4. KAPITEL
Immer noch tobte das Unwetter über der
Stadt. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen rannte LaBréa die wenigen
Meter durch den strömenden Regen zum Wagen und warf sich hinters
Steuer. Bevor er losfuhr, wollte er noch kurz telefonieren. Er rief
in der Immobilienfirma seines Bruders Richard an. Die Sekretärin
meldete sich.
»Guten Morgen, hier ist Commissaire LaBréa. Können
Sie mir sagen, wo ich meinen Bruder erreichen kann,
Mademoiselle?«
»Morgen, Commissaire«, ertönte es vom anderen Ende
der Leitung. »Ihr Bruder ist in Trinidad. Moment, ich suche das
Hotel heraus.«
LaBréa wartete. Kurz darauf war die Sekretärin
wieder am Apparat. »Hotel Ambassadeur. Ich habe auch eine
Telefonnummer. Aber dort ist eine andere Zeitzone. Da unten ist es
jetzt vier Uhr früh.«
»Unsere Mutter ist heute Morgen verstorben. Ich
muss meinen Bruder unbedingt erreichen.«
»Oh, wie furchtbar! Die Sekretärin klang betroffen.
»Mein Beileid, Commissaire. Ich kann eine Mail ins Hotel schicken,
mit der Bitte, dass er Sie so bald wie möglich anruft.«
»Tun Sie das bitte, Mademoiselle. Vielen Dank.«
Einen Moment saß er bewegungslos im Auto und lauschte dem
klatschenden Geräusch des Regens, der auf die Frontscheibe schlug.
Wie gelähmt und hilflos fühlte er sich. Es gab Tage, da kam alles
zusammen: Beziehungsprobleme, eine Mordermittlung, die Nachricht
vom Tod eines geliebten Menschen. Er hätte gern Celine angerufen,
sie gebeten, ihm zur Seite zu stehen und ins Pflegeheim zu
begleiten. Doch er unterdrückte diesen Wunsch, obgleich er in einem
Winkel seines Herzens spürte, dass er sich kindisch und unreif
verhielt in seiner Eifersucht, die vielleicht völlig unbegründet
war. Doch es gelang ihm nicht, über seinen Schatten zu springen,
und er unterließ es, Celines Nummer zu wählen.
Auf dem Peripherique stand er zehn Minuten im
Stau. Die Scheibenwischer des Wagens bewältigten kaum die
Wassermassen, die unvermindert vom Himmel niederprasselten. Nachdem
er den Ort Creteil durchquert hatte, erreichte er einige Kilometer
später die Abzweigung zum Pflegeheim Château des Prés. Auf
dem Kiesweg, der zu dem Schloss aus dem 17. Jahrhundert führte, das
von einem privaten Konsortium gekauft und zum Pflegeheim
umgewandelt worden war, hatten sich große Pfützen gebildet.
Fontänenartig spritzte das Regenwasser hoch, als LaBréa den Wagen
in die Auffahrt lenkte. Die Koniferen und Buchsbaumhecken
im weitläufigen Park glänzten wie frisch poliert. Doch insgesamt
wirkte das Château des Prés trist und grau. Es entsprach
damit LaBréas Gemütszustand. Auf der Fahrt von Paris hierher hatte
die Trauer über den Tod seiner Mutter immer mehr Besitz von ihm
ergriffen. Aufgrund ihrer Alzheimer-Krankheit hatten er und sein
Bruder jederzeit mit ihrem Ableben rechnen müssen. Jetzt, da er die
Nachricht erhalten hatte, war ihr Tod etwas Konkretes, ein
plötzlicher tiefer Einschnitt in LaBréas Leben. Wenn ein Elternteil
stirbt, werden Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend wach.
So war es schon gewesen, als LaBréas Vater seinerzeit bei dem
Zugunglück ums Leben gekommen war. Auch heute tauchten unendlich
viele Bilder von früher auf. Seine Mutter, die ihm im Alter von
fünf Jahren bei einem Meeresurlaub das Schwimmen beibringt. Als sie
mit ihrem jüngsten Sohn Richard schwanger ist, bricht sie eines
Tages in der Wohnung ohnmächtig zusammen. Der achtjährige Maurice
wählt die Notrufnummer, und wenig später bringen Sanitäter die
Mutter ins Krankenhaus, wo das Brüderchen per Kaiserschnitt zur
Welt kommt. Die Küche in der Wohnung seiner Eltern im 14.
Arrondissement. Er sitzt am Tisch und sieht zu, wie seine Mutter
den Teig anrührt, aus dem sie wenig später einen Kuchen backen
wird. Der kleine Maurice darf die Schüssel auskratzen.
Plötzlich spürte LaBréa im Mund wieder den Geschmack von Vanille
und Cointreau, traditionelle
Bestandteile dieses Kuchenrezepts. Und dieser Duft, wenn der
irdene Napf im Ofen war! Später, mit fünfzehn, sechzehn Jahren,
holte er seine Mutter abends oft aus der Modeboutique ab, in der
sie arbeitete. Sie war eine große, schlanke Frau, die sich elegant
kleidete und nach der sich die Männer auf der Straße umdrehten. Er
war stolz, sich mit ihr zu zeigen. Einmal sah ihn ein älterer
Schüler aus der Abiturklasse, als er mit ihr durch die Rue de
Rennes ging. Am nächsten Tag sprach ihn der Junge auf dem Schulhof
an. »Die Braut gestern, wer war das denn? Deine große Schwester?
Klasse Frau, ehrlich!« Damals hatte LaBréa dies als Kompliment
aufgefasst und war puterrot geworden. Als er jetzt daran dachte,
musste er unwillkürlich lächeln. Das Verhältnis zu seiner Mutter
war immer vertraut und innig gewesen. Er wusste, dass er ihr
Lieblingssohn war, während Richard sich mehr zu seinem Vater
hingezogen fühlte. Leider verunglückte dieser tödlich, als Richard
gerade mal vierzehn war.
Ihre Krankheit hatte sich rasant entwickelt, ohne
große Vorzeichen, wie es sonst meist bei Alzheimerpatienten der
Fall ist. Es begann damit, dass sie den Hörer des schnurlosen
Telefons in den Kühlschrank legte und ihn dann stundenlang
verzweifelt suchte. Sie war selbst so geschockt darüber, dass sie
danach lange weinte. In den darauffolgenden Monaten vergaß sie
immer mehr Dinge, verwechselte Personen und
Begebenheiten. Es folgten eigenartige Wortverdrehungen und
zeitweilig Orientierungslosigkeit. Ein Arzt wurde zurate gezogen,
und die Diagnose stand schnell fest. Lucia LaBréa lebte noch einige
Monate in ihrer Wohnung, eine Pflegerin kümmerte sich mehrere
Stunden am Tag um sie, und ihr jüngster Sohn Richard besuchte sie
regelmäßig. Als sie in einer kalten Winternacht nur mit ihrem
Nachthemd bekleidet die Wohnung verließ und gegen drei Uhr früh von
einer Polizeistreife am Eingang zur Metrostation Montparnasse
aufgegriffen wurde, mussten die Brüder eine Entscheidung treffen.
LaBréa arbeitete zu der Zeit bereits bei der Police Judiciaire in
Marseille und hatte den Verlauf der Krankheit nur aus der Ferne
verfolgen können. Er nahm sich einige Tage Urlaub und fuhr mit
seiner Frau Anne, einer Ärztin, nach Paris. Gemeinsam suchten sie
einen Platz in einem Pflegeheim. Ein Kollege von Anne empfahl ihnen
das Château des Prés, und ein glücklicher Zufall wollte es,
dass binnen zehn Tagen dort ein Zimmer frei wurde. LaBréas Mutter
erhob keine Einwände gegen die Einweisung ins Heim. Ihr Zustand
hatte sich inzwischen so verschlechtert, dass sie apathisch wirkte
und sich immer mehr in ihrer eigenen Welt verlor. Der Welt des
Vergessens, der fortschreitenden Auflösung der Persönlichkeit. Ein
Leben ohne Erinnerung, so schien es, ohne persönliche Bindungen und
Bezüge, denn bald schon erkannte sie ihre Söhne nicht mehr.
War der Tod eine Erlösung für sie gewesen? LaBréa
wusste es nicht. Er scheute sich auch, dies zu beurteilen. Die
Alzheimer-Krankheit führt zur stetigen Auflösung und Zerstörung der
Gehirnzellen. Doch wer wusste schon, welche Empfindungen die
Kranken tatsächlich noch hatten? Sie konnten Schmerz spüren, so
viel war sicher. Und sie zeigten oft Emotionen, die einen kurzen
Blick auf ihren Seelenzustand erlaubten, so verwirrt und gezeichnet
er auch sein mochte.
LaBréa parkte den Wagen direkt vor dem Eingang und
rannte im Laufschritt die Stufen hoch. Im Gebäude stellte er sein
Handy auf lautlos. So konnte er Nachrichten empfangen und dennoch
ungestört sein.
Das Büro der Heimleiterin befand sich am Ende des
Korridors im Erdgeschoss. Muriel Weill war eine zierliche Frau von
Ende vierzig. Ihr Gesicht, blass und schmal, wurde von zwei
verschiedenfarbigen Augen dominiert. Bette Davis’ Eyes,
dachte LaBréa jedes Mal, wenn er sie sah. Es irritierte ihn stets
ein wenig, wenn er sie begrüßte und ein braungrünes und ein blaues
Auge ihn anblickten. Was auch heute der Fall war.
»Nochmals mein aufrichtiges Beileid, Monsieur«,
sagte sie, als sie sich aus ihrem Schreibtischsessel erhob und mit
ausgestreckter Hand auf ihn zuging.
»Danke, Madame Weill. Ich würde meine Mutter gern
sehen.«
»Natürlich. Kommen Sie, Commissaire.«
Die Heimleiterin begleitete LaBréa in einen
Seitenflügel des Chäteaus. Dort gab es einen Raum für
Verstorbene.
»Hier, bitte, Monsieur.« Muriel Weill öffnete eine
Flügeltür. Ein kalter Lufthauch wehte LaBréa entgegen, und ein
seltsamer Geruch lag im Raum. Eine Mischung aus Desinfektionsmittel
und irgendeinem Blumenduft, so schien es ihm.
»Ich lasse Sie allein«, sagte die Heimleiterin
leise und zog sich diskret zurück.
LaBréa schloss die Tür und verharrte einen Moment
reglos. Der Raum war groß und fast leer. Durch die verhängten
Fenster drang diffuses Licht herein. Das einzige Geräusch, das
LaBréa hörte, war das Trommeln des Regens an den Scheiben.
In der Mitte des Raums sah er den Leichnam seiner
Mutter auf einer Bahre. Langsam ging LaBréa näher. Sein Herz
klopfte, und eine plötzliche Furcht ergriff ihn. Es war die Furcht
davor, für immer Abschied nehmen zu müssen.
Lucia LaBréas Gesicht war von wächserner Farbe, die
Augen geschlossen, der Kiefer mit einem schmalen Tuch hochgebunden.
Sie trug ein weißes Totenhemd, und bis zur Taille hatte man sie mit
einem weißen Laken bedeckt. Auf den Handrücken der über der Brust
gefalteten Hände traten die Adern hervor, dunkelblau und dick. Der
Ehering am linken Ringfinger schien mit der fahlen Haut verwachsen.
Mit den eingefallenen
Wangen, den tiefen Falten und dem Mund, der LaBréa unnatürlich
schmal und klein erschien, wirkte sie plötzlich so alt, dass er
erschrak. So hatte er sie nicht in Erinnerung. Es war, als hätte
der Tod einen raschen, zusätzlichen Alterungsprozess ausgelöst. Vor
wenigen Wochen hatte er sie, zusammen mit Celine und Jenny, zum
letzten Mal besucht. Jenny, die ihre Großmutter nur als Kranke
kennengelernt hatte, war nur ungern mitgekommen und hatte sich nach
fünf Minuten mit dem neuesten »Harry Potter«-Band ins
Besucherzimmer zurückgezogen. Seine Mutter erkannte ihn auch
diesmal nicht. Als er ihr Grüße von Richard ausrichtete, fragte
sie: »Wer ist Richard?« Céline redete sie mit »Isabella« an. LaBréa
erklärte Céline später, dass Isabella die ältere Schwester seiner
Mutter war, die bereits in jungen Jahren an Leukämie gestorben war.
Es war ein trauriger Besuch gewesen, doch wahrscheinlich mehr für
die Besucher als für die Kranke, denn seine Mutter schien in ihrer
Welt nicht unglücklich zu sein.
Behutsam berührte er ihre kalte Hand und
betrachtete ihr Gesicht. In seiner Erinnerung verwandelte es sich
in das Gesicht der jungen Frau, die sie einmal gewesen war. Er
hörte ihr Lachen, vernahm ihre Stimme: »Maurice, kommst du zum
Essen?... Soll ich dich nochmal Vokabeln abhören, Maurice?...«
Er sah ihre schlanke, große Gestalt am Tag der Beerdigung seines
Vaters. Die beiden Brüder hatten die Mutter untergehakt.
So standen sie am Grab, und unter dem schwarzen Witwenschleier war
Lucia LaBréas Gesicht von Tränen überströmt.
Er beugte sich über sie und küsste sie auf die
Stirn und auf beide Wangen.
»Leb wohl, Maman«, flüsterte er, und seine Augen
füllten sich mit Tränen. »Danke für alles, und verzeih mir, dass
ich in den letzten Jahren so wenig Zeit für dich hatte. Ich werde
dich nie vergessen, und ich bin unendlich traurig...«
Er schluckte und zog ein Taschentuch aus der
Manteltasche. Seit Annes Tod hatte er nicht mehr geweint. Innerhalb
eines Jahres waren zwei geliebte Menschen für immer von ihm
gegangen. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, und in einem
Anflug von tiefer Verzweiflung schluchzte er laut auf.
Ein letztes Mal blickte er in das bleiche Antlitz
seiner Mutter, ein Bild, das er nun für den Rest seines Lebens in
sich tragen würde. Dann drehte er sich um und verließ den
Raum.
Auf dem Flur wischte er die Tränen weg und
versuchte sich zu fassen. Dann machte er sich auf den Weg ins Büro
von Madame Weill. Unterwegs warf er einen Blick auf sein Handy.
Eine Nachricht war eingegangen. Er hörte sie ab. Sein Bruder hatte
angerufen. »Gerade hat man mich geweckt«, ertönte seine Stimme von
weither. »Ich soll dich unbedingt anrufen, sagte man mir im Hotel.
Ist irgendwas mit Maman? Ruf
mich doch zurück. Mein Handy funktioniert hier nicht, aber ich
warte in meinem Hotelzimmer, bis dein Anruf kommt.« Die Nachricht
war vor zehn Minuten eingetroffen. LaBréa blieb stehen und wählte
die Nummer des Hotels, die sein Bruder ihm hinterlassen hatte. In
wenigen Worten teilte er Richard die Fakten mit. Der schien es
relativ gefasst aufzunehmen, doch LaBréa kannte seinen Bruder. Er
zeigte selten Emotionen, was nicht bedeutete, dass er keine
hatte.
»Ich nehme den nächsten Flug nach Paris«, sagte
Richard mit belegter Stimme. »Spätestens übermorgen bin ich zurück.
Auch ich möchte sie noch ein letztes Mal sehen.«
»Ich gebe dem Bestattungsunternehmen entsprechende
Anweisung. Guten Flug, Richie.«
Lucia LaBréa würde auf dem Friedhof Montparnasse
neben ihrem Mann im Familiengrab bestattet werden. Eine Gedenkfeier
im kleinen Kreis. LaBréas Mutter hatte in den letzten Jahren, noch
bevor sie ins Pflegeheim kam, sehr zurückgezogen gelebt und
außerhalb der Familie wenig Kontakte gepflegt. Schon vor längerer
Zeit war von den Brüdern alles geregelt worden, für den Fall ihres
Ablebens. Jetzt ging es darum, ein Bestattungsunternehmen zu
beauftragen. Mit Madame Weill besprach er das Notwendige, und sie
händigte ihm den Totenschein aus.
»Sie hat auf keinen Fall gelitten«, sagte sie.
»Falls das ein Trost für Sie ist, Monsieur.«
LaBréa nickte vage und vermied den Blick in ihre
»bunten« Augen.
»Was ist mit ihren Sachen?«, fragte er. »Wir hatten
ihr einen Karton mit Fotos, persönlichen Briefen und so weiter
mitgegeben, als sie zu Ihnen kam und wir ihre Wohnung aufgelöst
haben.«
Muriel Weill zeigte auf eine Pappschachtel, die
neben einem Aktenschrank stand.
»Hier. Sie können den Karton gleich mitnehmen, wenn
Sie wollen.«
Eine Viertelstunde später verließ er mit dem Karton
unter dem Arm das Pflegeheim. Der Regen hatte ein wenig
nachgelassen. LaBréa verstaute die persönlichen Sachen seiner
Mutter im Wagen, setzte sich hinters Steuer und verharrte einen
Moment regungslos. Plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass seine
Mutter zum Zeitpunkt ihres Todes nur wenige Jahre jünger gewesen
war als die Tote in der Rue Barbette. Zwei alte Frauen. Die eine
brutal ermordet, die andere sanft entschlafen. Griseldis Geminard
würde ihn beruflich beschäftigen, bis ihr Mörder gefunden war. Mit
seiner Mutter verband ihn ein ganzes Leben, auch über den Tod
hinaus, und die Trauer über ihren Verlust würde ihn vielleicht für
immer begleiten.
Er blickte auf die Uhr und fasste einen spontanen
Entschluss. Es war kurz nach zwölf. Mittagszeit. In seiner
Studienzeit und danach, als er seine Ausbildung bei der Polizei
begann, hatte er öfter mit seiner Mutter
in dem kleinen Restaurant Le Breton in der Rue Daguerre
gegessen, wenige Fußminuten von der Wohnung seiner Eltern entfernt.
Im Gedenken an seine Mutter würde er heute dort zu Mittag speisen.
Bis zur Talkrunde um vierzehn Uhr hatte er noch Zeit, und bis dahin
würde er die Ermittlungen in Sachen Griseldis Geminard aus seinem
Bewusstsein streichen.
Er verließ den Peripherique an der Porte d’Orléans
und parkte den Wagen zehn Minuten später unweit des Restaurants.
Als er den Motor abstellte, klingelte sein Handy. Es war Jenny, die
in die Mittagspause ging.
»Großmama ist heute Morgen gestorben«, berichtete
LaBréa zögernd. »Ich war gerade im Pflegeheim in Créteil.«
Jenny wusste nicht viel darauf zu sagen. Er konnte
es ihr nicht verübeln. Sie hatte eben keinen Bezug zu ihrer kranken
Großmutter gehabt, mit der sie nie ein vernünftiges Wort hatte
wechseln können, und die im Grunde ein fremder Mensch für sie
geblieben war.
»Kommst du nach deinem Fußballspiel nach
Hause?«
»Muss ich ja wohl«, maulte Jenny. »Alissa geht zu
ihrem Vater, und mit Pierre-Michel und Yannick allein habe ich
keine Lust, was zu unternehmen.« Pierre-Michel und Yannick waren
zwei Jungen aus Jennys Klasse.
»Ich versuche nicht allzu spät zu Hause zu sein«,
versprach LaBréa. »Also, bis dann.«
In den letzten eineinhalb Stunden hatte er kein
einziges Mal an Celine gedacht. Zu sehr war er durch den Tod seiner
Mutter in die Ereignisse und Begebenheiten seiner Kindheit und
Jugend eingetaucht. Erneut widerstand er der Versuchung, sie
anzurufen.
Als er den Wagen parkte, ließ er sich über die
Auskunft die Nummer eines Beerdigungsinstituts im 14.
Arrondissement geben. Er besprach die Modalitäten einer
Erdbestattung, die seine Mutter sich gewünscht hatte, und gab der
Geschäftsführerin Telefonnummer und Adresse des Pflegeheims.
Im Restaurant befanden sich nur wenige Gäste. Zum
einen, weil an einem Sonnabend die Angestellten aus den umliegenden
Büros als Mittagsgäste wegfielen. Zum anderen war es noch früh. Die
meisten Menschen in Paris aßen nicht vor dreizehn Uhr zu
Mittag.
Der Wirt begrüßte ihn freundlich und musterte ihn
forschend. Er war ein Hüne von einem Mann und wirkte mit seinem
schwarzen, gezwirbelten Schnauzbart, dem gelockten grauen Haarkranz
und der dunkelblauen Kellermeisterschürze wie aus einem anderen
Jahrhundert. LaBréa erkannte ihn sofort, während der Wirt offenbar
nicht wusste, wie und wo er LaBréa hinstecken sollte.
»Irgendwie kenne ich Sie, Monsieur«, meinte er in
seinem bretonischen Akzent und runzelte die Stirn.
LaBréa lächelte.
»Das letzte Mal war ich vor zwanzig Jahren hier bei
Ihnen. Mit meiner Mutter, Madame LaBréa. Wir haben öfter bei ihnen
gegessen.«
Das Gesicht des Wirts hellte sich auf.
»Ah, ja«, sagte er strahlend, »ich erinnere mich.
Eine elegante Dame, Ihre Mutter! Und an Sie erinnere ich mich jetzt
auch. Sie trugen damals ein Bärtchen, kleiner als meins.« Er lachte
und reichte LaBréa die Hand. »Schön, dass Sie wieder mal
vorbeischauen. Wollten Sie damals nicht zur Polizei? Hat das
geklappt?«
LaBréa nickte. »Ja, das hat geklappt. Ich bin
Commissaire bei der Police Judiciaire.«
Der Wirt spitzte anerkennend den Mund.
»Kompliment, Commissaire! Nicht gerade ein leichter
Job heutzutage.«
»Sie sagen es.«
»Ihre Mutter ist sicher stolz auf Sie. Sie kam
später immer noch regelmäßig hierher. Aber jetzt schon lange nicht
mehr.«
»Sie war seit vielen Jahren krank und in einem Heim
untergebracht. Und heute Morgen ist sie verstorben.«
»Das tut mir leid, Monsieur. Mein aufrichtiges
Beileid.«
»Danke.« LaBréa sah sich um. »Hier hat sich nicht
viel verändert. Wir hatten immer den Tisch dort hinten am Fenster.
Ist der jetzt reserviert?«
»Nein, Sie können sich da hinsetzen. Erwarten Sie
noch jemanden?«
»Nein. Ich bin allein und komme im Gedenken an
meine Mutter. Ich hoffe, Sie haben Ihre Karte nicht
gewechselt.«
Der Wirt lachte.
»Na, ein bisschen anders als vor zwanzig Jahren
sieht die Karte schon aus. Aber unsere Spezialitäten kann man immer
noch bestellen.«
»Wunderbar! Meine Mutter und ich hatten als
Vorspeise immer die Muschelsuppe und danach die Seezunge nach Art
des Hauses.«
»Können Sie alles noch haben, Monsieur. In der
Küche steht heutzutage zwar nicht mehr meine Frau, sondern unser
Sohn. Der hat ihre Rezepte eins zu eins übernommen. Was darf’s zu
trinken sein?«
LaBréa dachte einen Moment nach, doch er erinnerte
sich nicht an den Wein, den sie seinerzeit zum Essen bestellt
hatten.
»Was empfehlen Sie denn?«
»Na ja, es gibt drei Möglichkeiten: einen trockenen
weißen Bordeaux, einen Chablis oder einen Blanc de
Tourraine.«
LaBréa entschied sich für den Blanc de Tourraine,
einen seiner Lieblingsweine.
»Aber eins sage ich Ihnen gleich, Monsieur LaBréa:
Das geht alles aufs Haus.«
LaBréa wollte widersprechen, doch der Wirt ließ ihn
nicht zu Wort kommen.
»Nein, nein, da lasse ich nicht mit mir reden. Ihre
Mutter war viele Jahre Stammgast bei uns, da werde ich mich doch
nicht lumpen lassen und selbstverständlich dieses Erinnerungsessen
übernehmen.«
Er ging in die Küche, um die Bestellung
durchzugeben. Anschließend schenkte er hinterm Tresen zwei Gläser
Champagner ein und kehrte zum Tisch zurück.
»Hier, bitte«, er reichte LaBréa eins der Gläser.
»Zum Wohl. Auf dass Ihre Frau Mutter in Frieden ruhen möge!« Sie
stießen an, und LaBréa hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Rasch
trank er einen Schluck, um sich wieder in den Griff zu
bekommen.
Wenig später wurde das Essen serviert. Die
Muschelsuppe, mit Safran, einer Prise Piment und frischem Kerbel
verfeinert, wurde mit knusprigen Käsecroutons gereicht. Zu den
Seezungenfilets gab es eine Sahnesauce mit Zitronenmelisse, als
Beilage ein Zucchinigratin.
Es schmeckte köstlich. Es schmeckte tatsächlich wie
damals, als er mit seiner Mutter hier gespeist hatte. Einen Moment
lang gab LaBréa sich der Illusion hin, die Zeit würde stillstehen,
als lägen nicht all die Jahre dazwischen. In tiefer Dankbarkeit
kostete er diesen
Augenblick des stillen Genießens aus, im Gedenken an seine
verstorbene Mutter und an eine gemeinsame Zeit, die so viele Jahre
zurücklag. Die Welt mit all ihren Problemen draußen lassen, dachte
er, und sei es nur für die Dauer eines wunderbaren
Mittagessens.
Der Alltag würde ihn früh genug wieder einholen.
Bevor er ins Büro fuhr, wollte er den Karton mit dem Nachlass
seiner Mutter rasch in seine Wohnung bringen. Falls er im Hof
zufällig auf Céline traf, würde er ihr vom Tod seiner Mutter
erzählen. Keinesfalls würde er jedoch bei ihr klingeln und das
Gespräch mit ihr suchen. Im selben Moment ging ihm auf, wie stur
und borniert er sich verhielt. Nichts berechtigte ihn dazu, seiner
Freundin zu misstrauen. Es gab keinen Beweis, dass Celine ihn mit
diesem Adrien betrog, nur weil er bei ihr übernachtete. Doch er
konnte nicht aus seiner Haut. Noch nicht.