6. KAPITEL
Die Filiale der Bank Credit Lyonnais, bei
der Griseldis Geminard ihre Konten hatte, befand sich auf dem
Boulevard Beaumarchais. Von der Wohnung der Ermordeten in der Rue
Barbette bis zur Bank ging man normalerweise etwa zehn Minuten zu
Fuß. Eine alte Dame mochte etwas länger brauchen, vielleicht die
doppelte Zeit. Mit dem Wagen fuhr man mindestens eine
Viertelstunde, da aufgrund der vielen Einbahnstraßen Umwege
entstanden.
Franck lenkte den Wagen über die Rue des Francs
Bourgois. Sonnabends waren hier viele Menschen unterwegs.
Designerboutiquen, kleine Restaurants, Galerien und exquisite
Delikatessengeschäfte lockten Flaneure und Käufer an.
Nach dem Unwetter am Vormittag hatte sich der
Himmel aufgeklart, und das matte Oktoberlicht suchte sich zaghaft
einen Weg in die engen Straßen. Einige Sonnenstrahlen fielen ins
Wageninnere, als Franck an einer roten Ampel bremste, und tanzten
auf seinem Gesicht. LaBréa warf einen Blick auf seinen Mitarbeiter.
Hauptmann Franck Zechira, Spross einer algerischen
Einwandererfamilie, war wieder in seine alten Gewohnheiten
verfallen. Seine kurzgeschnittenen Haare klebten fettig am Kopf.
Mit dem Dreitagebart wirkten Francks Wangen scheckig und
eingefallen. Die speckige Lederjacke schien einiges durchgemacht zu
haben. Der beigefarbene Rollkragenpullover sah ausgeleiert und
schmuddelig aus. Ein unangenehmer Geruch nach Schweiß und
ungelüfteten Kleidern ging von ihm aus. Mit einem Wort: Franck
wirkte ungepflegt und leicht heruntergekommen. Im letzten Winter
hatte sich sein äußeres Erscheinungsbild für kurze Zeit schlagartig
verändert. Plötzlich trug er gut sitzende Bundfaltenhosen statt
seiner ausgewaschenen Jeans, kaufte sich schicke Hemden und duftete
nach einem edlen Rasierwasser. Damals war er bis über beide Ohren
in Dr. Helene Clement, die attraktive Gefängnisärztin der Sante,
verliebt gewesen. Dass diese Frau als zweifache Mörderin überführt
wurde, hatte Franck bis ins Mark erschüttert. Aufgrund seiner
persönlichen Verstrickung war er von den Ermittlungen
ausgeschlossen worden. Während einer Verhörpause hatte Helene
Clement auf der Damentoilette des Justizpalastes Selbstmord
begangen. Franck hatte einige Wochen gebraucht, um sich von dieser
Geschichte zu erholen. Ob er inzwischen wieder eine Freundin hatte,
wusste LaBréa nicht.
Als könnte Franck die Gedanken seines Vorgesetzten
lesen, wandte er den Kopf.
»Ist irgendwas, Chef?«, fragte er und runzelte die
Stirn.
»Nein, nein«, wehrte LaBréa ab. Hinter ihnen
ertönte lautes Hupen. »Es ist grün, Franck, Sie können
fahren.«
Franck trat aufs Gaspedal, und der Wagen schoss
nach vorn. Kurz darauf erreichten sie ihr Ziel und fanden nur
wenige Meter entfernt einen Parkplatz. Vor dem Eingang der
Bankfiliale standen zwei Männer und warteten. LaBréa zückte seinen
Dienstausweis und nannte seinen Namen.
»Jean-Pierre Caro«, stellte sich der Ältere der
beiden vor, ein untersetzter Mann mit blonder Igelfrisur. »Ich bin
der stellvertretende Direktor. Und das ist Monsieur Christian
Trichet, der Kassierer.« LaBrea reichte beiden die Hand. Der
Kassierer war hager und hoch aufgeschossen. Zu seinem gut
geschnittenen Anzug trug er ein rosa Hemd und eine grell gemusterte
Krawatte. Die Augen hinter der randlosen Brille blickten wachsam,
vielleicht ein wenig misstrauisch, so schien es LaBréa. Er schätzte
den Mann auf Ende zwanzig.
»Am besten gehen wir in mein Büro«, schlug der
stellvertretende Direktor vor. »Wir nehmen den Seiteneingang. Hier
entlang, bitte.«
»Ich würde lieber den Schalterraum sehen«,
erwiderte LaBréa. Jean-Pierre Caro nickte.
»Kein Problem, Commissaire.«
Im Schalterraum, der nicht sehr groß war, gab es
zwei Kassenschalter. Da alle Bankkunden beim Eintreten
eine Sicherheitsschleuse passieren müssen, hatte man bei den
Schaltern auf dicke Trennscheiben verzichtet. Die Kunden hatten
direkten Kontakt zu den Bankmitarbeitern. LaBréa wandte sich an den
Kassierer.
»Wie lange kannten Sie Madame Geminard?«
»Seit ich hier arbeite.« Er überlegte kurz. »Das
sind jetzt zwei Jahre.«
»Kam sie immer zu Ihnen, wenn sie Geld abheben
wollte?«
»Das weiß ich nicht. Ich war ja auch mal im Urlaub
oder hatte einen freien Tag. Aber jedes Mal, wenn ich Dienst hatte,
kam sie an meinen Schalter.«
»Welcher von den beiden ist das?«, wollte Franck
wissen.
»Von hier aus gesehen der rechte.«
LaBréa nickte.
»Erzählen Sie uns bitte, was gestern passiert ist.
Wann ist Madame Geminard gekommen?«
»Das war kurz vor zwölf. Sie war die letzte Kundin,
die die Bank betrat. Dann hat ein Kollege die Tür abgesperrt.
Mittags zwischen zwölf und zwei haben wir geschlossen, wie alle
Banken im Land.«
»War sie allein?«
»Ja. Sie kam an den Schalter und sagte, diesmal
müsse sie etwas mehr abheben als gewöhnlich. Ich fragte sie nach
der Summe, um die Auszahlungsanweisung ausfüllen zu können. Sie
sagte, sie brauche 25 000 Euro.« Der Blick des Kassierers wanderte
zwischen
seinem Chef, Franck und LaBréa hin und her. »Obwohl ihr Sparbuch
einen hohen Betrag auswies, fand ich das ungewöhnlich.«
»Weshalb?«
»Weil Madame Geminard bis dahin nie Geldbeträge
abgehoben hatte, die auch nur annähernd an eine solche Summe
heranreichten.«
»Sagte sie, wofür sie das Geld brauchte?«
»Nein. Und ich habe sie natürlich auch nicht
gefragt, weil mich das nichts angeht.«
»Und dann zahlten Sie ihr die Summe aus. In
welcher...«
Der Kassierer unterbrach LaBréa.
»Nein, nein, so war es nicht. Ich sagte der Kundin,
dass sie das Geld nicht sofort haben könne.«
»Warum nicht?«, fragte Franck. Er hatte sich an
einen der kleinen Kundentische gesetzt und hielt die wichtigsten
Fakten in seinem Notizbuch fest.
Bevor der Kassierer antworten konnte, schaltete
sich Monsieur Caro ein. Er lächelte verbindlich.
»Aus dem einfachen Grund, weil wir solche Summen im
Tresor nicht vorrätig haben. Wenn ein Kunde so viel ausgezahlt
haben will, muss er uns vorher Bescheid geben. Dann bestellen wir
den entsprechenden Betrag in den gewünschten Scheinen bei unserer
Zentrale.«
»Sie konnte das Geld also mittags nicht
mitnehmen?«
»So ist es«, sagte der Kassierer. »Ich bat sie,
gegen fünfzehn Uhr wieder vorbeizukommen.«
»Wie reagierte sie? War sie verärgert, unsicher, in
Eile, irgendetwas in der Art?«
Christian Trichet zuckte mit den Schultern.
»Da ist mir nichts aufgefallen. Ich hatte ihr ja
erklärt, dass wir einen solchen Betrag bestellen müssten. Sie
schien das zu verstehen und meinte, sie käme dann am Nachmittag
wieder.«
»Sie verließ also die Bank, ohne die gewünschte
Summe. Haben Sie bemerkt, ob draußen jemand auf sie gewartet hat,
sie abholte?«
»Nein. Ich sah, wie sie allein die Straße
überquerte. Dann bestellte ich telefonisch bei unserer Zentrale das
Geld und ging anschließend in meine Mittagspause.«
»Was geschah dann am Nachmittag? Wann kam Madame
Geminard zurück?«
»Das muss so gegen halb vier gewesen sein. Genau
weiß ich es nicht. Ich hatte mir kurz vorher einige Rollen Münzgeld
aus dem Tresor geholt.«
»Kam sie wieder allein?«
»Ja. Und ich führte sie nach hinten in einen
unserer Kundenräume. Summen ab 10 000 Euro zahlen wir aus
Sicherheitsgründen nicht am Schalter aus. Sie hatte mich gebeten,
ihr die 25 000 in vierzig Fünfhunderterscheinen und fünfundzwanzig
Zweihunderterscheinen zu bestellen. Sie zählte die Scheine
sorgfältig nach. Dann steckte sie das Geld in einen großen
Umschlag, den ich ihr gegeben hatte, und verstaute ihn.«
Franck überlegte kurz und blickte seinen Chef an.
»Das waren ja dann fünfundsechzig Scheine! Ein ganz schöner
Packen.« Er wandte sich an den Kassierer. »Passte der Umschlag denn
in ihre Handtasche?«
Ein feines Lächeln huschte über das Gesicht des
Kassierers.
»Sie werden es nicht glauben, meine Herren, aber
Madame Geminard packte den Umschlag in eine Plastiktüte, die sie
mitgebracht hatte. Eine Tüte der Supermarktkette Carrefour.«
LaBréa blickte ihn ungläubig an. »Sie legte 25 000
in eine Plastiktüte und spazierte so aus der Bank heraus?!««
»Ja. Als ich Bedenken äußerte, meinte sie, niemand
würde in der Plastiktüte Geld vermuten, und dass sie ohne Angst,
ausgeraubt zu werden, nach Hause ginge.«
»Erstaunlich.« Franck grinste. »Geradezu
raffiniert, würde ich sagen.«
Der stellvertretende Bankdirektor gab ihm
Recht.
»Allerdings. Alte Menschen sind oft cleverer, als
man vermuten würde.«
»Verließ sie dann die Bank durch den Schalterraum
oder durch den Eingang, den wir vorhin gekommen sind?«
»Durch den Schalterraum.«
»Waren zu dem Zeitpunkt viele Kunden da?«
»Vor der Kasse meiner Kollegin war eine kleine
Schlange.«
»Irgendjemand, der sich auffällig verhielt, Madame
Geminard beobachtete oder plötzlich nach ihr die Bank
verließ?«
»Mir ist nichts aufgefallen.«
LaBréa nickte. Niemand sagte etwas, bis sich der
stellvertretende Direktor räusperte.
»Glauben Sie, dass es ein Raubmord war,
Commissaire?«
LaBréa antwortete ausweichend.
»Wir stehen noch ganz am Anfang. Ach, noch etwas,
Monsieur Trichet: Waren es neue Scheine, die Sie ihr gegeben
haben?«
»Ich weiß, worauf Ihre Frage abzielt«, erwiderte
der Kassierer schnell. »Sie wollen wissen, ob es vielleicht
durchnummerierte Scheine gewesen sind?«
»Richtig.«
»Leider nein. Die Scheine waren gemischt. Einige
sahen neu aus, andere waren bereits durch viele Hände
gegangen.«
»Verstehe. Eine letzte Frage hätte ich noch: Hatte
Madame Geminard die alleinige Vollmacht über ihre Konten?«
»Natürlich.« Der Kassierer nahm die Brille ab und
rieb sich die Augen. »Das hätte ich Ihnen doch gleich als Erstes
gesagt, wenn Dritte Zugriff auf ihr Konto gehabt hätten.« Es klang
ein wenig entrüstet, und LaBrea
taxierte ihn kurz und scharf. Eine weitere Frage lag ihm auf der
Zunge.
»Nur der Ordnung halber, Monsieur Trichet. Sie
kannten Madame Geminard nicht privat, hatten keine wie auch immer
geartete Verbindung zu ihr außerhalb Ihrer Tätigkeit als
Bankkassierer?«
Der Mann zuckte kaum merklich zusammen.
»Wie darf ich das verstehen, Commissaire? Denken
Sie etwa...«
Franck unterbrach ihn.
»Wir denken gar nichts, Monsieur. Das sind reine
Routinefragen. Wann haben Sie heute Morgen hier angefangen?«
»Um neun.«
»Und vorher?«
»Vorher? Da war ich zu Hause.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Ich lebe allein.« Mit einer heftigen Geste setzte
der Kassierer seine Brille wieder auf und fuhr sich mit der Hand
über die Stirn, als sei ihm plötzlich der Schweiß
ausgebrochen.
Franck ließ sich noch Adresse und private
Telefonnummer von ihm geben, dann verließen er und LaBrea die
Bank.
Als sie in den Wagen stiegen, trübte kein Wölkchen
mehr den Himmel. Franck startete das Auto und kurbelte das Fenster
herunter.
»So ein Jammer«, murmelte er. »Ich könnte jetzt so
gut draußen in Longchamps sein.«
LaBréa ging nicht darauf ein. Jeder in der
Abteilung kannte Francks Leidenschaft für Pferdewetten. Sein Vater
besaß ein Wettbüro, und dort hatte der Sohn von Kindesbeinen an die
nötige Kenntnis erworben und sich so manches Zubrot verdient. Die
meisten Wochenenden verbrachte er auf den Rennbahnen von Vincennes
und Longchamps, wo er auch regelmäßig gewann. Franck seufzte noch
einmal tief und fuhr aus der Parklücke heraus. LaBréa schnallte
sich an.
»Was halten Sie von dem Kassierer, Franck?«
»Na ja, Typen mit rosa Hemd und bunter Krawatte
sind nicht mein Ding. Abgesehen davon finde ich ihn zu glatt und
irgendwie undurchsichtig.«
»Hm.« LaBréa nickte. »Es wäre nicht das erste Mal,
dass ein Bankangestellter in Versuchung gerät.«
»Zumal bei einer alten Frau, die er gut kannte.
Ihre Adresse war ihm bekannt, ihre persönlichen Lebensumstände,
ihre finanzielle Situation. Vielleicht ist er heute Morgen unter
irgendeinem Vorwand bei ihr aufgetaucht. Bevor er in der Bank
anfing. Und da sie wusste, wer er war, ließ sie ihn herein.«
»Zeit genug wäre gewesen. Und er hat kein
Alibi.
»Ich nehme ihn mal unter die Lupe, Chef.«
»Tun Sie das, Franck.«