4. KAPITEL
Immer noch tobte das Unwetter über der Stadt. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen rannte LaBréa die wenigen Meter durch den strömenden Regen zum Wagen und warf sich hinters Steuer. Bevor er losfuhr, wollte er noch kurz telefonieren. Er rief in der Immobilienfirma seines Bruders Richard an. Die Sekretärin meldete sich.
»Guten Morgen, hier ist Commissaire LaBréa. Können Sie mir sagen, wo ich meinen Bruder erreichen kann, Mademoiselle?«
»Morgen, Commissaire«, ertönte es vom anderen Ende der Leitung. »Ihr Bruder ist in Trinidad. Moment, ich suche das Hotel heraus.«
LaBréa wartete. Kurz darauf war die Sekretärin wieder am Apparat. »Hotel Ambassadeur. Ich habe auch eine Telefonnummer. Aber dort ist eine andere Zeitzone. Da unten ist es jetzt vier Uhr früh.«
»Unsere Mutter ist heute Morgen verstorben. Ich muss meinen Bruder unbedingt erreichen.«
»Oh, wie furchtbar! Die Sekretärin klang betroffen. »Mein Beileid, Commissaire. Ich kann eine Mail ins Hotel schicken, mit der Bitte, dass er Sie so bald wie möglich anruft.«
»Tun Sie das bitte, Mademoiselle. Vielen Dank.« Einen Moment saß er bewegungslos im Auto und lauschte dem klatschenden Geräusch des Regens, der auf die Frontscheibe schlug. Wie gelähmt und hilflos fühlte er sich. Es gab Tage, da kam alles zusammen: Beziehungsprobleme, eine Mordermittlung, die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen. Er hätte gern Celine angerufen, sie gebeten, ihm zur Seite zu stehen und ins Pflegeheim zu begleiten. Doch er unterdrückte diesen Wunsch, obgleich er in einem Winkel seines Herzens spürte, dass er sich kindisch und unreif verhielt in seiner Eifersucht, die vielleicht völlig unbegründet war. Doch es gelang ihm nicht, über seinen Schatten zu springen, und er unterließ es, Celines Nummer zu wählen.
 
Auf dem Peripherique stand er zehn Minuten im Stau. Die Scheibenwischer des Wagens bewältigten kaum die Wassermassen, die unvermindert vom Himmel niederprasselten. Nachdem er den Ort Creteil durchquert hatte, erreichte er einige Kilometer später die Abzweigung zum Pflegeheim Château des Prés. Auf dem Kiesweg, der zu dem Schloss aus dem 17. Jahrhundert führte, das von einem privaten Konsortium gekauft und zum Pflegeheim umgewandelt worden war, hatten sich große Pfützen gebildet. Fontänenartig spritzte das Regenwasser hoch, als LaBréa den Wagen in die Auffahrt lenkte. Die Koniferen und Buchsbaumhecken im weitläufigen Park glänzten wie frisch poliert. Doch insgesamt wirkte das Château des Prés trist und grau. Es entsprach damit LaBréas Gemütszustand. Auf der Fahrt von Paris hierher hatte die Trauer über den Tod seiner Mutter immer mehr Besitz von ihm ergriffen. Aufgrund ihrer Alzheimer-Krankheit hatten er und sein Bruder jederzeit mit ihrem Ableben rechnen müssen. Jetzt, da er die Nachricht erhalten hatte, war ihr Tod etwas Konkretes, ein plötzlicher tiefer Einschnitt in LaBréas Leben. Wenn ein Elternteil stirbt, werden Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend wach. So war es schon gewesen, als LaBréas Vater seinerzeit bei dem Zugunglück ums Leben gekommen war. Auch heute tauchten unendlich viele Bilder von früher auf. Seine Mutter, die ihm im Alter von fünf Jahren bei einem Meeresurlaub das Schwimmen beibringt. Als sie mit ihrem jüngsten Sohn Richard schwanger ist, bricht sie eines Tages in der Wohnung ohnmächtig zusammen. Der achtjährige Maurice wählt die Notrufnummer, und wenig später bringen Sanitäter die Mutter ins Krankenhaus, wo das Brüderchen per Kaiserschnitt zur Welt kommt. Die Küche in der Wohnung seiner Eltern im 14. Arrondissement. Er sitzt am Tisch und sieht zu, wie seine Mutter den Teig anrührt, aus dem sie wenig später einen Kuchen backen wird. Der kleine Maurice darf die Schüssel auskratzen. Plötzlich spürte LaBréa im Mund wieder den Geschmack von Vanille und Cointreau, traditionelle Bestandteile dieses Kuchenrezepts. Und dieser Duft, wenn der irdene Napf im Ofen war! Später, mit fünfzehn, sechzehn Jahren, holte er seine Mutter abends oft aus der Modeboutique ab, in der sie arbeitete. Sie war eine große, schlanke Frau, die sich elegant kleidete und nach der sich die Männer auf der Straße umdrehten. Er war stolz, sich mit ihr zu zeigen. Einmal sah ihn ein älterer Schüler aus der Abiturklasse, als er mit ihr durch die Rue de Rennes ging. Am nächsten Tag sprach ihn der Junge auf dem Schulhof an. »Die Braut gestern, wer war das denn? Deine große Schwester? Klasse Frau, ehrlich!« Damals hatte LaBréa dies als Kompliment aufgefasst und war puterrot geworden. Als er jetzt daran dachte, musste er unwillkürlich lächeln. Das Verhältnis zu seiner Mutter war immer vertraut und innig gewesen. Er wusste, dass er ihr Lieblingssohn war, während Richard sich mehr zu seinem Vater hingezogen fühlte. Leider verunglückte dieser tödlich, als Richard gerade mal vierzehn war.
Ihre Krankheit hatte sich rasant entwickelt, ohne große Vorzeichen, wie es sonst meist bei Alzheimerpatienten der Fall ist. Es begann damit, dass sie den Hörer des schnurlosen Telefons in den Kühlschrank legte und ihn dann stundenlang verzweifelt suchte. Sie war selbst so geschockt darüber, dass sie danach lange weinte. In den darauffolgenden Monaten vergaß sie immer mehr Dinge, verwechselte Personen und Begebenheiten. Es folgten eigenartige Wortverdrehungen und zeitweilig Orientierungslosigkeit. Ein Arzt wurde zurate gezogen, und die Diagnose stand schnell fest. Lucia LaBréa lebte noch einige Monate in ihrer Wohnung, eine Pflegerin kümmerte sich mehrere Stunden am Tag um sie, und ihr jüngster Sohn Richard besuchte sie regelmäßig. Als sie in einer kalten Winternacht nur mit ihrem Nachthemd bekleidet die Wohnung verließ und gegen drei Uhr früh von einer Polizeistreife am Eingang zur Metrostation Montparnasse aufgegriffen wurde, mussten die Brüder eine Entscheidung treffen. LaBréa arbeitete zu der Zeit bereits bei der Police Judiciaire in Marseille und hatte den Verlauf der Krankheit nur aus der Ferne verfolgen können. Er nahm sich einige Tage Urlaub und fuhr mit seiner Frau Anne, einer Ärztin, nach Paris. Gemeinsam suchten sie einen Platz in einem Pflegeheim. Ein Kollege von Anne empfahl ihnen das Château des Prés, und ein glücklicher Zufall wollte es, dass binnen zehn Tagen dort ein Zimmer frei wurde. LaBréas Mutter erhob keine Einwände gegen die Einweisung ins Heim. Ihr Zustand hatte sich inzwischen so verschlechtert, dass sie apathisch wirkte und sich immer mehr in ihrer eigenen Welt verlor. Der Welt des Vergessens, der fortschreitenden Auflösung der Persönlichkeit. Ein Leben ohne Erinnerung, so schien es, ohne persönliche Bindungen und Bezüge, denn bald schon erkannte sie ihre Söhne nicht mehr.
War der Tod eine Erlösung für sie gewesen? LaBréa wusste es nicht. Er scheute sich auch, dies zu beurteilen. Die Alzheimer-Krankheit führt zur stetigen Auflösung und Zerstörung der Gehirnzellen. Doch wer wusste schon, welche Empfindungen die Kranken tatsächlich noch hatten? Sie konnten Schmerz spüren, so viel war sicher. Und sie zeigten oft Emotionen, die einen kurzen Blick auf ihren Seelenzustand erlaubten, so verwirrt und gezeichnet er auch sein mochte.
 
LaBréa parkte den Wagen direkt vor dem Eingang und rannte im Laufschritt die Stufen hoch. Im Gebäude stellte er sein Handy auf lautlos. So konnte er Nachrichten empfangen und dennoch ungestört sein.
Das Büro der Heimleiterin befand sich am Ende des Korridors im Erdgeschoss. Muriel Weill war eine zierliche Frau von Ende vierzig. Ihr Gesicht, blass und schmal, wurde von zwei verschiedenfarbigen Augen dominiert. Bette Davis’ Eyes, dachte LaBréa jedes Mal, wenn er sie sah. Es irritierte ihn stets ein wenig, wenn er sie begrüßte und ein braungrünes und ein blaues Auge ihn anblickten. Was auch heute der Fall war.
»Nochmals mein aufrichtiges Beileid, Monsieur«, sagte sie, als sie sich aus ihrem Schreibtischsessel erhob und mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging.
»Danke, Madame Weill. Ich würde meine Mutter gern sehen.«
»Natürlich. Kommen Sie, Commissaire.«
Die Heimleiterin begleitete LaBréa in einen Seitenflügel des Chäteaus. Dort gab es einen Raum für Verstorbene.
»Hier, bitte, Monsieur.« Muriel Weill öffnete eine Flügeltür. Ein kalter Lufthauch wehte LaBréa entgegen, und ein seltsamer Geruch lag im Raum. Eine Mischung aus Desinfektionsmittel und irgendeinem Blumenduft, so schien es ihm.
»Ich lasse Sie allein«, sagte die Heimleiterin leise und zog sich diskret zurück.
LaBréa schloss die Tür und verharrte einen Moment reglos. Der Raum war groß und fast leer. Durch die verhängten Fenster drang diffuses Licht herein. Das einzige Geräusch, das LaBréa hörte, war das Trommeln des Regens an den Scheiben.
In der Mitte des Raums sah er den Leichnam seiner Mutter auf einer Bahre. Langsam ging LaBréa näher. Sein Herz klopfte, und eine plötzliche Furcht ergriff ihn. Es war die Furcht davor, für immer Abschied nehmen zu müssen.
Lucia LaBréas Gesicht war von wächserner Farbe, die Augen geschlossen, der Kiefer mit einem schmalen Tuch hochgebunden. Sie trug ein weißes Totenhemd, und bis zur Taille hatte man sie mit einem weißen Laken bedeckt. Auf den Handrücken der über der Brust gefalteten Hände traten die Adern hervor, dunkelblau und dick. Der Ehering am linken Ringfinger schien mit der fahlen Haut verwachsen. Mit den eingefallenen Wangen, den tiefen Falten und dem Mund, der LaBréa unnatürlich schmal und klein erschien, wirkte sie plötzlich so alt, dass er erschrak. So hatte er sie nicht in Erinnerung. Es war, als hätte der Tod einen raschen, zusätzlichen Alterungsprozess ausgelöst. Vor wenigen Wochen hatte er sie, zusammen mit Celine und Jenny, zum letzten Mal besucht. Jenny, die ihre Großmutter nur als Kranke kennengelernt hatte, war nur ungern mitgekommen und hatte sich nach fünf Minuten mit dem neuesten »Harry Potter«-Band ins Besucherzimmer zurückgezogen. Seine Mutter erkannte ihn auch diesmal nicht. Als er ihr Grüße von Richard ausrichtete, fragte sie: »Wer ist Richard?« Céline redete sie mit »Isabella« an. LaBréa erklärte Céline später, dass Isabella die ältere Schwester seiner Mutter war, die bereits in jungen Jahren an Leukämie gestorben war. Es war ein trauriger Besuch gewesen, doch wahrscheinlich mehr für die Besucher als für die Kranke, denn seine Mutter schien in ihrer Welt nicht unglücklich zu sein.
Behutsam berührte er ihre kalte Hand und betrachtete ihr Gesicht. In seiner Erinnerung verwandelte es sich in das Gesicht der jungen Frau, die sie einmal gewesen war. Er hörte ihr Lachen, vernahm ihre Stimme: »Maurice, kommst du zum Essen?... Soll ich dich nochmal Vokabeln abhören, Maurice?...« Er sah ihre schlanke, große Gestalt am Tag der Beerdigung seines Vaters. Die beiden Brüder hatten die Mutter untergehakt. So standen sie am Grab, und unter dem schwarzen Witwenschleier war Lucia LaBréas Gesicht von Tränen überströmt.
Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn und auf beide Wangen.
»Leb wohl, Maman«, flüsterte er, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Danke für alles, und verzeih mir, dass ich in den letzten Jahren so wenig Zeit für dich hatte. Ich werde dich nie vergessen, und ich bin unendlich traurig...«
Er schluckte und zog ein Taschentuch aus der Manteltasche. Seit Annes Tod hatte er nicht mehr geweint. Innerhalb eines Jahres waren zwei geliebte Menschen für immer von ihm gegangen. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, und in einem Anflug von tiefer Verzweiflung schluchzte er laut auf.
Ein letztes Mal blickte er in das bleiche Antlitz seiner Mutter, ein Bild, das er nun für den Rest seines Lebens in sich tragen würde. Dann drehte er sich um und verließ den Raum.
Auf dem Flur wischte er die Tränen weg und versuchte sich zu fassen. Dann machte er sich auf den Weg ins Büro von Madame Weill. Unterwegs warf er einen Blick auf sein Handy. Eine Nachricht war eingegangen. Er hörte sie ab. Sein Bruder hatte angerufen. »Gerade hat man mich geweckt«, ertönte seine Stimme von weither. »Ich soll dich unbedingt anrufen, sagte man mir im Hotel. Ist irgendwas mit Maman? Ruf mich doch zurück. Mein Handy funktioniert hier nicht, aber ich warte in meinem Hotelzimmer, bis dein Anruf kommt.« Die Nachricht war vor zehn Minuten eingetroffen. LaBréa blieb stehen und wählte die Nummer des Hotels, die sein Bruder ihm hinterlassen hatte. In wenigen Worten teilte er Richard die Fakten mit. Der schien es relativ gefasst aufzunehmen, doch LaBréa kannte seinen Bruder. Er zeigte selten Emotionen, was nicht bedeutete, dass er keine hatte.
»Ich nehme den nächsten Flug nach Paris«, sagte Richard mit belegter Stimme. »Spätestens übermorgen bin ich zurück. Auch ich möchte sie noch ein letztes Mal sehen.«
»Ich gebe dem Bestattungsunternehmen entsprechende Anweisung. Guten Flug, Richie.«
Lucia LaBréa würde auf dem Friedhof Montparnasse neben ihrem Mann im Familiengrab bestattet werden. Eine Gedenkfeier im kleinen Kreis. LaBréas Mutter hatte in den letzten Jahren, noch bevor sie ins Pflegeheim kam, sehr zurückgezogen gelebt und außerhalb der Familie wenig Kontakte gepflegt. Schon vor längerer Zeit war von den Brüdern alles geregelt worden, für den Fall ihres Ablebens. Jetzt ging es darum, ein Bestattungsunternehmen zu beauftragen. Mit Madame Weill besprach er das Notwendige, und sie händigte ihm den Totenschein aus.
»Sie hat auf keinen Fall gelitten«, sagte sie. »Falls das ein Trost für Sie ist, Monsieur.«
LaBréa nickte vage und vermied den Blick in ihre »bunten« Augen.
»Was ist mit ihren Sachen?«, fragte er. »Wir hatten ihr einen Karton mit Fotos, persönlichen Briefen und so weiter mitgegeben, als sie zu Ihnen kam und wir ihre Wohnung aufgelöst haben.«
Muriel Weill zeigte auf eine Pappschachtel, die neben einem Aktenschrank stand.
»Hier. Sie können den Karton gleich mitnehmen, wenn Sie wollen.«
Eine Viertelstunde später verließ er mit dem Karton unter dem Arm das Pflegeheim. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. LaBréa verstaute die persönlichen Sachen seiner Mutter im Wagen, setzte sich hinters Steuer und verharrte einen Moment regungslos. Plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass seine Mutter zum Zeitpunkt ihres Todes nur wenige Jahre jünger gewesen war als die Tote in der Rue Barbette. Zwei alte Frauen. Die eine brutal ermordet, die andere sanft entschlafen. Griseldis Geminard würde ihn beruflich beschäftigen, bis ihr Mörder gefunden war. Mit seiner Mutter verband ihn ein ganzes Leben, auch über den Tod hinaus, und die Trauer über ihren Verlust würde ihn vielleicht für immer begleiten.
Er blickte auf die Uhr und fasste einen spontanen Entschluss. Es war kurz nach zwölf. Mittagszeit. In seiner Studienzeit und danach, als er seine Ausbildung bei der Polizei begann, hatte er öfter mit seiner Mutter in dem kleinen Restaurant Le Breton in der Rue Daguerre gegessen, wenige Fußminuten von der Wohnung seiner Eltern entfernt. Im Gedenken an seine Mutter würde er heute dort zu Mittag speisen. Bis zur Talkrunde um vierzehn Uhr hatte er noch Zeit, und bis dahin würde er die Ermittlungen in Sachen Griseldis Geminard aus seinem Bewusstsein streichen.
 
Er verließ den Peripherique an der Porte d’Orléans und parkte den Wagen zehn Minuten später unweit des Restaurants. Als er den Motor abstellte, klingelte sein Handy. Es war Jenny, die in die Mittagspause ging.
»Großmama ist heute Morgen gestorben«, berichtete LaBréa zögernd. »Ich war gerade im Pflegeheim in Créteil.«
Jenny wusste nicht viel darauf zu sagen. Er konnte es ihr nicht verübeln. Sie hatte eben keinen Bezug zu ihrer kranken Großmutter gehabt, mit der sie nie ein vernünftiges Wort hatte wechseln können, und die im Grunde ein fremder Mensch für sie geblieben war.
»Kommst du nach deinem Fußballspiel nach Hause?«
»Muss ich ja wohl«, maulte Jenny. »Alissa geht zu ihrem Vater, und mit Pierre-Michel und Yannick allein habe ich keine Lust, was zu unternehmen.« Pierre-Michel und Yannick waren zwei Jungen aus Jennys Klasse.
»Ich versuche nicht allzu spät zu Hause zu sein«, versprach LaBréa. »Also, bis dann.«
In den letzten eineinhalb Stunden hatte er kein einziges Mal an Celine gedacht. Zu sehr war er durch den Tod seiner Mutter in die Ereignisse und Begebenheiten seiner Kindheit und Jugend eingetaucht. Erneut widerstand er der Versuchung, sie anzurufen.
Als er den Wagen parkte, ließ er sich über die Auskunft die Nummer eines Beerdigungsinstituts im 14. Arrondissement geben. Er besprach die Modalitäten einer Erdbestattung, die seine Mutter sich gewünscht hatte, und gab der Geschäftsführerin Telefonnummer und Adresse des Pflegeheims.
 
Im Restaurant befanden sich nur wenige Gäste. Zum einen, weil an einem Sonnabend die Angestellten aus den umliegenden Büros als Mittagsgäste wegfielen. Zum anderen war es noch früh. Die meisten Menschen in Paris aßen nicht vor dreizehn Uhr zu Mittag.
Der Wirt begrüßte ihn freundlich und musterte ihn forschend. Er war ein Hüne von einem Mann und wirkte mit seinem schwarzen, gezwirbelten Schnauzbart, dem gelockten grauen Haarkranz und der dunkelblauen Kellermeisterschürze wie aus einem anderen Jahrhundert. LaBréa erkannte ihn sofort, während der Wirt offenbar nicht wusste, wie und wo er LaBréa hinstecken sollte.
»Irgendwie kenne ich Sie, Monsieur«, meinte er in seinem bretonischen Akzent und runzelte die Stirn.
LaBréa lächelte.
»Das letzte Mal war ich vor zwanzig Jahren hier bei Ihnen. Mit meiner Mutter, Madame LaBréa. Wir haben öfter bei ihnen gegessen.«
Das Gesicht des Wirts hellte sich auf.
»Ah, ja«, sagte er strahlend, »ich erinnere mich. Eine elegante Dame, Ihre Mutter! Und an Sie erinnere ich mich jetzt auch. Sie trugen damals ein Bärtchen, kleiner als meins.« Er lachte und reichte LaBréa die Hand. »Schön, dass Sie wieder mal vorbeischauen. Wollten Sie damals nicht zur Polizei? Hat das geklappt?«
LaBréa nickte. »Ja, das hat geklappt. Ich bin Commissaire bei der Police Judiciaire.«
Der Wirt spitzte anerkennend den Mund.
»Kompliment, Commissaire! Nicht gerade ein leichter Job heutzutage.«
»Sie sagen es.«
»Ihre Mutter ist sicher stolz auf Sie. Sie kam später immer noch regelmäßig hierher. Aber jetzt schon lange nicht mehr.«
»Sie war seit vielen Jahren krank und in einem Heim untergebracht. Und heute Morgen ist sie verstorben.«
»Das tut mir leid, Monsieur. Mein aufrichtiges Beileid.«
»Danke.« LaBréa sah sich um. »Hier hat sich nicht viel verändert. Wir hatten immer den Tisch dort hinten am Fenster. Ist der jetzt reserviert?«
»Nein, Sie können sich da hinsetzen. Erwarten Sie noch jemanden?«
»Nein. Ich bin allein und komme im Gedenken an meine Mutter. Ich hoffe, Sie haben Ihre Karte nicht gewechselt.«
Der Wirt lachte.
»Na, ein bisschen anders als vor zwanzig Jahren sieht die Karte schon aus. Aber unsere Spezialitäten kann man immer noch bestellen.«
»Wunderbar! Meine Mutter und ich hatten als Vorspeise immer die Muschelsuppe und danach die Seezunge nach Art des Hauses.«
»Können Sie alles noch haben, Monsieur. In der Küche steht heutzutage zwar nicht mehr meine Frau, sondern unser Sohn. Der hat ihre Rezepte eins zu eins übernommen. Was darf’s zu trinken sein?«
LaBréa dachte einen Moment nach, doch er erinnerte sich nicht an den Wein, den sie seinerzeit zum Essen bestellt hatten.
»Was empfehlen Sie denn?«
»Na ja, es gibt drei Möglichkeiten: einen trockenen weißen Bordeaux, einen Chablis oder einen Blanc de Tourraine.«
LaBréa entschied sich für den Blanc de Tourraine, einen seiner Lieblingsweine.
»Aber eins sage ich Ihnen gleich, Monsieur LaBréa: Das geht alles aufs Haus.«
LaBréa wollte widersprechen, doch der Wirt ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Nein, nein, da lasse ich nicht mit mir reden. Ihre Mutter war viele Jahre Stammgast bei uns, da werde ich mich doch nicht lumpen lassen und selbstverständlich dieses Erinnerungsessen übernehmen.«
Er ging in die Küche, um die Bestellung durchzugeben. Anschließend schenkte er hinterm Tresen zwei Gläser Champagner ein und kehrte zum Tisch zurück.
»Hier, bitte«, er reichte LaBréa eins der Gläser. »Zum Wohl. Auf dass Ihre Frau Mutter in Frieden ruhen möge!« Sie stießen an, und LaBréa hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Rasch trank er einen Schluck, um sich wieder in den Griff zu bekommen.
Wenig später wurde das Essen serviert. Die Muschelsuppe, mit Safran, einer Prise Piment und frischem Kerbel verfeinert, wurde mit knusprigen Käsecroutons gereicht. Zu den Seezungenfilets gab es eine Sahnesauce mit Zitronenmelisse, als Beilage ein Zucchinigratin.
Es schmeckte köstlich. Es schmeckte tatsächlich wie damals, als er mit seiner Mutter hier gespeist hatte. Einen Moment lang gab LaBréa sich der Illusion hin, die Zeit würde stillstehen, als lägen nicht all die Jahre dazwischen. In tiefer Dankbarkeit kostete er diesen Augenblick des stillen Genießens aus, im Gedenken an seine verstorbene Mutter und an eine gemeinsame Zeit, die so viele Jahre zurücklag. Die Welt mit all ihren Problemen draußen lassen, dachte er, und sei es nur für die Dauer eines wunderbaren Mittagessens.
Der Alltag würde ihn früh genug wieder einholen. Bevor er ins Büro fuhr, wollte er den Karton mit dem Nachlass seiner Mutter rasch in seine Wohnung bringen. Falls er im Hof zufällig auf Céline traf, würde er ihr vom Tod seiner Mutter erzählen. Keinesfalls würde er jedoch bei ihr klingeln und das Gespräch mit ihr suchen. Im selben Moment ging ihm auf, wie stur und borniert er sich verhielt. Nichts berechtigte ihn dazu, seiner Freundin zu misstrauen. Es gab keinen Beweis, dass Celine ihn mit diesem Adrien betrog, nur weil er bei ihr übernachtete. Doch er konnte nicht aus seiner Haut. Noch nicht.