2. KAPITEL
Um diese Zeit herrschte sonnabends in der Brülerie noch kein Betrieb. Die Gäste, die wochentags vor der Arbeit bei Francine noch schnell einen Kaffee tranken, blieben heute weg. Alissas Mutter stand hinter dem Tresen und blätterte in einer Tageszeitung. Als LaBréa ihr die Hand reichte und sie begrüßte, legte sie die Zeitung beiseite.
»Ah, Commissaire! Guten Morgen! Haben Sie die Mädchen zur Schule gebracht? Möchten Sie einen Kaffee?«
LaBréa nickte. Unauffällig musterte er Francine, die sich an der Espressomaschine zu schaffen machte. Sie sah übernächtigt aus und hatte in den letzten Wochen stark abgenommen. Ihr Haar hing stumpf und strähnig herab, ihre Kleidung wirkte nachlässiger als früher. Die Tatsache, dass ihr Mann sich Hals über Kopf in eine andere Frau verliebt hatte, war für sie völlig überraschend gekommen und hatte sie in eine tiefe Krise gestürzt. Wenige Tage nach der Scheidung hatte er dann seine neue Freundin geheiratet.
Francine stellte den Kaffee auf den Tresen, und LaBrea fragte vorsichtig: »Wie geht es Ihnen, Madame?«
Sie lächelte etwas verkrampft und atmete tief durch.
»Na ja, wie es einem so geht, wenn der Ehemann plötzlich den Turbo einlegt und sich ohne zu zögern in ein neues Leben katapultiert. Die schnellste Scheidung Frankreichs, hat mein Anwalt gesagt.« Ein depressiver Zug lag um ihren Mund. »Nicht mal drei Wochen, dann war er frei.«
LaBréa sah, dass ihre Hand zitterte.
»Verhält er sich denn korrekt?«, wollte er wissen. »Ich meine, finanziell, mit dem Unterhalt für Alissa?«
»Oh ja, da kann ich nicht klagen.« Es klang bitter. »Das läuft alles bestens. Er legt Wert darauf, als guter Vater dazustehen. In den Weihnachtsferien möchte er mit Alissa nach Martinique fliegen. Aber sie will nicht.«
»Weil seine neue Frau auch mitfliegt, nehme ich an.«
»Genau. Die beiden verstehen sich nicht.«
LaBréa biss in sein Croissant und gab zwei Stücke Zucker in den Kaffee.
»Sie hat auch keine Lust, die Wochenenden bei ihm zu verbringen«, fuhr Francine fort. »Weil er nie allein was mit ihr unternimmt.«
»Ich weiß«, sagte LaBréa. »Sie hat heute Morgen so etwas angedeutet. Reden Sie doch mal mit Ihrem Exmann.«
»Das kann ich mir sparen, das bringt gar nichts. Abgesehen davon, dass zwischen uns absolute Funkstille herrscht. Aber nicht durch meine Schuld. Er steht völlig unter dem Einfluss seiner neuen Frau. Sie lässt ihn praktisch keine Sekunde allein. Früher konnte er so was nicht ausstehen. Aber, na ja - ich weiß auch nicht, warum so viele Männer ab einem gewissen Alter glauben, all ihre früheren Überzeugungen über Bord werfen zu müssen, wenn eine junge Frau in ihr Leben tritt und den zweiten Frühling einläutet.«
Sie ließ sich ein Glas Wasser einlaufen und trank es in einem Zug leer. LaBréa nippte an seinem Kaffee und griff nach dem zweiten Croissant.
»Für Sie und Alissa tut mir das alles sehr leid«, sagte er mit vollem Mund. »Aber wenn ein Partner aus der Ehe ausbrechen will, ist es besser, man trennt sich. Zu kitten ist so etwas meistens nicht.«
»Das sage ich mir auch. Aber wenn einem plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird, kann einen kaum etwas trösten.«
Francines Worte versetzten ihm einen Stich. Er dachte an das unerfreuliche Telefonat mit Celine. Sie und Adrien saßen jetzt beim Frühstück. Schwelgten sie in Erinnerungen an alte Zeiten? Hatte Celine vergessen, wie sehr dieser Mann sie damals verletzt hatte? Was war in der letzten Nacht zwischen ihnen passiert? Der Gedanke daran war ihm unerträglich.
Wie schnell doch ein Partner bereit ist, den anderen zu betrügen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt, dachte er. Selbstmitleid ergriff ihn, ein Gefühl, das irgendwie guttat. Dass er selbst vor einigen Monaten den ersten Schritt zum Seitensprung getan hatte, sah er als fernes Ereignis an, das keine Bedeutung mehr für ihn hatte. Es erschien ihm gemein und ungerecht, dass Celine sich jetzt offenbar dafür rächte.
 
Er hatte gerade den Seinequai erreicht, als von Westen her eine dunkle Wolkenwand aufzog. Sie verschluckte die wenigen Sonnenstrahlen, die sich zwischenzeitlich zaghaft gezeigt hatten. Ein eigenartiges, beinahe gelbliches Licht fiel auf die Häuserfassaden.
LaBréa schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch und beschleunigte seine Schritte.
Sein Handy klingelte. Er fingerte es aus der Manteltasche. Es war Franck Zechira. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
»Morgen, Franck, was gibt’s?«, fragte LaBréa und blieb stehen.
Schweigend hörte er den Ausführungen seines Mitarbeiters zu.
»Gut«, sagte er dann. »Ist Dr. Foucart schon unterwegs? Aha. Und Claudine und der Paradiesvogel? Umso besser. Ich bin jetzt an der Place St. Gervais. Ich mache mich gleich auf den Weg und bin in zehn Minuten da.«
 
Der Straßenabschnitt vor der Hausnummer 15, Rue Barbette im 3. Arrondissement, war abgesperrt. Mehrere Polizeifahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht sowie ein Leichenwagen parkten vor dem Haus, einem Fin-de-Siecle-Gebäude mit dunkel verfärbter Sandsteinfassade.
Claudine wartete bereits auf ihn. In knappen Worten setzte sie LaBréa von den Ereignissen in Kenntnis.
»Der Name der Frau ist Griseldis Geminard, achtundsiebzig Jahre alt, verwitwet.«
»Griseldis?« LaBréa lachte. »Komischer Vorname. Klingt irgendwie altertümlich.«
»Mittelalter, Chef. Keltisch oder angelsächsisch, vermute ich.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Der Nachbar. Franck ist gerade bei ihm und befragt ihn. Die Tür war nur angelehnt, und er hat sie durch Zufall gefunden.«
»Gibt es eine Concierge in diesem Haus?«
»Ja, sie wohnt im Hinterhof. Aber sie ist übers Wochenende verreist, hat der Nachbar gesagt. Sonntags gegen sechs käme sie meistens wieder, meinte er.«
Sie stiegen die steinerne Treppe hinauf, die vom Hausflur in den zweiten Stock führte. Unterwegs begegneten sie dem Polizeifotografen, der LaBréa kurz begrüßte und ihm versprach, dass die Fotos in der nächsten halben Stunde auf LaBréas Rechner sein würden.
Die Wohnung der Toten, vier Zimmer, Küche und Bad, vermittelte einen Eindruck von Gediegenheit. Es gab antike Möbel und Teppiche, Glasvitrinen mit edlem Porzellan, bequeme, geblümte Polstermöbel. An den Wänden hingen alte Stiche und mehrere Stillleben in Öl. In einem Bücherregal entdeckte LaBréa juristische Fachliteratur. Die Menschen, die hier gewohnt hatten, hatten einen gehobenen, bürgerlichen Lebensstil gepflegt. Die Wohnung war in tadellosem Zustand, keins der Zimmer war durchsucht oder verwüstet worden, so dass auf den ersten Blick nichts auf einen Raubmord schließen ließ.
Der Leichnam lag auf dem Bett im Schlafzimmer, an dessen Längsseite ein Kleiderschrank aus gedrechseltem Nussbaumholz stand. Brigitte Foucart, die Gerichtsmedizinerin, hatte bereits mit ihrer Arbeit begonnen. Ganz gleich, wann in Paris ein Mord geschah, wenn der Fundort der Leiche in Brigittes Einsatzgebiet lag, war sie stets eine der Ersten am Tatort, meistens sogar noch vor LaBréa und seinen Mitarbeitern.
Die Tote trug ein auffälliges Seidenkleid und dazu passende lila Schuhe, von denen der linke unters Bett gerutscht war, genau wie die Handtasche der Frau aus schwarzem Krokoleder. Griseldis Geminard lag auf dem Rücken und hatte die Arme weit ausgebreitet.
Wie Christus am Kreuz, dachte LaBréa. Die alte Frau trug eine Perücke, die ihr halb vom Kopf gerutscht war. Durch ihre spärlichen weißgrauen, zu einem kurzen Mecki geschnittenen Haare schimmerte die helle Kopfhaut. Zunächst entdeckte LaBréa keine äußeren Verletzungen; es war auch kein Blut zu sehen. Er wartete, dass Brigitte Foucart sich äußerte.
»Sie wurde erdrosselt«, sagte diese im selben Moment, als ahnte sie LaBréas Gedanken.
»Womit?«
»Mit etwas sehr Weichem, vermute ich. Vielleicht ein Seidenschal, ein Tuch oder Ähnliches.«
Brigitte zeigte auf den Hals der Toten. Dort war nur eine leichte Verfärbung zu sehen.
»Es gibt keine ausgeprägten Strangulierungsmerkmale, wie bei einem Strick, einer Drahtschlinge oder einem Gürtel beispielsweise.«
LaBréa nickte. Dass das Opfer stranguliert worden war, erkannte er jetzt an anderen, typischen Anzeichen. An den Blutungen in den Augen der Frau, den Hämatomen im gesamten Kopfbereich. Ihr zartes Gesicht mit den fein geschwungenen Brauen, die auf altmodische Weise rasiert und mit einem dünnen Strich nachgezogen waren, ähnelte einem zerbrechlichen Puppenantlitz. Der schmale Mund war an der Oberlippe herzförmig geschminkt, damit er voller wirkte. In jüngeren Jahren hätte man sie wohl als hübsch bezeichnet. Jetzt durchzogen Kerben und Falten ihre welken Wangen, die Mundpartie und die Stirn, wie Risse in einem ausgetrockneten Flussbett. Die Haut unter dem Kinn hing schlaff herunter. Der gnadenlose Prozess des Alterns, dachte LaBréa. Irgendwann hat er uns alle im Griff...
»Ein Schal oder Ähnliches lag hier nirgendwo herum«, bemerkte Jean-Marc, der sich zu ihnen gesellt hatte. Wie stets war er schrill und bunt gekleidet, was ihm den Spitznamen »Paradiesvogel« eingebracht hatte.
Brigitte erhob sich und strich ihren Schutzoverall glatt.
»Vielleicht wurde die Mordwaffe, wenn ich das mal so sagen darf, wieder schön säuberlich zusammengefaltet und in den Kleiderschrank zurückgelegt«, bemerkte sie. »Ältere Damen besitzen oft eine ganze Sammlung von Tüchern und Seidenschals.«
»Das können wir ja feststellen.« LaBréa gab Claudine und Jean-Marc einen Wink. Beide begannen mit der Durchsuchung der Wohnung, wobei Claudine sich gleich den Kleiderschrank vornahm.
LaBréa wandte sich wieder an die Gerichtsmedizinerin. »Der Todeszeitpunkt, Brigitte?«
Die Antwort kam rasch.
»Lange liegt sie noch nicht hier, Maurice. Nur das Kiefergelenk ist schon starr. Rigor ortis, die Totenstarre, könnte also etwa eine halbe Stunde nach dem Exitus eingesetzt haben. Aber hier, sieh mal.« Die Gerichtsmedizinerin hob vorsichtig den Arm der Toten an. Die Gelenke ließen sich ohne Probleme bewegen. »Meiner Einschätzung nach ist sie höchstens zwei Stunden tot. Aber das ist natürlich noch nicht amtlich. Außerdem vermute ich, dass sie von hinten stranguliert wurde. Möglicherweise im Stehen. Sie ist eine kleine, zierliche Person. Für jemanden mit normaler Körperkraft war das kein Problem. Danach hat der Mörder sie aufs Bett gelegt. Hindrapiert, sozusagen.«
»Sie hatte sich schick gemacht,« sagte LaBréa nachdenklich. »Geschminkt, ihre Perücke aufgesetzt. Wollte sie ausgehen? So kleidet sich doch normalerweise niemand an einem regnerischen Oktobersonnabend.«
»Vor allem nicht schon morgens.«
LaBréa hob vorsichtig den Rocksaum des Kleides hoch. Wäsche und Strumpfhose der Toten schienen nicht in Mitleidenschaft gezogen. Fragend sah er Brigitte an.
»Sieht nicht so aus, als wäre sie vergewaltigt worden, oder?«
»Das ist auch mein erster Eindruck«, erwiderte diese. »Aber ich will erst die Autopsie abwarten. Man kann nie wissen. Heutzutage ist alles möglich.«
La Brea gab ihr Recht. Noch einmal betrachtete er den Leichnam und fragte sich, wer und aus welchem Grund an einem Sonnabendmorgen eine alte Frau erwürgen sollte? Er atmete tief durch.
»Dein persönlicher Eindruck, Brigitte?«
Die Gerichtsmedizinerin wiegte nachdenklich den Kopf.
»Na ja, wenn du mich so direkt fragst - ich denke, sie kannte ihren Mörder. Oder ihre Mörderin. Auch für eine Frau wäre es nicht schwer gewesen, sie zu töten, so zierlich, wie das Opfer ist. Keine Kampfspuren, soweit ich feststellen kann. Ganz offensichtlich hat sie sich nicht gewehrt. Und wenn, dann nur ganz schwach.«
»Das deckt sich mit meiner Vermutung. Die Tür wurde nicht aufgebrochen. Wahrscheinlich hat sie den Mörder hereingelassen, möglicherweise sogar erwartet.«
»Ich kann dir mehr sagen, wenn wir ihre Fingernägel auf Hautpartikel und Faserspuren untersucht haben.«
LaBréa nickte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Warum bringt jemand eine alte Frau um? In dieser Wohnung fehlt augenscheinlich nichts, und ein Sexualdelikt scheidet wohl auch aus.«
Brigitte zuckte nur mit den Schultern und gab ihren Leuten Anweisung, den Leichnam fortzuschaffen.

10. September 2001

Die Zeit strich durchs Zimmer, nimmersatt und geräuschlos. Es war kein richtiges Zimmer. Eher eine Behausung. Ein verschlag. Eine Schlafstatt. Ein Dach überm Kopf. Ein wenig Schutz in einer Welt, in der für ihn kein Platz reserviert worden war.
Mit weit aufgerissenen Augen lag er da und starrte in die Dunkelheit, die sich wie ein Schlund öffnete. Von fern drangen die immer gleichen Geräusche an sein Ohr. Manchmal kamen sie näher, dann entfernten sie sich wieder.
Die Luft war heiß und stickig, obwohl der Sommer zu Ende ging.
September. Eine Nacht im September. Eine Nacht wie viele andere in seinem Leben.
Wie viel Uhr mochte es sein? Er wusste es nicht, wollte es auch nicht wissen. Vor einer Weile war die Tür ins Schloss gefallen. Er hatte sich schlafend gestellt, als der Besucher sich über ihn beugte und sein stinkender Atem über seine Wangen strich wie ein giftgetränktes Tuch. Nachdem der Mann gegangen war, ertönten wenig später Dollys Schritte auf dem Holzfußboden. Sie ging zum Waschbecken, drehte den Hahn auf.
Er öffnete die Augen einen Spalt. Dolly wandte ihm den Rücken zu. Die weit ausgeschnittene Bluse glitt von ihren Schultern, die im Dunkeln seltsam schimmerten. Wie immer trug sie keinen Büstenhalter. Reglos beobachtete er sie. Dolly zog die Nase hoch und räusperte sich, als sie sich mit routinierten Bewegungen unter den Achseln und zwischen den Beinen wusch. Dann wurde der Wasserhahn abgedreht, und sie griff nach dem Handtuch, das auf dem Hocker neben dem Becken lag.
»Bist du wach?«, fragte sie ihn, doch ihre Stimme klang so, als erwarte sie keine Antwort. Und so antwortete er auch nicht, schloss nur rasch die Augen und tat weiter so, als schliefe er.
Ihre Schritte entfernten sich.
Er drehte sich zur Wand und seufzte. Etwas musste geschehen.
Er hörte, wie sie die Flasche aufschraubte. War es die zweite oder die dritte an diesem Tag? Billiger Fusel vom Discounter an der Ecke. Von draußen drangen die gewohnten Geräusche herein und mischten sich mit der Musik von der Kassette.
Endlich schlief er ein.
 
Als er am Morgen erwachte, saß Dolly am Küchentisch und reagierte kaum, als er sich zu ihr gesellte. Er beobachtete sie und schätzte ihre Stimmung ein. Ihre Augen blickten müde und resigniert aus schmalen Schlitzen. Die Schminke auf ihrem Gesicht war verlaufen, ihr Lippenstift verschmiert. Sie roch nach Schnaps und den typischen Ausdünstungen einer Frau.
»Such gleich als Erstes in den Abfalleimern«, sagte sie mit schleppender Stimme. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »In der Zone, da findest du massenhaft Zeugs. Komm ja nicht ohne irgendwas zurück!«
Er blickte durchs Fenster. Dichte Nebelschwaden verstellten die Sicht auf die Umgebung.
September. Sommerende.
Ein grauer, schrecklicher Tag. Ein Tag wie jeder andere in seinem Leben. Ohne Hoffnung, ohne Aussicht auf Besserung.
Etwas musste geschehen.