13. KAPITEL
Um die Mittagszeit verlor der Tag seinen
schönen Schein. Wie es vorausgesagt worden war, verdunkelte sich
der Himmel, und es begann heftig zu regnen. Just zu dem Zeitpunkt,
zu dem LaBréa den Ermittlungsrichter treffen wollte. Sie hatten
sich im Petit Bofinger in der Rue de la Bastille verabredet,
einem Restaurant, das beide sehr schätzten. Couperin war in einer
anderen Ermittlungssache tätig und hielt sich ganz in der Nähe auf.
Im Anschluss an das Mittagessen wollte LaBréa einen Abstecher zur
Gare de Lyon machen und sich den Fundort der Leiche der unbekannten
Frau ansehen. Vielleicht konnte er Couperin überreden, ihn zu
begleiten.
Der Einfachheit halber fuhr er mit der Metro.
Couperin war mit seinem Dienstwagen unterwegs und könnte ihn mit
zurück ins Präsidium nehmen. Hoffentlich hatte sich das Wetter bis
dahin gebessert.
Im strömenden Regen eilte LaBréa zur Métrostation
Chätelet und nahm die Linie 1, die ihn direkt zur Bastille brachte.
Zur Mittagszeit waren die Züge überfüllt. LaBréa ergatterte einen
Sitzplatz an der Tür, gleich neben einer jungen schwarzen Mutter
mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Das Kind war nicht
älter als zwei Jahre und trug die afrikanische Zöpfchenhaartracht,
die von zwei pinkfarbenen Schleifen verziert wurde. Die Kleine
blickte LaBréa aus großen Augen an und lächelte. Als LaBréa das
Lächeln erwiderte, freute sie sich, und die Mutter strahlte.
Während der kurzen Fahrt dachte LaBréa an die Fotos
des Opfers, die auf dem Bahngelände gemacht worden waren. Brigitte
Foucart hatte sie, wie versprochen, sofort per Mail geschickt. Eine
skelettierte Leiche, die mehrere Jahre oberflächlich verscharrt im
Freien gelegen hatte, bot nie einen schönen Anblick. Die
allerersten Aufnahmen von der Toten zeigten die Knochen der linken
Hand, die unter den Schottersteinen hervorlugte und am Sonnabend
dazu geführt hatte, dass die Leiche von Gleisarbeitern entdeckt
wurde. Auf den Fotos, die nach der Freilegung des Leichnams
geschossen worden waren, sah LaBréa im Bereich der Rippen und des
Beckens verdickte Stellen. Waren es die Stoffreste, die noch an den
Knochen hafteten und von denen die Gerichtsmedizinerin gesprochen
hatte? Auf den Großaufnahmen des Kopfes waren deutlich die schweren
Verletzungen im oberen Bereich der Schädeldecke zu erkennen. Fotos
und Fundortskizze hatte LaBréa in einer Aktenmappe dabei, um sie
Couperin zeigen zu können.
Als der Zug an der Bastille hielt, schenkte er dem
kleinen schwarzen Mädchen ein letztes Lächeln und stieg aus.
Ermittlungsrichter Joseph Couperin saß an einem
etwas abseits stehenden Ecktisch im hinteren Teil des Restaurants
und studierte die Karte.
»Der Chef empfiehlt heute das Kaninchenragout mit
Feigen«, sagte er, als LaBréa ihm gegenüber Platz nahm. LaBréa
entschied sich ebenfalls für das Ragout, als Vorspeise nahm er ein
halbes Dutzend Austern. Nachdem der Kellner die Bestellung
entgegengenommen hatte, fasste LaBréa den Stand der Ermittlungen
zusammen. Bei der Erwähnung der beiden ungeklärten Morde aus den
Jahren 2003 und 2006 stutzte Couperin und sagte: »An die Fälle
erinnere ich mich vage. Sie wurden damals von meiner Kollegin
Mandarin bearbeitet, die inzwischen pensioniert ist. Aber Genaueres
weiß ich nicht. Nur, dass die Akten irgendwann geschlossen wurden
und Kollegin Mandarin nicht sehr glücklich war, das Handtuch werfen
zu müssen.«
Während die Vorspeisen serviert wurden, fuhr LaBrea
in seinem Bericht fort. Genüsslich nahm Couperin die Fischpastete
in Angriff, die er gewählt hatte, und hörte LaBréas Ausführungen
bis zum Ende zu, ohne ihn zu unterbrechen. Danach entstand eine
kurze Pause. LaBréa langte nach der letzten Auster auf der
Platte.
»Diese Tanzpaläste«, sinnierte Couperin, »die kenne
ich selbst, LaBréa.« Er schmunzelte, und seine Augen glänzten. »Ja,
ja. In den frühen Siebzigern ging ich mehr oder weniger regelmäßig
ins La Rose. Dort waren
ältere Herrschaften, Damen wie Herren, zwar in der Überzahl, doch
jüngere Leute verkehrten da manchmal auch. Aber dass junge Männer
ältere Frauen ausnehmen wollten oder gar abschleppten, das gab es
damals nicht. Man ging hauptsächlich aus einem Grund ins La
Rose: weil man ein nettes Mädchen kennenlernen wollte. Was
allerdings nicht so einfach war. Vergessen Sie nicht, zu der Zeit
gab es längst die Popmusik, und die wenigsten Mädchen wollten noch
Musettewalzer hören, geschweige denn danach tanzen. Den jungen
Männern in meinem Alter ging es ähnlich. Doch ich gehörte zu der
altmodischen Sorte. Als Fan von klassischer Musik konnte ich mich
schon mit den Beatles nie anfreunden. Und schon gar nicht mit
allem, was danach kam.« Gedankenverloren lächelte er. »Im Übrigen
habe ich meine spätere Frau nicht im La Rose kennengelernt,
sondern bei einem Konzertabend mit Swjatoslaw Richter in der Salle
Pleyel.«
LaBréa blickte Couperin aus den Augenwinkeln an und
vermied es, sein Erstaunen zu zeigen. Er hatte gar nicht gewusst,
dass der Ermittlungsrichter verheiratet war! Über sein Privatleben
sprach Couperin nie. In den Kreisen von Police Judiciaire und
Justiz galt er als eingefleischter Junggeselle. Lebte seine Frau
nicht mehr? War er von ihr getrennt? LaBréa fragte nicht
nach.
»Doch jetzt zum Prosaischen.« Couperin räusperte
sich und trank einen Schluck Wasser. »Wir haben zwei
Ermittlungsstränge, wenn ich das richtig sehe. Zum einen die Morde
an den beiden alten Damen. Wobei ich den Fall der Krankenschwester
am Montmartre von 2006 ausdrücklich nicht dazurechne. Da gibt es,
wie Sie mir sagten, bisher keine Indizien, die diese Tat mit den
beiden anderen Morden in Verbindung bringen.«
»Richtig, Monsieur.«
Couperin trank einen Schluck Wein.
»Und was den Fall an der Gare de Lyon angeht: Eine
junge Frau wird erschlagen und auf dem Bahngelände unter
Schottersteinen verscharrt... Vergessen Sie nicht, was das für eine
Gegend rund um den Bahnhof ist!«
LaBréa nickte und schob einen Bissen Ragout nach.
Das Kaninchenfleisch war zart, und die Feigen gaben dem Gericht
eine ungewohnte und interessante Note. Er wischte sich mit der
Serviette den Mund ab und sagte: »Ich weiß, was Sie meinen,
Monsieur. Die Bordelle in den Nebenstraßen der großen Boulevards.
Die Tote könnte eine Prostituierte gewesen sein. Nachdem ihr Mörder
sie erschlagen hatte, brachte er sie irgendwann später auf das
Bahngelände.«
»So könnte es sich abgespielt haben«, erwiderte
Couperin und wischte mit einem Stück Brot seinen Teller aus. »Und
wenn sie eine Prostituierte war, dann wird es sehr schwer sein,
über die Vermisstenkartei oder Ähnliches ihre Identität
herauszufinden. Wenn
eine Nutte verschwindet, schweigt die Branche. Die melden
niemanden als vermisst.«
»Sie hatte ein Kind, vergessen Sie das nicht. So
was fällt auf.«
»Ja, aber wissen wir, wie alt das Kind war? Hat es
überhaupt bei ihr gelebt? Starb es vielleicht schon im
Säuglingsalter? Wurde es von der Mutter weggegeben? Soweit ich die
Ausführungen von Dr. Foucart verstanden habe, kann nur nachgewiesen
werden, dass die Frau geboren hatte, aber darüber hinaus nichts.
Auch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen oder gar Zwillinge
waren. Wir wissen ja nicht einmal, ob es sich bei dem Opfer
überhaupt um eine Prostituierte handelte. Das ist eine reine
Vermutung, LaBréa.«
Sie gönnten sich noch ein Dessert und Kaffee, dann
verließen Couperin und LaBréa das Petit Bofinger. Auf
LaBréas Frage, ob der Ermittlungsrichter ihn zur Gare de Lyon
begleiten wollte, winkte Couperin ab.
»Schluchten, Türme, dichte Wälder, unterirdische
Gänge, die Schotterpiste eines Bahngeländes - das tue ich mir in
meinem Alter nicht mehr an. Noch dazu bei diesem Sauwetter. Nein,
nein, LaBréa. Sie berichten mir, wenn sich was Wichtiges ergeben
sollte. Und die Fotos des Skeletts will ich sowieso nicht sehen.
Sie haben mir ja alles erzählt.«
Der Regen hatte inzwischen aufgehört, doch die
Feuchtigkeit kroch in die Kleidung. Von der Bastille zur
Gare de Lyon war es mit der Metro nur eine Station. LaBréa ging
durch den Bahnhof ins seitlich gelegene Verwaltungsgebäude, wo sich
das Büro des Bahnhofsvorstehers befand. Der Mann hieß François
Petit und machte seinem Namen alle Ehre: Er war klein, untersetzt
und glatzköpfig. Über den Fund des Skeletts wusste er
Bescheid.
»Eine schreckliche Sache«, meinte er und blickte
LaBréa neugierig an. »Weiß man denn schon mehr?«
LaBréa hielt sich bedeckt. Als der
Bahnhofsvorsteher sagte, dass er ihn auf das Gelände begleiten
würde, lehnte LaBréa dankend ab. François Petit widersprach
vehement.
»Das kann ich nicht zulassen, Commissaire! Sie
müssen mehrfach Schienen überqueren, das ist zu gefährlich. Auf dem
gesamten Bahngelände trage ich die Verantwortung. Ich kann ja nicht
Ihretwegen alle Signale auf Rot stellen lassen.«
»Mehrfach die Schienen überqueren?«, fragte LaBrea
skeptisch. »Davon haben mir meine Kollegen nichts gesagt. Gibt es
keinen anderen Weg?«
Die Antwort kam zögernd.
»Doch, natürlich. Von der Allee de Bercy aus kommt
man auch dorthin.«
»Na also. Dann nehme ich diesen Weg.«
»Das Gelände ist eingezäunt. So ohne weiteres kann
es niemand betreten. Aber neben dem stillgelegten Stellwerk Nummer
7 ist eine Tür in den Zaun eingelassen.
Die Leute, die seinerzeit auf diesem Außenposten ihren Dienst
versehen haben, hatten auf diese Weise direkten Zugang und mussten
nicht den langen Weg über das gesamte Schienengelände nehmen. Ihre
Kollegen sind am Sonnabend auch von dort aus hineingekommen.«
»Ist diese Tür verschlossen?«
»Nein. Das Schloss ist seit Jahren kaputt.«
»Seit wie vielen Jahren?«
»Das weiß ich nicht. Anscheinend hat sich nie
jemand darum gekümmert, es zu reparieren oder auszutauschen.«
»Vielleicht ist es niemandem aufgefallen, weil das
Stellwerk stillgelegt ist. Wie lange eigentlich schon?«
»Mindestens seit fünfzehn Jahren, schätze ich. Das
war noch vor meiner Zeit. Und ich bin jetzt seit fast elf Jahren
hier. Seit langem schon werden Planung und Überwachung unseres
Fahrbetriebs per Computer gesteuert, von unserer elektronischen
Betriebszentrale aus.«
LaBréa nickte. Eine unverschlossene Tür, die auf
einen Teil des Bahngeländes führt, den niemand mehr betrat, weil
durch die moderne Technik die abseits gelegenen Stellwerke nicht
mehr gebraucht wurden. Hatte der Mörder der Unbekannten das
gewusst? War er möglicherweise Angestellter oder Arbeiter bei der
Bahn und hatte sich deshalb bestens ausgekannt? Eine weitere Frage
schien LaBréa wichtig.
»Kann man das Stellwerk betreten?«
Monsieur Petit zögerte: »Warum?«
»In seiner unmittelbaren Nähe wurde das Skelett
eines Menschen gefunden, der eines gewaltsamen Todes gestorben
ist«, meinte LaBréa nur trocken. »Ich würde mich also auch im
Stellwerk gern einmal umsehen.«
»Da werden Sie nicht viel finden, Commissaire. Wie
gesagt, das wird seit langer Zeit nicht mehr genutzt.«
LaBréa insistierte.
»Ist die Tür verschlossen? Gibt es einen Schlüssel
dazu?«
François Petit verzog unwillig die
Mundwinkel.
»Wenn Sie unbedingt darauf bestehen... Ich müsste
aber erst einmal nachfragen. Entschuldigen Sie mich bitte einen
Moment.«
Zehn Minuten später kam Petit mit einem verrosteten
Schlüssel einfacher Machart zurück.
»Der hier muss es sein, meinte einer unserer
Mitarbeiter, der schon sehr lange bei uns ist und selbst noch im
alten Stellwerk gearbeitet hat. Hier auf dem Schlüsselanhänger
steht auch ›Stellwerk 7‹.«
LaBréa ließ sich vorsichtshalber Namen und
Telefonnummer dieses Mannes geben.
»Ich nehme das auf meine Kappe, Commissaire«, fuhr
der Bahnhofsvorsteher fort. »Eigentlich müsste mein direkter
Vorgesetzter in der Zentrale die Sache absegnen. Aber angesichts
der Tatsache, dass auf unserem
Gelände ein Mord geschehen ist, kann ich das wohl
verantworten.«
LaBréa nahm den Schlüssel und reichte dem
Bahnhofsvorsteher die Hand.
»Danke, Monsieur.«
»Keine Ursache, Commissaire.«
»Ich bringe Ihnen den Schlüssel nachher gleich
zurück.«
»Gut. Ich hoffe, Sie finden problemlos den Weg auf
das Gelände. Ganz wichtig: Verlassen Sie die Allee de Bercy kurz
vor der Kreuzung Rue Rambouillet. Das Stellwerk liegt dann gleich
linker Hand.« Sein Lächeln wirkte enttäuscht. Vermutlich hatte er
LaBréa nur deshalb begleiten wollen, weil er sich weitere
Einzelheiten über den mysteriösen Leichenfund erhofft hatte.
LaBréa verließ den Bahnhof durch einen der
Haupteingänge, bog zweimal links ab und ging die Allee de Bercy
entlang. Die Gare de Lyon lag unweit der Seine, am rechten Ufer des
Flusses. Genau gegenüber, am linken Seineufer, befand sich ein
weiterer Pariser Bahnhof, die Gare d’Austerlitz. Rechts und links
säumten Häuser, Wohnblocks und Bürogebäude die Straße und
versperrten die Sicht auf das Gelände der beiden Bahnhöfe.
Unterwegs wählte er Francks Handynummer. Die
Verbindung war schlecht.
»Wo sind Sie denn, Chef?«, sagte Franck. »Ich kann
Sie kaum verstehen!«
»An der Gare de Lyon. Reden wir einfach lauter,
Franck. Was gibt es bei Ihnen?«
»Nicht viel Neues. Ich lasse die Liste der
Vermisstenanzeigen im Zentralregister rauf- und runterlaufen. Und
Claudine hat die ungeklärten Todesfälle und Selbstmorde
durchforstet. Nichts in dem besagten Zeitraum, was auf eine
dreißig- bis fünfunddreißigjährige Frau passen würde.« Es klang
resigniert.
»Es könnte ein Mitarbeiter der Bahngesellschaft
SNCF gewesen sein, der die Frau erschlagen hat.«
»Wieso?«
»Den Zugang zu dem Teil des Geländes, auf dem die
Tote gefunden wurde, kannten anscheinend nur Insider. Setzen Sie
sich mit der Bahnzentrale in Verbindung. Wir brauchen eine Liste
des gesamten Personals, das vor acht bis zehn Jahren an der Gare de
Lyon gearbeitet hat. Ganz gleich, in welcher Funktion.«
»Okay, ich rufe dort in der Personalabteilung
an.«
»Gut. Wissen Sie, ob Jean-Marc den Barkeeper und
den Geschäftsführer des Paradis ausfindig gemacht hat? Sind
die Leute schon im Präsidium?«
»Bisher nur der Barkeeper. Der Paradiesvogel nimmt
gerade seine Personalien auf.«
»Sagen Sie ihm, ich bin in einer halben bis drei
viertel Stunde da.«
Kurz bevor LaBréa die Kreuzung zur Rue Rambouillet
erreichte, tauchte links auf dem Bahngelände das alte Stellwerk
Nummer 7 auf. Die in den hohen Metallzaun eingelassene schwere
Eisentür war zunächst gar nicht zu sehen. Angrenzende Bürogebäude
sowie Buschwerk und wilde Hecken zogen sich am Zaun entlang und
versperrten auch den Blick auf den schmalen Weg dorthin. Wenig
später drückte LaBréa die verrostete Klinke herunter, und die Tür
öffnete sich mit einem lauten Quietschen. Es brauchte einige Kraft,
um sie so weit aufzustoßen, dass LaBréa das dahinterliegende
Gelände betreten konnte. Anhand der Skizze der Mitarbeiter der
Forensischen Osteologie machte er die Stelle ausfindig, an der das
Skelett gelegen hatte. Sie befand sich etwa dreißig Meter hinter
dem Stellwerk, wo ein großer, flacher Haufen alter Schottersteine
lag, und war von der Straße aus nicht einsehbar. Zur anderen Seite
blickte man auf die breite Schneise der Schienenstränge, über die
die Züge fuhren. Das permanente Rattern der Räder schluckte jedes
andere Geräusch.
Das ideale Terrain, einen Menschen nachts hier
umzubringen oder herzuschaffen, falls der Tatort woanders war,
dachte LaBréa. Einsam, schwer zugänglich und so gut wie
unbeleuchtet. Nach einem letzten Blick auf den verwitterten
Schottersteinhaufen ging er zum stillgelegten Stellwerk, einem
alten Backsteinbau mit Flachdach und einer Fensterfront im oberen
Teil. Vor der Eingangstür hatte sich allerlei Unrat angesammelt:
zerrissene Plastiktüten, leere Flaschen, verbeulte Coladosen.
LaBréa schob es mit dem Fuß beiseite und wollte den Schlüssel ins
Schloss stecken. Sofort sah er, dass er nicht passen würde, denn
die Tür war mit einem Zylinderschloss gesichert, das allerdings
nicht neu aussah. Hatte François Petits Mitarbeiter sich geirrt und
ihm den falschen Schlüssel ausgehändigt? LaBrea wählte die Nummer,
die der Bahnhofsvorsteher ihm gegeben hatte, und fragte den Mann
selbst. Der meinte, dass es keinen Zweifel gäbe: Der Schlüssel war
der richtige. Er könne sich nicht erklären, wieso er nicht
passte.
»Da muss irgendjemand das Schloss ausgetauscht
haben.«
LaBréa bedankte sich, wählte die Nummer der
Spurensicherung am Quai des Orfevres und ließ sich mit Gilles
verbinden.
»Ich brauche ein Technikerteam auf dem Gelände der
Gare de Lyon. Ja, genau dort, wo das Skelett gefunden wurde. Wir
müssen das alte Stellwerk unter die Lupe nehmen. Wie lange wird das
etwa dauern? Gut, ich warte hier auf die Kollegen.«
Es hatte wieder zu regnen begonnen. LaBréa schlug
den Mantelkragen hoch und spannte seinen Schirm auf. Er rief den
Bahnhofsvorsteher an und informierte ihn über die bevorstehende
Maßnahme. François Petit hatte von dem Malheur mit dem Schlüssel
bereits gehört.
»Brauchen Sie dazu nicht einen
Durchsuchungsbeschluss?«, fragte er. Seine Stimme klang aufgeregt.
»Ich will, dass alles seine Ordnung hat. Ich will keinen
Ärger!«
»Den kriegen Sie auch nicht«, beruhigte LaBréa ihn.
»Die Durchsuchung des Stellwerks ist eine zusätzliche Maßnahme in
einer Mordermittlung. Meine Kollegen waren bereits auf dem Gelände,
und jetzt könnten sich neue Erkenntnisse ergeben. Die Beschaffung
von Beweisen, die wir möglicherweise im Stellwerk finden, ist
legal. Sie können auch gern dazukommen, Monsieur. Allerdings
müssten Sie draußen warten, damit keine eventuell vorhandenen
wichtigen Spuren vernichtet werden.«
»Gut, ich komme dazu.«
Wenig später trafen zwei Männer und eine Frau der
Spurensicherung ein. Sie zogen ihre weißen Schutzanzüge über. Einer
von ihnen knackte das Zylinderschloss und öffnete die Tür. Die
junge Technikerin namens Corinne, mit der LaBréa schon öfter
gearbeitet hatte und die er sehr schätzte, reichte ihm die üblichen
Plastiküberschuhe, bevor er das Innere betrat. Ein Paar dünne
Gummihandschuhe hatte er bereits übergestreift.
Es war düster hier drinnen und die Luft so staubig
und trocken, dass LaBréa husten musste. Einer der Techniker
betätigte den Lichtschalter, doch ohne Erfolg.
LaBréa ließ sich eine Taschenlampe geben. Gleich
neben der Eingangstür entdeckte er einen alten Kleiderspind aus
Metall. Bis auf zwei Drahtbügel und einige Spinnennetze in den
staubigen Ecken war er leer.
Daneben wellte sich eine Luftmatratze, aus der die
Luft entwichen war. Obenauf lag eine zusammengeknüllte karierte
Decke.
Rechter Hand befand sich eine Toilette, deren Tür
schief in den Angeln hing und halboffen stand. Es handelte sich um
eine früher allgemein übliche Stehtoilette, wie es sie auch heute
noch in einigen alten Pariser Lokalen gab.
Keine Toilette für Frauen, dachte LaBréa spontan
und erinnerte sich, wie oft seine Mutter sich früher darüber
beklagt hatte, wenn sie in Restaurants und Cafes die Toilette
aufsuchen wollte und nur ein »Pissoir« vorfand, wie sie es
ausdrückte. Das kleine Waschbecken war schmutzig und rostig
verfärbt. Im Abfluss steckte ein dünnes Stück vertrockneter grüner
Seife. Auf dem Rand des Beckens lag eine Zahnbürste, deren
abgenutzte Borsten sich nach außen bogen. An der Wand hing ein
altes, vor Schmutz starrendes Handtuch, das einmal weiß gewesen
sein musste. Alles hier sah verdreckt, verstaubt und seit Jahren
unbenutzt aus.
Eine Wendeltreppe aus Metall führte hinauf in den
eigentlichen Stellwerksbereich. Als Erstes fiel LaBréa und den
Technikern oben die fleckige, löchrige Matratze auf, die in der
Mitte des Raums lag. Am Fußende, halb auf den Boden gerutscht, ein
Laken. Vorsichtig
hob LaBréa es an. Im Labor würde man es genauer untersuchen.
Seitlich vom Stellwerkspult stand ein billiger Plastiktisch mit
schmutzigen Tellern und Tassen, die aufeinandergestapelt waren.
Zwei wackelige Hocker, die einzige Sitzgelegenheit hier oben,
vervollständigten das Mobiliar.
Das alte Stellwerkspult mit seinen Knöpfen, Hebeln
und Signalanzeigen war von einer dicken Staubschicht überzogen,
schien aber vollständig erhalten. Durch die Fenster hatte man einen
weiten Blick auf das Bahngelände, auf dem reger Schienenverkehr
herrschte.
»Merkwürdig, dass hier oben eine Matratze liegt,
und unten eine Luftmatratze«, sagte Corinne. »Sieht aus, als hätte
hier jemand gewohnt.«
LaBréa nickte.
»Ja, aber anscheinend nicht in letzter Zeit. Nehmen
Sie alles gründlich unter die Lupe. Sie wissen, wonach wir suchen.
Gibt’s eine Chance, Material sicherzustellen, das noch verwertbar
ist?«
»Ich denke schon«, erwiderte Corinne. »Wir haben
Glück, dass es hier drinnen ziemlich trocken ist und die
Sonneneinstrahlung sich in Grenzen hält. Feuchte Räume,
Schimmelbildung und starker Lichteinfall vernichten DNA-Spuren. Mal
sehen, was wir an der Zahnbürste finden, an Bettlaken, Matratze,
Geschirr und so weiter. Andererseits könnten wir Pech haben, was
die Fingerabdrücke angeht.«
LaBréa wusste, was sie meinte.
»Ja, wenn die Luft zu trocken ist, sind sie kaum
mehr nachweisbar.«
»Tja, alles kann man nicht haben, Commissaire!«
Corinne grinste. »Aber wenn DNA nachzuweisen ist, wäre das ja schon
mal was.«
Die Techniker öffneten ihre Koffer mit den
Arbeitsmaterialien und machten sich ans Werk.
Von unten ertönte die Stimme des
Bahnhofsvorstehers.
»Commissaire?«
»Ich komme runter, Monsieur Petit.«
LaBréa ging nach unten, wo ihn François Petit mit
einem Gesicht empfing, in dem sich Neugierde und Ängstlichkeit
abwechselten.
»Und, irgendwas gefunden?«
»Kann ich noch nicht sagen«, erwiderte LaBréa
ausweichend. »Unsere Leute werden noch eine Weile beschäftigt sein.
Ich muss zurück zum Quai des Orfevres und nehme am Bahnhof ein
Taxi. Kommen Sie mit? Hier können Sie sowieso nichts tun. Die
aufgebrochene Tür wird nachher versiegelt.«
Der Bahnhofsvorsteher führte LaBréa übers
Schienengelände zurück in den Bahnhof. Der Weg war zwar kürzer,
aber wesentlich zeitaufwendiger, da ständig Züge in den Bahnhof
hinein- und wieder herausfuhren, so dass sie immer wieder warten
mussten, bis sie die Gleise überqueren konnten. Doch François Petit
kannte sich aus. Hin und wieder winkte ihm ein Zugführer aus dem
Führerstand seiner Lok zu.
Am Bahnhofsvorplatz setzte LaBréa sich in ein Taxi
und ließ sich zum Quai des Orfevres fahren. Unterwegs klingelte
sein Handy. Sein Bruder Richard war vor zwei Stunden in Paris
gelandet
»Das war der früheste Flug, den ich bekommen
konnte«, sagte er. »Wann ist Mamans Beerdigung?«
»Vermutlich am Freitag.«
Er gab Richard Namen und Adresse des
Bestattungsinstituts.
»Ich rufe da gleich an, damit ich Maman noch einmal
sehe«, meinte LaBréas Bruder. »Es gibt ja noch allerhand zu
besprechen, und ich kann mich in den nächsten Tagen um alles
kümmern. Wann können wir uns treffen, Maurice?«
»Wenn du willst, heute Abend. Ich gehe mit Celine
und Jenny zum Essen. Komm doch dazu. Und danach würde ich dir gern
ein paar Sachen aus Mamans Nachlass zeigen.«
»Ja, gut. Wohin geht ihr?«
»Ins Gamin de Paris. Ist quasi unser
Stammlokal. Gegen halb acht, acht.«
»Dann treffe ich euch dort.«
»Könntest du da anrufen und uns einen Tisch
reservieren lassen, Richie? Das wäre prima. Also, dann bis heute
Abend.«