7. KAPITEL
Inzwischen war es kurz nach fünf. Während
sie im nachmittäglichen Stau auf der Rue St. Antoine standen, rief
LaBréa seine Tochter an. Jenny war vor zehn Minuten nach Hause
gekommen.
»Ich bin total fertig, Papa«, sagte sie als Erstes.
»Unser Testspiel war unheimlich anstrengend auf dem aufgeweichten
Platz. Trotzdem haben wir gewonnen.«
»Das freut mich«, erwiderte LaBréa ohne großen
Enthusiamus. »Was machst du jetzt?«
»Erst mal liege ich mit Obelix auf dem Sofa und
ruhe mich aus. Wann kommst du denn nach Hause?«
»Kann ich noch nicht sagen, Cherie. Gegen sieben,
halb acht, wenn nichts dazwischenkommt.«
»Im Flur steht so’n komischer Karton. Was ist denn
da drin?«
»Sachen von deiner Großmutter. Die habe ich aus dem
Pflegeheim mitgebracht. Wahrscheinlich persönliche Dinge wie Fotos
oder Briefe. Ich sehe mir das heute Abend mal an. Also, Salut,
Cherie.«
Immer noch ging es nur im Schritttempo voran.
Nervös trommelte Franck mit den Fingern aufs Lenkrad. »Soll ich das
Blaulicht setzen, Chef?«
LaBréa musste lachen.
»Das wird nicht viel nützen. Auch die Busspur ist
dicht. Vielleicht wird es ja vorn auf der Rue de Rivoli etwas
besser.«
Aus dem offenen Fahrerfenster eines silbernen BMW
X3 dröhnte lauter Technosound. Der Fahrer, nicht älter als Mitte
zwanzig, trug eine verspiegelte Sonnenbrille und bewegte seinen
Kopf im Stakkato der Musik. LaBrea ließ das Seitenfenster hoch. Die
hämmernden Töne drangen dennoch ins Wageninnere.
»Das hält ja kein Mensch aus«, sagte er mehr zu
sich selbst. »Ich bete zu Gott, dass meine Tochter nicht eines
Tages mal solche Musik ins Haus schleppt. Was heißt Musik!« Er
machte eine wegwerfende Handbewegung. »Von richtiger Musik haben
die jungen Leute heute offenbar keine Ahnung mehr.«
Franck beugte sich vor und warf einen neugierigen
Blick auf den Geländewagen. Der Fahrer blickte starr geradeaus und
schob einen Kaugummi im Mund hin und her.
Endlich ging es weiter. LaBréas Handy klingelte. Es
war Claudine. In knappen Worten berichtete sie, was ihre Recherche
wegen ungeklärter Morde an älteren Frauen im Großraum Paris ergeben
hatte. »Zwei Treffer, Chef. Mord an einer Siebenundsechzigjährigen,
2003 im 13. Arrondissement. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Und 2006
traf es eine alte Frau im 19. Arrondissement. Auch hier wurde der
Täter nie gefunden.
Beide Frauen lebten allein und hatten kurz vor ihrem Tod höhere
Beträge von ihren Konten abgehoben.«
»Das ist ja schon mehr als nur Zufall«, erwiderte
LaBréa.
»Sie schicken uns die Akten heute noch rüber«, fuhr
Claudine fort. »Bis zur Talkrunde weiß ich mehr.«
»Gute Arbeit, Claudine. Das bringt uns vielleicht
weiter.«
Er informierte Franck kurz über das Gespräch und
versuchte dann, Jean-Marc zu erreichen. Erst nach mehrmaligem
Klingeln meldete sich dieser.
»Irgendwas Neues, Jean-Marc?«
»Bisher nicht. In den Geschäften war sie bekannt,
weil sie regelmäßig dort einkaufte. Über ihr Privatleben wusste
niemand Bescheid, bis auf die Story über ihre Tochter und den
Terroranschlag. Der Besitzer des Tabakladens kannte Augustine als
Jugendliche. Da hat sie schon geraucht. Gauloises ohne Filter.
Jetzt bin ich gerade auf dem Weg zu dem Nachbarn, der das Opfer
gefunden hat, um nochmal mit ihm zu reden.«
»Warten Sie damit. Wir sind ganz in der Nähe und
kommen dazu.«
Henri Buffon, der Nachbar von Griseldis Geminard,
war ein kleiner, alter Mann mit Geheimratsecken und einem grauen
Vollbart. Seine wässrigen grünen Augen schauten gereizt, als er
LaBréa und seinen beiden Mitarbeitern die Tür öffnete. Da Franck
ihn schon am
Morgen befragt hatte, wusste er, wer vor seiner Tür stand.
»Was ist denn noch?«, fragte er unfreundlich, als
LaBréa ihm routinemäßig seinen Ausweis zeigte. »Ich habe Ihrem
Mitarbeiter schon alles gesagt, was ich weiß. Und um ehrlich zu
sein - obwohl man ja nichts Schlechtes über einen Toten sagen soll
-, jetzt hat es wenigstens endlich ein Ende mit dieser verdammten
Musik zu jeder Tages- und Nachtzeit.«
»Dürfen wir trotzdem einen Moment hereinkommen,
Monsieur Buffon?« LaBréas Stimme klang bestimmt, und sofort wirkte
der Mann etwas verunsichert.
»Bitte, wenn es unbedingt sein muss...« Mit einer
vagen Geste bat er die Beamten einzutreten. Henri Buffon war
geschmackvoll und gediegen gekleidet. Zu einer gut sitzenden,
grauen Flanellhose trug er ein dunkelblaues Hemd und einen in
herbstlichen Farben gehaltenen Cardigan mit Rombenmuster. Der Bart
wirkte sorgfältig gestutzt, und LaBréa roch den leichten, frischen
Duft eines Rasierwassers.
Die Wohnung hatte den gleichen Grundriss wie die
von Griseldis Geminard. Das Mobiliar war jedoch einfacher und sah
aus wie ein Querschnitt durch verschiedene Stilrichtungen. Eine
Marmorbüste von Kaiser Augustus, dekorativ auf eine gedrechselte
Holzsäule drapiert, zeugte von der Liebe des Wohnungsbesitzers zur
römischen Antike. An einer Längswand des Wohnzimmers befand sich
ein großes Bücherregal. Auf einem
Intarsientisch lagen Zeitschriften und Tageszeitungen, pedantisch
auf Kante gelegt. Alles wirkte sauber und aufgeräumt, fast
steril.
»Bitte, nehmen Sie Platz.« Der pensionierte
Lateinlehrer blickte mürrisch auf seine Armbanduhr. »Ich habe aber
nicht viel Zeit. Punkt sechs muss ich das Haus verlassen. Heute ist
mein Bridgeabend.«
LaBréa und seine Mitarbeiter nahmen auf den hellen
Sesseln Platz, die um den runden Couchtisch gruppiert waren.
Sichtbar widerstrebend kam Henri Buffon LaBréas Aufforderung nach,
noch einmal zu erzählen, wie er die Tote am Morgen gefunden hatte.
Seine Ausführungen deckten sich mit dem, was er Franck berichtet
hatte. Kurz nach halb sieben vernahm er aus der Wohnung seiner
Nachbarin Musettewalzermusik. Er klopfte ein paarmal gegen die
Wand, danach hörte es auf. Eine halbe Stunde später erklang die
Musik lauter als zuvor. Diesmal nützte sein Klopfen nichts. Kurz
darauf wollte er an Griseldis Geminards Tür klingeln. Die Tür war
nur angelehnt.
»Wie erklären Sie sich das?«, fragte LaBréa.
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist die Tür
nicht richtig zugeschnappt, keine Ahnung.« Henri Buffon betrat die
Wohnung, rief den Namen seiner Nachbarin und fand sie schließlich
tot in ihrem Schlafzimmer.
»Von wo aus haben Sie dann die Polizei angerufen?«,
fragte LaBréa.
»Ich bin zurück in meine Wohnung gegangen.«
»Wie lange wohnen Sie schon in dieser Wohnung,
Monsieur Buffon?«
»Seit meiner Pensionierung vor fünfzehn Jahren. Da
habe ich mir die Wohnung gekauft.«
»Dann kannten Sie Madame Géminard ja schon sehr
lange.«
Der alte Mann legte unwirsch seine Stirn in
Falten.
»Was heißt kennen? Manchmal begegneten wir uns auf
der Treppe. Wir haben uns gegrüßt, mehr nicht. Bis es dann vor
einigen Jahren mit dieser Musik losging. Tingeltangelgedudel«,
fügte er verächtlich hinzu.
»Sie mochten Madame Geminard nicht«, stellte
Jean-Marc fest.
»Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen«,
seufzte der alte Mann und strich über sein schütteres Haar. »Sie
wohnte schon vor mir in diesem Haus und war ebenfalls Eigentümerin.
Wäre sie Mieterin gewesen, hätte ich mich bei ihrem Vermieter
beschweren können. So jedoch waren mir die Hände gebunden. Ich habe
das Thema Lärmbelästigung bei unseren Eigentümerversammlungen
mehrere Male auf die Tagesordnung setzen lassen. Leider umsonst.
Ich hätte vor Gericht ziehen müssen. Aber man weiß ja, wie solche
Prozesse ausgehen. Erstens dauern sie lange, und zweitens bekommt
der, der im Recht ist, in den wenigsten Fällen auch tatsächlich
Recht.«
»Wann hat Madame Géminard Ihnen erzählt, dass ihre
Tochter bei den Terroranschlägen in New York ums Leben gekommen
ist?«
Die Antwort kam ohne Zögern.
»Das war gleich nach dem 11. September. Ein oder
zwei Tage später. Mir hat sie es auch gar nicht erzählt, sondern
der Concierge, Madame Chabrier. Ich traf die beiden unten vor dem
Hauseingang, als ich einkaufen gehen wollte. Madame Geminard weinte
und erzählte der Concierge gerade, dass ihre Tochter in einem der
Türme umgekommen sei. Ich bin kurz stehen geblieben und habe ihr
mein Beileid ausgesprochen, wie es sich gehört. Die Concierge hat
das dann überall herumgetratscht, und einen Tag später wusste es
die ganze Straße.«
»Kannten Sie die Tochter von Madame Geminard,
Augustine? Hat sie ihre Mutter mal besucht?«
»Ob sie sie besucht hat, weiß ich nicht. Auf jeden
Fall kannte ich die Tochter nicht persönlich. Ich wusste nur, dass
sie in Amerika lebt.«
»Hat denn die Concierge die Tochter gekannt?«
»Keine Ahnung, das müssen Sie sie schon selbst
fragen. Morgen Abend kommt sie zurück, hat sie mir gestern
gesagt.«
Das nahm LaBréa sich fest vor. Er wechselte das
Thema.
»Hatte Ihre Nachbarin denn überhaupt manchmal
Besuch? Zum Beispiel Herrenbesuch?«
»Herrenbesuch?« Henri Buffon starrte ihn ungläubig
an, dann lachte er anzüglich. »In ihrem Alter, Commissaire? Ich
bitte Sie!«
»Und sonst? Kam anderer Besuch?«
Henri Buffon zögerte einen Moment. Dann sagte er
gedehnt: »Na ja, da kam früher manchmal eine Frau. Ich bin ihr
einige Male im Treppenhaus begegnet. Sie war etwas jünger als
Madame Geminard.«
»Wie alt etwa?«, warf Franck ein.
»Ich würde sagen, Mitte bis Ende sechzig. Das Alter
von Frauen kann ich immer schlecht einschätzen.« Zum ersten Mal
huschte ein Lächeln über sein Gesicht und verlieh ihm einen Hauch
von Liebenswürdigkeit, der jedoch sogleich wieder verschwand, als
müsse sparsam damit umgegangen werden.
»Eine Freundin, eine Verwandte von Madame
Géminard?«, hakte Franck nach.
»Wohl eher eine Freundin, vermute ich. Sie kam
immer sonnabends. Meistens am frühen Nachmittag, und die beiden
gingen dann zusammen weg.«
»Haben Sie mal ihren Namen gehört?«
»Ja, das war ein englischer Vorname. Emily. So hat
Madame Geminard sie genannt. Und die Concierge begrüßte sie einmal
mit Madame Baker.«
»Der Familienname klingt ebenfalls englisch.«
Jean-Marc notierte alles in seinem Notizbuch. »Sprach die Frau denn
mit englischem Akzent?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Soweit ich hören konnte, nein. Aber ich habe die
beiden auch nur einige Male miteinander sprechen hören. Wie gesagt,
wenn man sich zufällig im Treppenhaus begegnete.«
Natürlich, wenn man sich zufällig begegnete, dachte
LaBréa. Er vermutete, dass Monsieur Buffon so manches Mal hinter
seiner Wohnungstür gelauscht hatte, wenn Madame Geminard ihre
Wohnung verließ oder Besuch bekam. Der Mann lebte allein und war
seit vielen Jahren pensioniert. Vielleicht stellte sich da
irgendwann Langeweile ein. Und die Beschäftigung mit den Nachbarn
ist ja durchaus dazu angetan, da Abhilfe zu schaffen. Wozu auch
gehörte, sich mit den Mitbewohnern anzulegen, an Kleinigkeiten
Anstoß zu nehmen und Gründe zu suchen, um sich beschweren zu
können. Die angeblich laute Musik könnte ein Vorwand gewesen sein,
um ein wenig Abwechslung in das eintönige Leben eines pensionierten
Lehrers zu bringen. Vielleicht steckte sogar etwas ganz anderes
dahinter. War es möglich, dass Monsieur Buffon seiner Nachbarin
Avancen gemacht hatte und sie ihn abblitzen ließ? LaBréa beschloss,
dieser Frage ein wenig auf den Grund zu gehen.
»Sagen Sie, Monsieur Buffon, sind Sie eigentlich
verheiratet, oder waren Sie es?«
Der Mann blickte ihn misstrauisch an und antwortete
mit einer Gegenfrage.
»Spielt das eine Rolle, Commissaire? Ich wüsste
nicht, was Sie das angeht.«
LaBréas Ton wurde eine Spur schärfer. »Beantworten
Sie bitte meine Frage, Monsieur.«
»Na schön, wenn Sie meinen... Ich bin seit mehr als
zwanzig Jahren Witwer. Meine Frau starb an Krebs.«
»Das tut mir leid«, sagte LaBréa und ließ bewusst
einen Moment verstreichen, bevor er fortfuhr. »Ihre Nachbarin war
ebenfalls verwitwet. Sie beide waren im gleichen Alter. Da lag es
doch vielleicht nahe, dass...«
Der Alte unterbrach ihn.
»Um Gottes willen! Das hätte mir gerade noch
gefehlt! Madame Geminard war überhaupt nicht mein Typ, ganz im
Gegenteil.«
»Das habe ich gar nicht gemeint, Monsieur.« LaBrea
betrachtete ihn eingehend. »Ich meinte nur, dass man sich
vielleicht manchmal zum Tee oder auf eine Tasse Kaffee hätte
treffen können, mehr nicht.«
»Nein, nein, so etwas kam für mich von Anfang an
nicht infrage. Sie hatte ja ganz andere Interessen als ich.«
LaBréa wurde hellhörig.
»Welche denn?«
Der Mann senkte rasch den Blick und schüttelte den
Kopf.
»Keine Ahnung, so genau weiß ich das natürlich
nicht. Aber mir war von Anfang an klar, dass wir nicht auf
derselben Wellenlänge liegen.«
»Hm.« LaBréa spürte, dass der Mann ihm etwas
verschwieg. Doch er bohrte nicht weiter nach. »Noch
eine Frage zu der Freundin oder Bekannten von Madame Geminard,
dieser Emily Baker. Wann haben Sie sie das letzte Mal hier
gesehen?«
Henri Buffon überlegte.
»Das ist schon eine Weile her. Länger als ein Jahr,
glaube ich.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum sie so plötzlich
nicht mehr kam? Hat die Concierge irgendetwas erzählt?«
»Nein. Ich habe auch nicht gefragt. Das Privatleben
anderer interessiert mich nicht.«
Er sagte dies im Brustton der Überzeugung. LaBréa
musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
»Ich glaube, Madame Baker hat in Neuilly gewohnt«,
fügte der alte Mann hinzu. »Ich meine, die Concierge hätte so etwas
mal erwähnt. Aber sicher bin ich nicht.« Er blickte auf seine Uhr.
»Schon gleich sechs. Ich muss jetzt wirklich los, meine Herren.
Wenn Sie Bridge kennen, wissen Sie, dass immer zwei gegen zwei
spielen, und dass der vierte Mann dringend gebraucht wird.« Er
stand auf und blickte die Beamten auffordernd an.
LaBréa erhob sich ebenfalls.
»Vielen Dank, Monsieur«, sagte er und gab Henri
Buffon die Hand, die dieser nur zögernd nahm. Sein Händedruck war
feucht und schlaff. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, hier ist meine
Telefonnummer.« LaBréa zog seine Visitenkarte aus der Tasche.
»Mal sehen, ob er wirklich seinen Bridgeabend
hat«, meinte LaBréa, als sie auf der Straße standen. »Oder ob er
uns nur möglichst schnell loswerden wollte.«
Sie setzten sich in Francks Wagen, der einige Meter
entfernt geparkt war. Franck beobachtete den Hauseingang durch den
Rückspiegel. Wenig später sagte er: »Er verlässt tatsächlich das
Haus und geht in die entgegengesetzte Richtung. Ein komischer Vogel
ist er schon. Das ist mir schon heute Morgen aufgefallen.«
Jean-Marc pflichtete ihm bei. »Ja. Und außerdem
habe ich den Eindruck, dass er mehr weiß, als er uns sagt.«