Blick für die Leute, den musst du in meinem Job schon haben.
Sonst gehst du drauf.«
Er hatte nichts erwidert und sie nur
angeekelt betrachtet. Ihr Teint war von stumpfer Farbe, und die
frische Zahnlücke ließ ihr Grinsen gehässig wirken. Dann hatte sie
sich abrupt weggedreht und ihn nicht
mehr beachtet, was ihm nur recht war. Er hatte sich seine Stiefel
zugeschnürt, die Mütze tief ins Gesicht gezogen und die Behausung
verlassen.
Auf dem Weg zu der Kneipe, in der er sich mit
Mahmoud treffen wollte, machte er einen Abstecher ins 11.
Arrondissement, wo sein Cousin wohnte. Der arbeitete seit kurzem in
einer Bar und hatte ihm vorgeschlagen, ihm hin und wieder kleinere
Jobs zu verschaffen. Da er nicht wusste, was damit gemeint sein
könnte, wollte er ihn jetzt fragen. Obwohl er sich nicht vorstellen
konnte, seine lukrativen Geschäftsbeziehungen zu Mahmoud für
lächerlich entlohnte Hilfsjobs aufzugeben. Doch da sein Cousin sich
ihm gegenüber immer mal wieder spendabel und großzügig gezeigt
hatte, wollte er ihm den Gefallen tun.
Die Mutter seines Cousins hatte sich
frühzeitig zu Tode gesoffen und nur mit Mühe ihr dreißigstes
Lebensjahr erreicht. Nach ihrem Tod war der kleine Sohn zunächst
ins Heim und dann zu Pflegeeltern gekommen, die ihn schlugen und
misshandelten. Mit sechzehn war er von dort abgehauen. Das Elend
seiner trostlosen Kindheit hatte jedoch nicht dazu geführt, dass
der Cousin auf die schiefe Bahn geriet. Schon als junger Mann hatte
er sein Geld mit ehrlicher Arbeit verdient und jeden Job
angenommen, den er bekam.
»He! Mick!«, begrüßte ihn der Cousin. Er trug
Schlafanzug und Morgenrock, was nicht weiter verwunderte
bei jemandem, der nachts arbeitete. »Na, hast du es dir
überlegt?«
»Was sind denn das für Jobs?«, fragte er ohne
großes Interesse.
»Na ja, dies und das. An der Bar wird immer
mal jemand zusätzlich gebraucht. Und nach ’ner Weile könnte ich
dich auch als Diskjockey unterbringen. Musik magst du doch,
oder?«
Mick zwang sich zu lächeln.
»Ehrlich, ich glaube, solche Jobs sind nichts
für mich.«
Der Cousin war enttäuscht.
»Du kannst doch nicht ewig in diesem Loch da
rumhängen«, meinte er. »Wird Zeit, dass du endlich in die Gänge
kommst. Sei froh, dass ich dir ’ne Chance gebe, Mick. Oder willst
du so enden wie deine Mutter? Auf dem Strich?«
Er spürte, wie der Zorn sein Gesicht heiß
werden ließ. Am liebsten hätte er seinen Cousin geschlagen.
Verdammt, so einer war er nicht! Er war keiner, der sich von
irgendwelchen Kerlen vögeln ließ. Lieber würde er verrecken, als
sich nachts in einschlägigen Gegenden herumzutreiben, wo alte
Knacker scharf auf seinen Arsch waren.
Er zügelte seinen Zorn, weil sein Cousin ihm
körperlich überlegen war. Und wer weiß, vielleicht würde er ihn
eines Tages doch noch brauchen...
Grußlos verließ er die Wohnung und steuerte
mit schnellen Schritten auf die Metrostation an der Ecke
zu. Er war spät dran. Mahmoud wartete sicher schon auf ihn. Und
der hasste nichts mehr als Unpünktlichkeit.
Mehrere Stufen auf einmal nehmend, rannte er
nach unten auf den Bahnsteig. Zum Glück fuhr gerade ein Zug ein.
Zwei Stationen, und er würde gerade noch rechtzeitig kommen.
Während der Zug sich ruckelnd in Bewegung
setzte, schoss ihm nur ein einziger Gedanke durch den Kopf, immer
wieder, wie in einer Endlosschleife.
Etwas würde geschehen. Schon sehr bald.