11. KAPITEL
Draußen dämmerte es bereits. Der Regen hatte
aufgehört. Straßen und Bürgersteige glänzten im Licht der Laternen.
Von der Rue Barbette ging LaBréa in Richtung Place des Vosges.
Natürlich war die Brülerie am heutigen Sonntag geschlossen, und
LaBréa wusste nicht, ob er Francine Dalzon zu Hause antreffen
würde. Von unterwegs aus rief er sie an. Erst nach mehrmaligem
Läuten ging sie ans Telefon. Er fragte sie, ob sie einen Moment
Zeit für ihn habe. Sie klang verschlafen, als sie antwortete.
»Um was geht es denn, Commissaire?«
»Das würde ich Ihnen lieber persönlich
sagen.«
Sie gab ihm die Nummer ihres Haustürcodes, und
Minuten später öffnete LaBréa die kleine Tür, die sich gleich neben
dem Eingang zur Brülerie befand.
Es war das erste Mal, dass er die Privatwohnung der
Familie Dalzon sah. Sie lag im ersten Stock, direkt über dem
Geschäft, und die Fenster gaben den Blick über den ganzen Platz
frei. Das Mobiliar war einfach und funktional. Ein Vitrinenschrank
beherbergte alte Puppen. Sammlerstücke, wie Francine
erklärte.
»Als Sie vorhin anriefen, habe ich übrigens gerade
geschlafen. Das Beste, was man an solch einem verregneten Tag
machen kann. Die Sonntage sind am schlimmsten, seit mein Mann weg
ist. Also, worum geht es, Commissaire?« Sie bot ihm einen Aperitif
an, und LaBréa entschied sich für einen Pastis.
Er nippte an seinem Glas und erzählte Francine in
groben Zügen von dem Mord an der alten Frau und den Hinweisen, die
sowohl Henri Buffon als auch Eloïése Chabrier ihm gegeben
hatten.
»Und da dachte ich, ich wende mich mal an Sie,
Madame Dalzon«, schloss er seinen Bericht. »Soweit ich weiß,
besuchen Sie doch auch hin und wieder diese Tanzlokale.«
»Ja. Aber weniger das Paradis als das La
Rose in der Rue St. Claude. Im Paradis finde ich es zu
teuer, das ist der reinste Nepp. Die nehmen für ein Glas Wein schon
dreizehn Euro. Aber in letzter Zeit war ich nicht mehr tanzen. Mir
stand wahrlich nicht der Sinn danach auszugehen.«
»Wie geht es denn in diesen Lokalen zu? Wenn ältere
Frauen dort allein hingehen, finden die dann alle einen passenden
Tänzer?«
Francine lachte, was ihrem Gesicht für einen Moment
den traurigen und depressiven Ausdruck nahm.
»Das kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Wer alt ist und sich dort amüsieren will, muss
schon was springen lassen. Da lungern immer ein paar
junge Männer herum, die knapp bei Kasse sind. Betuchte ältere
Damen erkennen die sofort. Das ist im La Rose nicht anders
als im Paradis. Glauben Sie, dass die Frau ihren Mörder dort
getroffen hat?«
»Möglich. Jedenfalls war sie dort Stammgast«, sagte
LaBréa nachdenklich. »Und betucht war sie auch«, fügte er hinzu,
erwähnte allerdings nicht, dass Griseldis Geminard einen Tag vor
ihrem Tod eine große Summe von ihrem Bankkonto abgehoben
hatte.
»Warum überzeugen Sie sich nicht selbst davon, wie
es dort zugeht?«, schlug Francine vor. »Das Paradis hat
heute sicher geöffnet. Das würde ich mir nicht entgehen lassen, und
zwar bevor ich mit dem Personal rede.«
»Gute Idee. Und was halten Sie davon, mich zu
begleiten?«
Francine wehrte ab.
»Nein, nein, Commissaire, lieber nicht. Ich bin
heute wirklich nicht in der Stimmung auszugehen. Außerdem - so, wie
ich aussehe...« Sie zeigte auf ihre unfrisierten, leicht fettigen
Haare.
»Schade. Eine Frage hätte ich noch, Madame Dalzon.«
LaBréa überlegte, wie er es formulieren sollte, denn er verließ
jetzt das Terrain der Mordermittlung und war aus rein privaten
Gründen interessiert. »Wenn beispielsweise verheiratete Frauen in
Ihrem Alter an den Wochenenden dorthin gehen, was sagen denn da die
Ehemänner? Hat Ihr Mann zum Beispiel gewusst, dass Sie ins La
Rose gingen?«
»Ja, natürlich hat er es gewusst. Ich tanze für
mein Leben gern, und mein Mann war ein ausgesprochener Tanzmuffel.
Ich ging mit einer Freundin dorthin, und wir amüsierten uns immer
königlich. Aber es kamen und kommen natürlich auch Leute, deren
Partner keine Ahnung haben. Und natürlich ergibt sich da so manches
Techtelmechtel, manche Liaison. So etwas bleibt doch nicht aus,
wenn jemand dafür empfänglich ist. Was in diesen Lokalen
hauptsächlich verkauft wird, ist in guten wie in schlechten Zeiten
immer gefragt: Sehnsucht und Träume. Für manche ist das wie ein
Ball der einsamen Herzen. Und einsam kann auch jemand sein, der
seit Jahren verheiratet ist und nach außen eine harmonische und
glückliche Ehe führt.«
Als LaBréa Francine zum Abschied die Hand reichte,
ahnte sie nicht, wie sehr ihre letzten Worte ins Schwarze getroffen
hatten. War seine Mutter während ihrer Ehe eine einsame Frau
gewesen? Hatte Lucia LaBréa sich an der Seite ihres Mannes
unglücklich gefühlt und die Liebe eines anderen gesucht?
Er schlug den Weg zur Bastille ein und dachte,
welch eigenartige Laune des Schicksals es doch war, dass ihn die
Ermittlungen im Fall Geminard in eins der Tanzlokale führten, die
im geheimen Leben seiner Mutter eine große Rolle gespielt
hatten.
Von unterwegs aus rief er Jenny an, um ihr zu
sagen, dass er doch später käme als versprochen.
»Ist Virginie schon weg?«, wollte er wissen.
»Sie wäre gern noch länger geblieben. Aber ihre
Mutter hat sie pünktlich abgeholt. Am Sonntagabend gibt es bei
denen immer ein großes Familienessen. Virginie sagt, das sei
Tradition, und sogar ihre beiden Brüder, die schon studieren,
müssen jeden Sonntag antanzen.«
»Hast du denn schon was gegessen?«
»Ja, eine Tüte Chips. Ist ja nichts anderes da.«
Sie klang vorwurfsvoll.
»Ich war doch heute Morgen auf dem Markt. Der ganze
Kühlschrank ist voll.«
»Aber mit Sachen, auf die ich keinen Bock habe.
Wann genau kommst du denn, Papa?«
»So gegen zehn vielleicht. Geh ruhig schon mal ins
Bett. Und vor allem, sieh dir nicht wieder irgendeinen Krimi im
Fernsehen an.«
»Im Zweiten gibt es heute eine Doppelfolge von
Spurlos verschwunden.«
»Ich will nicht, dass du dir diesen Schwachsinn
anguckst.«
»Das ist kein Schwachsinn, Papa. Da geht es um
vermisste Leute in Amerika, die dann von der Polizei gesucht
werden. Das ist total spannend und cool, und es wird keine Gewalt
gezeigt, ehrlich.«
LaBréa blieb skeptisch. Doch was sollte er tun? Ihm
war klar, dass Jenny an den Abenden, wenn er nicht zu Hause war,
häufig den Fernseher anschaltete. Er hatte
keine Kontrolle über die Programme, die sie sich ansah. Er gab
sich einen Ruck.
»Gut, Cherie, wenn du mir sagst, dass da keine
Gewaltszenen gezeigt werden, vertraue ich dir. Aber spätestens um
zehn schaltest du den Fernseher aus.«
»Mach ich, Papa. Großes Ehrenwort.«
»Wahrscheinlich bin ich ja bis dahin sowieso
zurück.«
Am Eingang zum Tanzlokal Paradis in der Rue
de Lappe befand sich ein Kassenhäuschen. LaBréa löste eine
Eintrittskarte. Sie kostete zwanzig Euro und berechtigte zur
Bestellung eines Softdrinks. Was die Preise in diesen Lokalen
betraf, hatte die Besitzerin der Brülerie nicht übertrieben. Dass
die Garderobe, an der LaBréa seinen Trenchcoat abgab, nichts
kostete, erschien ihm wie ein Wunder.
Der Raum mit dem langen Bartresen und den
Sitznischen rings um die weitläufige Tanzfläche war in schummriges
Licht getaucht. Rote, samtbezogene Sessel und Tische mit
Spitzendeckchen und Kerzenlicht ließen die plüschige Atmosphäre
vergangener Zeiten wiederauferstehen. Die nostalgische Stimmung
schien absichtsvoll in Szene gesetzt. Sie hatte nichts von der
Leichtigkeit, wie sie in den Couplets der Dreißigerjahre und den
frühen Chansons von Edith Piaf besungen wurde. Die Combos und
Orchester früherer Jahre waren einer teuren und phonstarken
Stereoanlage gewichen,
aus deren Lautsprechern gerade die Klänge einer Rumba
ertönten.
LaBréa beobachtete vom Tresen aus das Treiben im
Lokal. Viele Tische waren besetzt. Auf der Tanzfläche tummelten
sich einige Paare; oftmals waren es Frauen, die miteinander
tanzten.
Wie damals im Krieg, dachte LaBréa. Als Männer
Mangelware waren und nicht jede Frau in Paris mit einem deutschen
Besatzungssoldaten loszog.
Das Publikum war zumeist weiblich und vom
Altersdurchschnitt her jenseits der sechzig. Offenbar legten alle
Wert auf gute Kleidung. Die Frauen hatten sich herausgeputzt,
trugen hübsche Kleider mit dazu passenden Schuhen und
Handtaschen.
Die wenigen älteren Herren, in Anzug und Krawatte,
hatten jene Frauen auf die Tanzfläche entführt, die am flottesten
und jüngsten wirkten. Die anderen saßen allein oder zu zweit an den
Tischen. Ein gewinnendes, aber wie eingefroren wirkendes Lächeln
auf den Lippen, hielten sie Ausschau nach einem Kavalier, der ihr
Mauerblümchendasein beendete.
Als Neuankömmling wurde LaBréa von vielen
weiblichen Augenpaaren sehnsüchtig taxiert. Neben ihm an der Bar
standen drei Männer jüngeren Alters. Zwei von ihnen hatten ihre
gegelten Haare straff nach hinten gekämmt und bedienten das
Klischee eines argentinischen Tangotänzers. Ihre dunklen Anzüge
saßen schlecht. Vielleicht stammten sie aus einem Theaterfundus.
Der Dritte trug einen grau gestreiften, tadellos sitzenden
Dreiteiler mit gepunkteter Krawatte. Er hatte seine Arme über der
Brust gekreuzt und lehnte lässig am Tresen. Seine Augen waren
auffallend blau, das konnte LaBréa trotz des schummrigen Lichts
erkennen. Ein strahlendes Kornblumenblau, wie man es selten bei
Männern, noch dazu bei dunkelhaarigen, sieht. Doch am
auffallendsten war die Narbe an seiner Oberlippe, die er mit einem
Bärtchen zu kaschieren suchte. Eine Hasenscharte, wahrscheinlich im
Kindesalter schlecht operiert.
Alle drei taxierten routiniert das Angebot an Damen
und gaben sich abgeklärt. Sie sprachen nicht miteinander, schienen
sich demnach wohl nicht zu kennen.
Einer der Tangotänzer veränderte seine Position,
lehnte sich ebenfalls mit dem Rücken an den Tresen und zündete sich
eine Zigarette an. Er war nicht der Einzige, der rauchte. LaBréa
wunderte sich, dass das seit kurzem überall in Kraft getretene
Rauchverbot hier so offensichtlich ignoriert wurde.
Er gab dem Barkeeper seinen Getränkecoupon und
bestellte einen Tom Collins. Vor vielen Jahren, als er die USA
bereiste, war das sein Lieblingsdrink gewesen. Es erschien LaBréa
der passende Drink für einen Polizeikommissar, der am Sonntagabend
inkognito ein Pariser Tanzlokal besuchte.
»Kostet aber vierzehn Euro extra«, sagte der
Barkeeper, ein Mann mit weißem Hemd und Fliege, mit
unbeteiligter Stimme. »Der Coupon gilt nur für eine Cola oder
einen Saft.«
LaBréa nickte ergeben und zückte sein Portemonnaie.
Mit seiner schiefen Nase, der unbestimmbaren Augenfarbe und den
dunklen, in der Mitte gescheitelten Haaren erinnerte ihn der Mann
an den Komiker Fernandel. Der mixte den Drink und stellte ihn
schwungvoll auf den Tresen. LaBréa nahm einen ersten Zug und
bemerkte sogleich, dass der Drink viel zu wenig Gin enthielt.
Die Musik wechselte. Die ersten Töne eines
Musettewalzers wurden von den Damen freudig beklatscht. Einige
Paare verließen die Tanzfläche, andere betraten sie. Die drei
Männer, die neben ihm am Tresen standen, schwärmten zu den Tischen
aus und unterzogen die Sitzengebliebenen einer kurzen Prüfung. Die
beiden Tangotänzer kehrten unverrichteter Dinge zum Tresen zurück.
Der Dritte, der mit den blauen Augen und dem Bärtchen über der
Narbe, forderte eine grauhaarige Frau auf, die ein groß geblümtes
Kostüm trug. Mit jugendlichem Schwung erhob sie sich und folgte ihm
zur Tanzfläche. Dort fasste der Kavalier routiniert ihren linken
Arm und legte seine rechte Hand auf ihren Rücken. Sogleich bewegten
sie sich gekonnt im Rhythmus der Musik. Auf dem Gesicht der Frau
lag ein romantischer Ausdruck von Verklärtheit.
Hinter sich hörte LaBréa ein kurzes Räuspern. Er
drehte sich um und blickte in das lächelnde Gesicht
eines Mannes von etwa Mitte dreißig. Mit seinen gegelten, sich im
Nacken nach außen kräuselnden Locken und dem länglichen, leicht
verschlagen wirkenden Gesicht sah er aus wie der Prototyp des
Schurken in einem Low-Budget-Film. Sein dunkler Anzug saß tadellos,
die schwarzen Lackschuhe wirkten geckenhaft.
»Guten Abend, Monsieur«, sagte er mit öliger Stimme
und entblößte eine Reihe blitzender Zähne. »Zum ersten Mal hier bei
uns im Paradis?«
»Ja, genau.« LaBréa nippte an seinem Drink, der
inzwischen noch wässriger schmeckte.
»Ich bin der Geschäftsführer. Gestatten: Patrice
Montana.« Er musterte LaBréa eingehend. Ein Mann in Cordhose und
hellgrauem Pullover... Als sein skeptischer Blick auf LaBréas derbe
Schlechtwetterschuhe fiel, schüttelte er leicht den Kopf, ohne dass
sein routiniertes Lächeln verschwand.
»Tanzen Sie denn überhaupt, Monsieur?«
LaBréa nickte rasch.
»Ab und zu schon, sonst wäre ich ja nicht
hier.«
»Wohl nicht aus Paris, was?« Es klang halb
scherzhaft, halb mitleidig. LaBréa beschloss, das Spielchen
mitzuspielen.
»Ganz recht, Monsieur Montana. Ich komme aus der
Auvergne und habe geschäftlich in Paris zu tun.«
Der Geschäftsführer senkte vertraulich die
Stimme.
»Und dann verirren Sie sich ausgerechnet zu uns? Da
gibt es doch ganz andere Adressen: das Moulin
Rouge oder einschlägige Lokale am Boulevard Diderot.«
»Das hebe ich mir für die nächsten Tage auf«,
erwiderte LaBréa.
Patrice Montana sah LaBréa noch einmal prüfend an,
dann klopfte er ihm auf die Schulter.
»Nun, Monsieur, dann wünsche ich Ihnen noch einen
angenehmen Abend.«
Der Geschäftsführer machte kehrt, ging zu einem der
Tische in der Nähe, wo er den beiden Damen, die ihn und LaBréa die
ganze Zeit neugierig beobachtet hatten, galant die Hand küsste.
Dann stellte er sich an die Tanzfläche und beobachtete das Treiben.
Die Grauhaarige mit dem geblümten Kostüm lächelte ihm zu, während
ihr Kavalier mit der Hasenscharte ihn nicht beachtete.
LaBréa trank den letzten Schluck seines Tom Collins
und dachte nach. Der Geschäftsführer hatte sich allzu sehr für ihn
interessiert. Weil er sofort gespürt hatte, dass er nicht in dieses
Lokal passte? Oder aus anderen Gründen?
Fünf Minuten später verließ LaBréa das
Paradis wieder. Er hatte genug gesehen. Die eigenartige
Atmosphäre in dem Lokal ging ihm nicht aus dem Sinn. War der Mörder
von Griseldis Geminard in diesem Umfeld zu suchen?
Als LaBréa auf dem Nachhauseweg die Place des
Vosges überquerte, zeigte sich am nächtlichen Himmel
zwischen zwei Wolkenfetzen für einen Augenblick der beinahe volle
Mond. Sein bleicher Lichtstrahl ergoss sich wie ein Scheinwerfer,
den man an- und ausschaltete, über das Grün des Platzes.