15. KAPITEL
Kurz nach acht am nächsten Morgen verließ
LaBréa mit seiner Tochter das Haus. Nachdem er Jenny wie gewöhnlich
zur Schule gebracht hatte, begab er sich zum Quai des
Orfevres.
Pünktlich um neun begann die morgendliche
Talkrunde. Laborergebnisse bezüglich der Spuren im alten Stellwerk
an der Gare de Lyon lagen noch nicht vor, doch Claudine konnte mit
einer interessanten Neuigkeit aufwarten.
»Heute Nacht um zwei kam eine Mail von Bill
Waters«, sagte sie und blätterte in ihren Unterlagen. »Wir wissen
jetzt, was mit Augustine Geminard, der Tochter des Opfers,
geschehen ist.«
Der FBI-Mann aus New York hatte sämtliche infrage
kommenden Datenbanken durchforstet und war fündig geworden.
Augustine Geminard tauchte in einer Statistik des New Yorker
Drogendezernats auf. Dort war sie 1995 als heroinabhängig erfasst
worden, und es gab eine umfangreiche Akte über sie. Sie war
arbeitslos und ohne festen Wohnsitz. Wegen Drogenbesitzes war sie
mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hatte diverse
Entziehungskuren absolviert,
war jedoch nie clean geworden. Im Dezember 1999 wurde bei ihr Aids
diagnostiziert. Da sie weder krankenversichert war noch über
Geldmittel verfügte, wurde sie nicht ausreichend medizinisch
behandelt. Im Juli 2001 starb sie an der Krankheit. Ihr Leichnam
wurde in einem Abbruchhaus in der Bronx gefunden. Die Urne mit
ihren sterblichen Überresten hatten die US-Behörden Anfang
September 2001 nach Paris überführen lassen.
»Und zwar an die Adresse ihrer Mutter, Rue
Barbette«, fügte Claudine abschließend hinzu.
LaBréa hatte aufmerksam zugehört und lehnte sich
auf seinem Stuhl zurück.
»Jetzt wird mir klar, warum sie überall erzählt
hat, ihre Tochter sei beim Angriff auf die Türme ums Leben
gekommen«, sagte er nachdenklich. »Vermutlich hatte Griseldis
Geminard all die Jahre keine Ahnung, wie Augustine gelebt hat. Aus
den Briefen ist ja nichts hervorgegangen. Von daher war sie
wahrscheinlich völlig schockiert, als die Todesnachricht kam und
sie erfuhr, dass Augustine an den Folgen von Aids gestorben war.
Das sollte niemand erfahren. Der Angriff auf das World Trade Center
wenig später gab ihr dann Gelegenheit, eine Geschichte um den Tod
ihrer Tochter zu erfinden. Und irgendwann hat sie wohl selbst auch
daran geglaubt, dass Augustine im Nordturm ums Leben kam. Sie wird
die Wahrheit verdrängt haben, weil es leichter für sie war, mit der
Lüge zu leben. Die
Sterbedokumente aus den USA hat sie vernichtet und auf diese Weise
die Spuren gelöscht.«
»Wenn Augustine in ihrer Jugend in den
Sechzigerjahren nach Kalifornien gegangen ist, hat sie dort
vermutlich mit den Drogen angefangen«, sagte Claudine.
»Wie so viele andere damals auch.« LaBréa dachte an
die Drogenexzesse in einer Hippiekommune, wie sie T. C. Boyle so
treffend in seinem Buch Drop City beschrieb.
»Vielleicht war Gras die Einstiegsdroge, und später
kamen härtere Sachen.« LaBréa überlegte einen Moment. »Den letzten
Brief an ihre Mutter hat sie im April 2001 geschrieben. Da muss sie
schon ziemlich krank gewesen sein.«
Der Paradiesvogel nickte.
»Ja, und kein Wort davon, dass es ihr
gesundheitlich schlechtging. Das sagt alles über das Verhältnis von
Mutter und Tochter, finde ich.«
»Da haben Sie Recht, Jean-Marc.« LaBréa goss sich
ein Glas Mineralwasser ein. »Was sie wohl mit der Asche ihrer
Tochter gemacht hat?«
»Vielleicht irgendwo verstreut«, spekulierte
Claudine. »In einem Park oder in der Seine.«
»Möglich. Jedenfalls wissen wir jetzt definitiv,
dass die Tochter Augustine tot ist.« Er trank das Glas in einem Zug
aus, blickte auf seine Uhr und stand auf.
»Gleich zehn. Jean-Marc, wir fahren zum
Geschäftsführer des Paradis. Vielleicht haben wir jetzt Glück.«
Bei Tageslicht wirkte die Rue de Lappe wie ausgestorben. Die
Tanzlokale und Bars, Jazzkeller und Restaurants waren geschlossen.
Erst am Abend tobte hier das Leben. Auch die Leuchtreklame an der
Fassade des Paradis war ausgeschaltet, der Eingang zum Lokal
mit einem Gitter versperrt. Gleich neben dem Lokal führte eine
schmale, rotbraun gestrichene Tür zur Wohnung von Patrice Montana,
die über dem Lokal lag. Sie stand offen, und die beiden Beamten
gingen ins Haus.
Nach längerem Klingeln an der Wohnungstür wurde
diese geöffnet. Eine dunkelhäutige Frau in einem bunt geblümten
Seidenmorgenrock blickte die beiden Besucher fragend an. LaBréa
stellte fest, dass sie ausgesprochen hübsch war. Große, schwarze
Augen beherrschten ihr schmales, fein geschnittenes Gesicht. Sie
war ungeschminkt, und die feuchten, gelockten Haare ließen
vermuten, dass sie gerade erst eine Dusche genommen hatte. LaBréa
schätzte sie auf Mitte zwanzig.
Er zückte seinen Ausweis.
»Commissaire LaBréa von der Brigade Criminelle. Wir
möchten zu Monsieur Montana. Ist er da?«
Die junge Frau musterte LaBréa eingehend, drehte
sich dann um und rief: »Patrice? Kommst du mal? Die Bullen!«
Ohne die beiden Polizisten noch eines Blickes zu
würdigen, schlenderte sie davon. Gleich darauf erschien der
Geschäftsführer. Er trug ein Paar Jeans und ein
enges T-Shirt mit halbem Arm. Unter dem Hemd zeichneten sich sein
Waschbrettbauch und ein beeindruckender Bizeps ab. Ganz
offensichtlich war er jemand, der seinem Körper viel Aufmerksamkeit
widmete. Das Gesicht war unrasiert. Er starrte LaBréa an, doch
bevor er etwas sagen konnte, kam ihm dieser zuvor.
»Polizei. Dürfen wir einen Moment reinkommen,
Monsieur Montana?«
Der Geschäftsführer fing sich rasch und setzte sein
öliges Lächeln auf.
»Ich dachte, Sie...«
LaBréa unterbrach ihn brüsk.
»Ja, ja, ich weiß. Aber ich komme nicht aus der
Auvergne. Ich bin Commissaire LaBréa. Das ist mein Mitarbeiter,
Leutnant Lagarde.«
Halb erstaunt, halb belustigt musterte Patrice
Montana den Paradiesvogel, der diese Reaktion auf seine bunte,
gewöhnungsbedürftige Erscheinung zur Genüge kannte.
»Warum haben Sie mich nicht zurückgerufen,
Monsieur?«, fragte er Montana. »Ich hatte Sie doch mehrfach darum
gebeten.«
»Tut mir leid, Leutnant, aber ich hab meine Mailbox
nicht abgehört. Um was geht es denn?« Falls der Besuch der Polizei
für Patrice Montana eine unangenehme Überraschung war, so ließ er
sich das nicht anmerken. Er winkte die beiden Beamten herein und
schloss die Tür. »Kommen Sie am besten in mein Büro.« Er
öffnete eine Tür, die vom Flur abging, und ließ Jean-Marc und
LaBréa den Vortritt.
»Es geht um Mord«, sagte Jean-Marc. »Und eine Spur
führt möglicherweise in Ihr Lokal, das Paradis.«
Der Geschäftsführer schüttelte ungläubig den
Kopf.
»In unser Lokal? Das kann nicht sein!«
»Hat Ihr Barkeeper Sie gestern nicht angerufen und
Ihnen erzählt, dass wir mit ihm gesprochen haben?«
»Nein. Sandra und ich sind erst heute Morgen
zurückgekommen.«
LaBréa verzog ironisch seinen Mund.
»Sandra ist die junge Dame, die uns eben so höflich
und zuvorkommend empfangen hat?«
»Ja.«
»Ihre Freundin?«
»Meine Verlobte. Wir heiraten demnächst.«
»Tatsächlich. Und wo waren Sie bis heute
Morgen?«
»In Deauville. Ein bisschen ausspannen.«
»So kurz? Gerade mal einen Tag?« LaBréa sah ihn
skeptisch an. »Lohnt sich das denn?«
Patrice Montana nickte eifrig.
»Aber ja. In zwei Stunden ist man mit dem Wagen von
Paris aus da.«
»Wieso sind Sie heute schon zurückgekommen? Ihr
Lokal hat doch auch dienstags noch Ruhetag.«
»Ganz einfach, Commissaire: Weil ich geschäftliche
Dinge zu erledigen habe.«
Der Hausherr bot ihnen nicht an, Platz zu nehmen.
LaBréa ließ seine Blicke durch den Raum schweifen. In der Mitte
stand ein schwerer Schreibtisch mit grüner Marmorplatte. Eine
Sitzecke bestand aus plüschigen Polstermöbeln. An den Wänden
Vitrinenschränke, die so gut wie leer waren. Auf einer Anrichte sah
man mehrere Flaschen mit Whisky und anderem Hochprozentigem,
diverse Gläser und einen silbernen Eiskübel mit Glasdeckel. Im
großen Kamin an der Schmalseite des Zimmers türmte sich Asche. Ein
gusseisernes Kaminbesteck und ein Korb mit Brennholz standen
daneben. Auf einem Beistelltischchen lag ein Stapel
Hochglanzprospekte. LaBréa blätterte sie durch. Ferrari, Porsche,
Lamborghini... Die Prospekte teurer Luxuswagen.
»Sie interessieren sich für schnelle Autos,
Monsieur Montana? Gehört das zu den geschäftlichen Dingen, die Sie
gerade erwähnt haben?« LaBréa legte die Prospekte zurück. Der
Geschäftsführer lachte ein wenig gezwungen.
»Nein, Commissaire, für schnelle Autos interessiere
ich mich wirklich nicht. Die Prospekte hat neulich jemand bei mir
vergessen.«
»Jemand, der sich solch einen Wagen kaufen will?«,
erkundigte sich Jean-Marc und warf seinem Chef einen Blick
zu.
Patrice Montana lachte erneut.
»Keine Ahnung. Er wollte nur mal meine Meinung
hören. Aber, wie gesagt, da kenne ich mich überhaupt
nicht aus.« Er verschränkte die Arme über der Brust. »Also, womit
kann ich Ihnen dienen, meine Herren?«
In wenigen Worten erzählte Jean-Marc ihm von dem
Mord an Griseldis Geminard und zeigte dem Geschäftsführer das Foto
der Ermordeten. Patrice Montana betrachtete es lange und schüttelte
dann den Kopf.
»Die kenne ich nicht. Nie gesehen.«
»Ihr Barkeeper, Monsieur Renard, hat sie aber
erkannt. Sie kam öfter mit einer Freundin am Wochenende ins Lokal,
manchmal auch allein.«
»Schon möglich. Aber ich bin ja nicht ständig
anwesend. Meistens komme ich erst nach einundzwanzig Uhr. Kann
sein, dass die Dame da immer schon gegangen war. Immerhin öffnen
wir sonnabends und sonntags bereits um drei.« Er gab Jean-Marc das
Foto zurück.
»Es wäre möglich, dass sie ihren Mörder bei Ihnen
im Paradis getroffen hat.« LaBréa fasste den Geschäftsführer scharf
ins Auge. »Als ich Sonntagabend bei Ihnen war, sind mir diese
jungen Männer aufgefallen, die da herumstanden.«
»Ach ja?« Montana blickte erstaunt. »Die kannte ich
gar nicht. Da hätte ich viel zu tun, wenn ich mir jedes Gesicht
einprägen würde!«
»Ich hatte den Eindruck, als suchten sie Kontakt zu
entsprechenden Damen.«
Der Geschäftsführer stellte sich dumm.
»Was meinen Sie mit ›entsprechenden Damen‹?«
»Ältere Frauen. Betuchte ältere Frauen. Die man
anschnorren und ausnehmen kann. Ich denke, Sie wissen genau, was
ich meine.«
Der Geschäftsführer kratzte sich am Kopf, als
wollte er Zeit gewinnen.
»Na ja«, sagte er nach einer Weile. »Ältere Damen
sind oft einsam und freuen sich, wenn ihnen ein netter Mann mal ein
Kompliment macht und Gesellschaft leistet.«
»Genau darum geht es, Monsieur«, warf Jean-Marc
ein. »Um nette Männer, die mit älteren Frauen anbandeln und sich
was davon versprechen. Und die vielleicht auch nicht vor einem Mord
zurückschrecken, wenn es sich finanziell lohnt.«
»Tja, dazu kann ich Ihnen wirklich nichts sagen.«
Montanas Miene war ausdruckslos. »Ich kenne die Dame nicht, die
bedauerlicherweise Opfer eines Gewaltverbrechens wurde. Und ich
bezweifle sehr stark, dass das Paradis in irgendeiner
Hinsicht dabei eine Rolle gespielt hat.«
»Sie ist nicht das einzige Opfer.« LaBréa ließ
seine Worte einen Moment nachwirken. »Der Mörder hat 2003 bereits
eine andere ältere Frau umgebracht. Und 2006 wurde eine ältere Frau
ermordet, die ebenfalls Musettewalzer liebte und in Lokalen wie
Ihrem verkehrt hat.«
LaBréa sah ein Aufflackern in den dunklen Augen des
Mannes, das aber sogleich wieder verlosch. Mit
fahriger Geste strich Montana sich über seine gegelten
Haare.
Jean-Marc zeigt ihm das Foto von Annie
Normand.
»Das ist eine dieser Frauen? Kennen Sie sie?«
Diesmal warf Montana nur einen flüchtigen Blick auf
das Bild und schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, auch die kenne ich nicht. Bei uns verkehren
so viele Leute, besonders an den Wochenenden, und Gesichter
vergesse ich sowieso schnell.«
LaBréa sah, wie der Mann plötzlich nervös
wurde.
»Eine Frage noch, Monsieur Montana: Wo waren Sie
Sonnabendmorgen zwischen acht und neun Uhr?«
Ein Lächeln huschte über Montanas Gesicht; er
schien erleichtert.
»Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich war in der
Großmarkthalle, draußen in Rungis. Um sieben bin losgefahren, und
nach zehn war ich wieder in der Stadt.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Allerdings. Ich sprach mit einem
Fleischgroßhändler und zwei Weinhändlern. Ich trage mich nämlich
mit dem Gedanken, demnächst ein Restaurant zu eröffnen.«
Jean-Marc zückte sein Notizbuch.
»Die Namen dieser Leute, Monsieur.«
Patrice Montana nannte sie ihm. Von seinem
Schreibtisch nahm er sein Adressbuch und gab Jean-Marc auch die
Handynummern seiner Gesprächspartner.
Enttäuscht und frustriert verließen LaBréa und
Jean-Marc wenig später die Wohnung des Geschäftsführers.
»Nichts, rein gar nichts«, sagte LaBréa ärgerlich.
»Aber mein Instinkt sagt mir, dass bei dem Mann irgendetwas faul
ist. Haben Sie gesehen, wie er zusammenzuckte, als ich den Mord im
Jahr 2003 erwähnte? Und wie erleichtert er war, als ich ihn nach
seinem Alibi fragte? Überprüfen Sie das gleich mal. Aber Sie werden
sehen, es ist wasserdicht. Doch irgendetwas hat ihn in Unruhe
versetzt. Und ich will wissen, was.«
Sie fuhren zurück zum Präsidium, und LaBréa begab
sich missmutig in sein Büro. Als er seinen Rechner hochfuhr,
klingelte das Telefon. Gilles von der Technikabteilung teilte ihm
mit, dass eine erste Auswertung der Spuren aus dem stillgelegten
Stellwerk vorlag.
»Und?«
»Hautpartikel am Bettlaken auf der Matratze oben im
Stellwerk. Und zwar von vielen verschiedenen Personen. Außerdem hat
es auf dieser Matratze von Spermaspuren verschiedener Männer nur so
gewimmelt.«
»Stammen diese Spuren aus dem gleichen
Zeitraum?«
»Ja. Keine ist jünger als fünf bis sieben
Jahre.«
»Was ist mit Fingerabdrücken?«
»Da hatten wir Pech. Nichts Verwertbares.«
»War ja zu erwarten. Sonst noch was, Gilles?«
»Ja. Die Kleiderreste am Skelett, die Dr. Foucart
erwähnt hat, stammen tatsächlich von Unterwäsche. Billiges
Material, Kunstseide mit Nylonspitze. Ein alter Kanten Brot, den
wir in einer Plastiktüte gefunden haben, ist mindestens fünf Jahre
alt. Ein Wunder, dass er nicht schon zu Staub zerfallen war.«
»Oder dass die Ratten ihn nicht gefressen haben«,
warf LaBréa ein.
»Ratten gibt’s nicht in dem Stellwerk. Der Rest
Kaffeesatz in einer der Tassen stammt aus demselben Zeitraum. 2001
bis 2003. Das war’s, Commissaire. Vorerst jedenfalls. Mit der
Auswertung der Faserspuren sind wir noch nicht so weit.«
»Danke.« LaBréa legte den Hörer auf und dachte
einen Moment nach. War es möglich, dass die unbekannte Tote, die
vor etwa sechs bis sieben Jahren in der Nähe des stillgelegten
Stellwerks unter Schottersteinen verscharrt worden war, in dem
Gebäude gewohnt hatte? Hatte die Frau als Prostituierte gearbeitet
und ihre Freier dorthin mitgenommen?
LaBréa griff zum Telefonhörer und rief Franck auf
seinem Handy an.
»Wo sind Sie jetzt, Franck?«
»Ich klappere gerade mit Dupont ein paar
einschlägige Etablissements am Boulevard Diderot ab.« Dupont war
der Kollege von der Sitte, den Franck um Hilfe gebeten hatte.
»Bisher Fehlanzeige, Chef. Niemand erinnert sich an eine Nutte mit
einem Kind.«
LaBréa teilte ihm die Ergebnisse der
Spurensicherung mit.
»Eine Nutte, die ihre Freier in dem alten Stellwerk
bedient hat?« Franck lachte. »Tolles Ambiente. Mit der
Dauergeräuschkulisse der Züge musste das was von Fernweh und
Abenteuer gehabt haben.«
LaBréa war nicht nach Scherzen zumute. »Grenzen Sie
Ihren Radius ein, Franck. Konzentrieren Sie sich auf die Bordelle
im direkten Umkreis der Gare de Lyon und auch der Gare
d’Austerlitz.«
»Dupont meint, im Umkreis der Bahnhöfe gab es
früher hauptsächlich Straßenstrich.«
»Dann fragen Sie in den Kneipen nach, den Cafes.
Irgendjemand erinnert sich vielleicht. So lange ist das ja noch
nicht her.«
»Mach ich, Chef.«
Es war kurz nach zwölf. LaBréa rief Jenny auf
ihrem Handy an. Die Mailbox sprang an. Er hinterließ eine
Nachricht. »Ruf mich zurück, wenn du Mittagspause hast. Bis dann,
Cherie.«
Anschließend wählte er Célines Nummer. Während er
auf die Verbindung wartete, schüttelte er den Kopf. Er dachte
daran, wie töricht er sich benommen hatte, als ihr Exfreund Adrien
am Wochenende bei ihr übernachtet hatte. Eine Welle von
Zärtlichkeit durchflutete ihn. Nie hätte er geglaubt, dass er sich
nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau Anne vor fast einem Jahr
wieder verlieben könnte. Und doch war es geschehen. Er hatte es
nicht darauf abgesehen und nicht danach gesucht. Vorsichtig hatten
er und Celine sich angenähert, gewartet, bis sie genügend Vertrauen
zueinander entwickeln konnten. Und Jenny - letzten Endes hatte sie
auf die neue Liebe ihres Vaters positiver reagiert, als er gedacht
hätte. Mit ihren anfänglichen kleinen Eifersüchteleien war Celine
souverän umgegangen. Durch ihre charmante, zugewandte und
unkomplizierte Art hatte sie auch das Herz seiner Tochter
erobert.
»Ja, Maurice?« Celines Stimme klang dunkel und
warm. LaBréa lehnte sich entspannt in seinem Schreibtischsessel
zurück.
»Ich würde gern heute Mittag irgendwo mit dir essen
gehen. Wie sieht es mit deinem Zeitplan aus?«
»Mit dir immer«, erwiderte Celine. »Was schlägst du
vor?«
»Treffen wir uns irgendwo auf halbem Weg. Im Rouge
Gorge in der Rue St. Paul?«
»Einverstanden.«
LaBréa schnappte seine Jacke und verließ das Büro.
Auf dem Flur begegnete er Claudine, die gerade aus der
Damentoilette kam.
»Irgendwas Neues, Claudine?«
»Bisher nicht. Die SNCF hat uns die komplette Liste
der Angestellten und Arbeiter rübergemailt, die zwischen 2000 und
2003 in irgendeiner Funktion auf dem
Bahngelände der Gare de Lyon gearbeitet haben. Schalterbeamte,
Zugpersonal, das dort eingesetzt wurde. Gleisarbeiter und so
weiter. Das sind etwa fünfhundert Leute. Ist ’ne Heidenarbeit, das
alles durchzugehen, Chef.«
»Ich weiß.« Er unterrichtete Claudine kurz über das
Ergebnis der Spurensuche im alten Stellwerk.
»Wenn die Frau als Prostituierte gearbeitet hat,
ist doch eher anzunehmen, dass einer ihrer Freier sie erschlagen
hat«, meinte Claudine.
»Alles ist möglich. Wir dürfen nichts außer Acht
lassen. Es kann genauso gut ein Mitarbeiter der Bahngesellschaft
gewesen sein, der gewusst hat, dass sie dort lebte, oder sogar
einer ihrer Freier war.«
Claudine seufzte.
»Okay, Chef. Aber das wird eine Weile
dauern.«
»Holen Sie sich Verstärkung aus der Abteilung
II.«
Es war ein strahlend schöner Tag. Beschwingten
Schrittes ging LaBréa über den Quai du Marche Neuf, vorbei an
Notre-Dame. Vor der Kirche hatten sich die üblichen
Touristenschlangen gebildet. Fotos wurden geschossen, ein
Sprachengewirr aus aller Herren Länder erfüllte den Platz mit einem
geschäftigen Summen. Auf den Seinebrücken und an den Quais rollte
der Mittagsverkehr.
Jenny rief ihren Vater aus der Schulkantine an.
»Was gibt’s denn heute?«, wollte LaBréa wissen.
»Gemüseauflauf mit Reis. Schmeckt total langweilig.
Wann kommst du nach Hause, Papa?«
»Das weiß ich noch nicht, Cherie.«
»Pierre-Michel kommt nach der Schule mit zu uns.
Wir wollen zusammen Mathe lernen. Morgen schreiben wir eine
Arbeit.«
»Gut. Wenn ihr Hunger habt, kauft euch eine
Pizza.«
»Ja, mal sehen. Salut, Papa.«
Zehn Minuten später betrat er das Restaurant.
Céline war kurz vor ihm angekommen und hatte gerade noch einen
Tisch am Fenster ergattert. Das Rouge Gorge war ein beliebtes
kleines Restaurant mit einfacher Küche und guten, preisgünstigen
Weinen. LaBréa küsste Céline und nahm ihr gegenüber Platz. Kurz
darauf erschien die Wirtin und begrüßte das Paar. Sie empfahl ihnen
das Tagesgericht.
»Entenbrust mit Pommes Dauphine«, sagte sie. Céline
und LaBréa nickten einvernehmlich. Dazu bestellte LaBréa eine
Flasche Brouilly und eine große Karaffe Wasser.
»Wie weit bist du mit deiner Ausstellung?«,
erkundigte er sich.
»Morgen wollen wir die ersten Exponate aufhängen.
Jerôme ist ja ziemlich eigen, und ich fürchte, er hat da andere
Vorstellungen als ich.«
Jerôme Klein, Spross einer wohlhabenden
Industriellenfamilie aus dem Norden, war der Besitzer der
Galerie am Trocadero, wo am Wochenende Celines Vernissage
stattfinden sollte. Céline versprach sich einiges von der
Ausstellung. Nicht nur gute Kritiken, sondern auch Verkäufe. Ihre
Bilder waren im Lauf der Jahre im Wert gestiegen, und es gab
bereits Sammler, die regelmäßig ihr Atelier besuchten.
»Ich dachte immer, der Künstler bestimmt, wie seine
Bilder gehängt werden?«
Celine lachte.
»Normalerweise schon. Aber Jérôme sieht das anders
und besteht darauf, ein Wörtchen mitzureden. Natürlich nicht, wenn
der Künstler Gerhard Richter heißt.«
Die Wirtin brachte Wein und Brot. Sie entkorkte die
Flasche und schenkte ein. Der Wein war so temperiert, wie es bei
einem Brouilly sein sollte: leicht gekühlt, keine
Zimmertemperatur.
Kaum war das Essen serviert, klingelte LaBréas
Handy Es war Franck.
»Sie werden es nicht glauben, Chef. Aber wir haben
hier was Interessantes.«
»Inwiefern?«
»In der Rue Parrot, gleich in der Nähe der Gare de
Lyon, gibt es ein Bordell. Au train perdu. Passender Name,
wie ich finde.« Franck lachte. »Der Betreiber besitzt den Laden
seit über dreißig Jahren. Und er kannte eine Nutte, die einen
kleinen Sohn hatte.«
LaBréa legte wie elektrisiert seine Gabel auf den
Teller.
»Und?«
»Ich dachte, Sie kommen am besten her, Chef. Denn
raten Sie mal, welcher Name in dem Zusammenhang gefallen ist?
Darauf kommen Sie nie!«
»Reden Sie schon, Franck.« LaBréa wurde
ungeduldig.
»Patrice Montana. Der Geschäftsführer vom
Paradis.«
»Ach, tatsächlich?« LaBréa schob seinen Stuhl
zurück. »Welche Hausnummer ist das in der Rue Parrot?«
»Zwölf. An der Tür gibt’s eine Klingel. Der
Schuppen öffnet normalerweise erst um fünf.«
LaBréa steckte sein Handy in die Hosentasche und
hob bedauernd die Hände.
»Tut mit leid, Celine. Ich muss sofort los.« Er gab
der Wirtin einen Wink. »Packen Sie mein Essen bitte ein, und rufen
Sie mir ein Taxi.«
Er leerte sein Glas und beugte sich zu seiner
Freundin.
»Nicht böse sein, meine Liebe. Aber es sieht so
aus, als hätten wir einen Treffer gelandet.« Aus seinem
Portemonnaie zog er einen Fünfzigeuroschein und legte ihn auf den
Tisch. »Bezahl bitte die Rechnung. Ich esse im Taxi. Ich rufe dich
später an.«
Céline seufzte, ließ sich jedoch nicht anmerken,
dass sie enttäuscht war. Nicht zum ersten Mal hatte La-Breas Beruf
ihnen einen Strich durch die Rechnung
gemacht, wenn sie zusammen essen gingen oder an den Wochenenden
etwas unternahmen. Sie hatte sich damit abgefunden, dass ihr Freund
nun einmal keiner Tätigkeit nachging, die feste Arbeitszeiten und
freie Wochenenden bot.
»Ist schon okay«, sagte sie und hielt ihm ihre
Wange hin. Die Wirtin brachte eine Assiette mit LaBréas Entenbrust
und meinte: »Taxi kommt sofort.«
Vor dem Restaurant sah LaBréa bereits den Wagen,
der vom Quai des Célestins in die Rue St. Paul einbog. Die
Herbstsonne schickte ihre Strahlen auf die Sandsteinfassaden der
Häuser. Das Licht blendete LaBréa. Er bedauerte, dass er seine
Sonnenbrille nicht dabeihatte.
Der Taxifahrer hielt, und der Fahrer ließ das
Fenster herunter. LaBréa nannte ihm die Adresse. Er nahm auf dem
Rücksitz Platz und drängte den Mann, aufs Gaspedal zu drücken. In
aller Hast verspeiste er die Entenbrust und die Kartoffeln. Beides
war inzwischen nur noch lauwarm.