9. KAPITEL
LaBréa hängte seinen Mantel an den Garderobenhaken.
»Hallo, Cherie!«, rief er und betrat das Wohnzimmer.
»Salut, Papa«, ertönte es aus einem der Sessel, wo Jenny mit Kater Obelix lümmelte. Der Fernseher war eingeschaltet. Auf dem Bildschirm lieferten sich Tom und Jerry eine wilde Verfolgungsjagd, die Jennys ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Aus der Küche ertönte plötzlich Celines Stimme.
»Du kommst keine Minute zu früh, Maurice. Es kann sofort losgehen.«
Jetzt bemerkte LaBréa, dass der Tisch im Wohnzimmer gedeckt war und ein köstlicher Duft die Wohnung durchzog. Er gab seiner Tochter einen flüchtigen Kuss und ging in die Küche, wo Celine mit Töpfen hantierte. Erstaunt blickte er sie an und schüttelte irritiert den Kopf.
»Sag mal...«, begann er leise, beendete den Satz jedoch nicht. Céline lächelte.
»Überraschung, Maurice. Ich dachte, nach solch einem Tag trauriger Ereignisse und überflüssiger Missverständnisse würde ein schönes Essen dir guttun.«
Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Was hatte das alles zu bedeuten? Wieso stand sie plötzlich in seiner Küche, als sei nichts geschehen? Wo war Adrien, der Mann aus ihrer Vergangenheit?
Céline umarmte ihn.
»Es tut mir so leid, das mit deiner Mutter«, sagte sie sanft. »Ich hab’s vorhin von Jenny erfahren, und da dachte ich...« Sie beendete den Satz nicht.
»Und Adrien?« LaBréa konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Adrien hat heute Abend ein Geschäftsessen und kommt wahrscheinlich erst sehr spät zurück. Ich habe ihm einen Schlüssel zu meiner Wohnung gegeben, damit er unabhängig ist.« Sie küsste ihn.
»Wie kann man nur so dumm sein, Maurice?« Es klang so, als spräche sie zu einem Kind. »Du kennst mich jetzt schon beinahe ein Jahr. Eigentlich müsstest du wissen, dass ich ein treuer Mensch bin und kein Interesse an irgendwelchen Affären habe. Und schon gar nicht mit Adrien.«
LaBréa stand da wie ertappt. Er fühlte sich unsicher, die Gedanken kreisten in seinem Kopf.
»Ich dachte, eure Trennung war so schrecklich, dass du ihn nie wieder sehen wolltest? Wenn er jetzt plötzlich bei dir auftaucht, da liegt es doch nahe...«
Celine unterbrach ihn.
»Für dich vielleicht, Maurice. Ich bin da anders. Wenn ich eine feste Beziehung eingehe - und die bin ich mit dir eingegangen -, gibt es keinen Seitensprung. Ich liebe dich nämlich, und da ist kein Platz für jemand anders. Adrien hat mich Freitagnachmittag vom Flughafen aus angerufen und gefragt, ob wir uns sehen könnten. Warum nicht?, habe ich mir gedacht. Wir waren zusammen essen, und es war ausgesprochen nett. Er ist seit zwei Jahren verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Ich habe ihm von dir erzählt. Es war ein gutes Gespräch, ein Abend unter Freunden.«
LaBréa nickte. Das, was Celine sagte, klang plausibel, und er fühlte sich erleichtert. Dennoch gab es etwas, was er nicht verstand.
»Wieso muss er denn bei dir übernachten? Hatte er kein Hotelzimmer gebucht?«
»Doch. Aber du wirst es nicht glauben: Bei der Buchung ist ein Fehler passiert. Als er Freitagnachmittag ins Hotel kam, war das Zimmer fälschlicherweise an jemand anders vergeben worden. Da im Moment mehrere Kongresse in Paris stattfinden, hat er so schnell nirgendwo ein Zimmer gefunden. Da habe ich ihm mein Gästezimmer angeboten. Voilà.«
LaBréa nickte und fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar.
»Verstehe. Aber das hättest du mir gestern doch gleich sagen können, statt so komisch zu reagieren.«
»Du hast Recht, das hätte ich«, meinte sie und lächelte hintergründig. »Aber irgendein Teufelchen hat mir eingeflüstert, dich mal ein bisschen schmoren zu lassen und eifersüchtig zu machen.«
LaBréa lachte erleichtert auf.
»Das ist dir auch gelungen.«
»Außerdem - hättest du es denn geglaubt?« Bevor er darauf antworten konnte, ertönte Jennys Stimme aus dem Wohnzimmer.
»Ich hab Hunger! Wann ist es denn endlich so weit?«
»In zwei Minuten«, erwiderte Celine. »Mach ruhig schon mal den Fernseher aus.« Sie wandte sich an Maurice und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Warum hast du mich denn nicht angerufen, als du vom Tod deiner Mutter erfahren hast?«
»Ja, warum wohl?«, murmelte LaBréa. »Weil ich ein Idiot bin, deshalb. Weil ich dachte... ach, lassen wir das. Ich bin froh, dass du heute Abend hier bist.« Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Eine etwas unbeholfene Art, sich bei Celine zu entschuldigen, doch sie schien es zu verstehen.
 
Kurz darauf saßen sie um den runden Esstisch. Céline war eine ausgezeichnete Köchin und verstand es, innerhalb kurzer Zeit und ohne großen Aufwand raffinierte Mahlzeiten auf den Tisch zu zaubern. Als Vorspeise gab es Jakobsmuscheln in Estragon-Tomaten-Soße. LaBréa entkorkte eine Flasche weißen Burgunder. Célines Familie in Nuits St. Georges, Weinbauern in der siebten Generation, stellte diesen wunderbaren Tropfen her. Céline deckte sich regelmäßig damit ein. LaBrea schenkte den Wein ein, und Celine hob ihr Glas.
»Auf deine Mutter, Maurice«, sagte sie, und ihre Stimme klang beinahe feierlich. »Sie war eine wunderbare Frau und hatte durch ihre Krankheit ein schweres Schicksal. Möge sie in Frieden ruhen!«
LaBréa spürte einen Kloß in seinem Hals.
»Danke«, sagte er leise, und blickte ihr in die Augen. »Auch für alles andere. Du weißt schon... Also, auf Maman!«
Jetzt erhob Jenny ihr Glas Orangenlimonade.
»Mir tut es auch um Großmaman leid«, murmelte sie etwas unbeholfen und sah LaBréa mit ihren tiefblauen Augen an. »Sie ist jetzt sicher schon ganz weit weg, an einem schönen Ort. So wie Maman auch.« Rasch senkte sie ihren Blick, damit ihr Vater und Céline nicht bemerkten, dass sie mit den Tränen kämpfte. LaBréa drückte ihre Hand, und Céline wechselte das Thema.
»Schmeckt es euch? Die Jakobsmuscheln waren Jennys Idee. Ich hatte noch ein Päckchen im Tiefkühlfach.«
Als Hauptgang servierte Celine kleine, mit Pilzen, gerösteten Pinienkernen und Rosinen gefüllte Kalbsrouladen und als Beilage ein Zucchinigratin. Jenny erzählte jetzt von ihrem Tag in der Schule und vom Fußballnachmittag.
»Alles war ganz köstlich, meine Liebe«, sagte LaBrea, als er nach dem Essen seinen Kaffee trank. Jenny war schon beim Dessert beinahe über ihrem Teller eingenickt. Jetzt stand sie auf.
»Ich gehe ins Bett«, murmelte sie schläfrig und gähnte verhalten. »Lasst bitte die Tür zu meinem Zimmer auf, falls Obelix nachher zu mir will.« Sie gab ihrem Vater und Celine ein Gute-Nacht-Küsschen.
 
Eine halbe Stunde später hatten LaBréa und Céline die Küche aufgeräumt. LaBréa überzeugte sich, dass Jenny schlief, und lehnte ihre Zimmertür an. Obelix lag ausgestreckt auf der Wohnzimmercouch und gab leichte Schnarchtöne von sich. Spätestens dann, wenn La-Breas Schlafzimmertür sich hinter ihm und Céline geschlossen hatte, würde der Kater es sich bei Jenny bequem machen.
LaBréa fiel der Karton mit den persönlichen Sachen seiner Mutter ein. Er holte ihn ins Wohnzimmer und begann ihn auszupacken. Obenauf lag ein großer Umschlag mit alten Familienfotos. LaBréa erkannte seine Großeltern mütterlicherseits und seine Tante Isabella, die früh verstorbene ältere Schwester seiner Mutter. Es gab mehrere Hochzeitsfotos seiner Eltern, Bilder von ihm und seinem jüngeren Bruder, als sie Kinder waren.
»Du warst ein richtig hübscher Bengel«, meinte Céline, als sie die Bilder betrachtete. »Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Kein Wunder, dass ich mich in dich verliebt habe.«
»Na, na«, lachte LaBrea. »Übertreib mal nicht.«
»Das ist keine Übertreibung, und das weißt du auch.«
Er nahm sie in den Arm, und sie küssten sich. Nach einer Weile lösten sie sich voneinander, und LaBréa widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Nachlass seiner Mutter. Er entdeckte Briefe seines Vaters, die er diskret beiseitelegte, sowie ein kleines Album, dessen abgegriffener Einband mit einem geblümten Stoff überzogen war.
»Sieh mal hier«, sagte er zu Celine und schlug die erste Seite auf. »Poesiealbum von Lucia Bartoli«, las er. »Bartoli war ihr Mädchenname. Begonnen am 7. Mai 1950. Da war sie...« Er dachte kurz nach. »Sie ist 1938 geboren, also war sie da zwölf Jahre alt.«
Auf vielen Seiten des Albums klebten Votivkärtchen und Glanzbilder mit Blumenmotiven, kleinen Herzen oder einem Vogel. LaBréa las die üblichen Jungmädchenwidmungen. Vom Veilchen im Moose und der stolzen Rose war die Rede, von der Jugend frohe Stunden, die man nutzen solle. Klassenkameradinnen hatten diese Widmungen mit zum Teil ungelenker Handschrift geschrieben. Auch Lehrerinnen hatten sich verewigt. »Deine Mathematiklehrerin Françoise Vilot.« Der letzte Eintrag trug das Datum 1. Dezember 1952.
»Zu ihrer Zeit gab es ja noch keine gemischten Schulen«, sagte LaBréa. »Es waren nur Mädchen in ihrer Klasse.«
Er reichte Celine das Album. Sie las einige Widmungen und schien gerührt.
»Wann sie wohl das letzte Mal dieses Album in der Hand gehabt hat? Sie hat es ihr Leben lang behalten, also hing sie sehr daran.«
»Obwohl sie in den Jahren ihrer Krankheit sicher alles vergessen hatte, was drinstand.«
»Schade, Maurice, dass junge Mädchen heutzutage so etwas kaum noch kennen. Ein Poesiealbum, meine ich. Das hat irgendwie etwas Romantisches. Etwas Unschuldiges, findest du nicht? Doch es ist völlig aus der Mode gekommen. Ich hatte übrigens auch kein Poesiealbum.«
»Ja, die Zeiten haben sich gewaltig geändert«, pflichtete LaBréa ihr bei. »Wenn ich Jenny solch ein Album schenken würde und ihr sagte, wozu es dient, würde sie mich auslachen.«
Er holte aus dem Karton einen Packen weiterer Briefe, säuberlich mit einem roten Band verschnürt. Erstaunt betrachtete LaBréa sie.
»Komisch, die Schrift kenne ich gar nicht.« Rasch blätterte er den Packen durch. »Oktober 73... November 73... Januar 74... Keine Kuverts, also auch kein Absender«, stellte er fest. »Und alle in derselben Handschrift geschrieben.« Er löste das rote Band, nahm den zu oberst liegenden Brief und faltete ihn auf. »22. September 1973. Liebste Lucia, mein Augenstern...«, las er verwundert. »›Meine Allerliebste‹ steht hier und ›Geliebte Lucia, wie sehr sehne ich mich nach Deinem Mund... ‹« Er überflog das letzte Schreiben. »›In ewiger Liebe und Treue, Dein Bernard...‹« Irritiert schüttelte LaBréa den Kopf. »Dein Bernard?! Wer ist denn Bernard?«
Ein leises Lächeln huschte über Célines Gesicht.
»Sieht ganz so aus, als hätte deine Mutter ein Geheimnis gehabt, von dem ihr anderen in der Familie all die Jahre keine Ahnung hattet.«
 
LaBréa öffnete eine weitere Flasche Wein, verscheuchte Obelix vom Sofa und nahm neben Celine Platz. Beleidigt stolzierte der Kater in Jennys Zimmer.
Die Briefe eines Mannes namens Bernard an Lucia LaBréa, insgesamt einhundertsiebenunddreißig, waren romantische und auch leidenschaftliche Liebesbriefe. Oftmals nahm der Verfasser Bezug auf das, was Lucia ihm geschrieben hatte: zärtliche Worte, Schwüre ihrer Liebe, die er in seinen Zeilen erwiderte. Der erste Brief datierte aus dem Jahr 1973, der letzte trug das Datum 21. Januar 1984. In einem der Briefe steckte ein Foto. Das farbige Passfoto eines Mannes. Er hatte blonde, volle Haare und ein weiches Gesicht mit melancholischen blauen Augen.
»Kennst du ihn?«, fragte Celine. LaBréa schüttelte den Kopf.
»Nein. Den habe ich noch nie gesehen.«
»Er sieht ein bisschen aus wie Robert Redford, findest du nicht?«
»Vielleicht. Auf jeden Fall sieht er völlig anders aus als Papa. Der war dunkelhaarig, ein ganz anderer Typ.« LaBréa legte das Foto zurück in den Umschlag.
Elf Jahre lang, von ihrem sechsunddreißigsten Lebensjahr bis zum Alter von siebenundvierzig, hatte LaBréas Mutter ein geheimes Liebesverhältnis mit einem Mann gehabt. Aus den Briefen ging hervor, dass sie sich regelmäßig einmal in der Woche trafen, und zwar am Sonnabend. »Du tanzt einfach hinreißend!«, schrieb Bernard in einem seiner frühen Briefe. »Wenn mein Arm Dich umfasst, wenn ich den Duft Deiner zarten Haut rieche, ist mein Verlangen nach Dir wild und ungestüm...«
»Sie gingen also zusammen tanzen«, sagte LaBréa und trank einen Schluck aus seinem Glas. »Ich erinnere mich, dass meine Mutter immer eins dieser Tanzlokale besuchte, wo Musettewalzer, aber auch andere Musik gespielt wurde.«
»Meinst du das Paradis in der Rue de Lappe?«, fragte Céline.
»Ob sie dorthin ging, weiß ich nicht. Es gibt ja noch so einige dieser Tanzlokale in der Stadt. Überbleibsel aus der guten alten Zeit. Maman sagte immer, sie ginge mit einer Freundin aus. Und ich glaube, es war immer sonnabends.«
»Und dein Vater? Hat er sie nie begleitet?«
»Anscheinend nicht. Aber soweit ich mich erinnere, spielte Papa sonnabends immer Tischtennis. Er war ja Ingenieur bei der Eisenbahn. Und da gab es eine Werksmannschaft, in der Papa aktiv war. Sie haben sogar Turniere gespielt. Ich erinnere mich, dass beide immer spät nach Hause kamen. Ja, Richard und ich waren sonnabends nach dem Mittagessen meistens allein.«
»Dann ist zu vermuten, dass deine Mutter diese Freundin vorgeschoben hat und sich in Wirklichkeit mit einem Mann namens Bernard zum Tanzen traf. Anschließend nahm er sie wahrscheinlich mit in seine Wohnung.«
LaBréa seufzte. Die Tatsache, dass seine Mutter über Jahre ein Doppelleben geführt und offenbar sehr leidenschaftlich geliebt hatte, löste zwiespältige Gefühle in ihm aus. Er fragte sich, ob sein Vater von diesem Verhältnis gewusst, es vielleicht sogar toleriert hatte? Oder war er nie dahintergekommen, weil seine Frau sich gut verstellt und alle Spuren sorgsam verwischt hatte? Wo waren die Liebesbriefe angekommen? Hatte Bernard sie per Post an ihre Privatadresse geschickt? Oder hatte seine Mutter sich die Briefe postlagernd senden lasen? Letzteres schien wahrscheinlicher zu sein; sie hatte kein Risiko eingehen wollen. Die Frage war: Warum hatten sie sich überhaupt Briefe geschrieben, wenn sie sich doch jede Woche trafen? Und waren sie nach dem Tanzen in die Wohnung des Liebhabers gegangen? Was, wenn er verheiratet gewesen war? Hatten sie dann ein Stundenhotel aufgesucht? Diese Vorstellung berührte LaBréa unangenehm. Wahrscheinlich würde es nie eine Antwort auf all diese Fragen geben. Lucia LaBréa hatte ihr Geheimnis mit in den Tod genommen; von ihrem Liebhaber fehlten Nachname und Adresse.
»Nach elf Jahren reißt die Korrespondenz plötzlich ab«, meinte Celine. »Vielleicht ist der Mann gestorben. Oder er ist aus Paris weggezogen, und das Verhältnis war dadurch beendet. Aus den Briefen erfährt man gar nichts über ihn. Wo wohnte er, welchen Beruf übte er aus, war er vielleicht ebenfalls verheiratet und führte ein Doppelleben?«
»Aber eins ist doch interessant«, sagte LaBréa. Ihm war plötzlich etwas eingefallen. »Mein Vater ist am 26. Januar 1984 bei der Testfahrt des neuen Hochgeschwindigkeitszugs tödlich verunglückt. Und der letzte Brief an meine Mutter datiert vom 21. Januar, also fünf Tage vorher.«
Celine verstand sofort, was er damit sagen wollte.
»Du meinst, da besteht ein Zusammenhang? Dein Vater stirbt, und das Verhältnis der beiden ist jäh beendet?«
»Ja, das wäre möglich. Meine Mutter ist damals völlig zusammengebrochen, als sie die Todesnachricht erhielt. Ich studierte da bereits, wohnte aber noch zu Hause. Insofern erinnere mich sehr genau an alles. Richard und ich waren immer der Meinung, sie muss Papa wahnsinnig geliebt haben. Mir schien immer, als hätte sie seinen Tod nie verwunden. Vor allem, weil es so ein schreckliches Unglück war. Die Rettungsmannschaften haben Stunden gebraucht, um Papa und seine beiden Kollegen aus den Trümmern des Waggons zu bergen. Obgleich schwer verletzt, hat er alles mitbekommen. Als er ins Krankenhaus kam, war er noch bei Bewusstsein.«
»Wie schrecklich, Maurice! So genau hast du es mir nie erzählt.«
»Das war ein Trauma für die ganze Familie. Wenn ich mir vorstelle, dass es da schon seit Jahren einen Liebhaber in Mamans Leben gab... Ich fasse es nicht.«
»Vielleicht hat sie mit Bernard Schluss gemacht, weil sie sich irgendwie am Tod ihres Mannes schuldig fühlte?«
»Möglich. Ich habe meine Mutter stets als sehr moralische Frau erlebt. Nie hätte ich ihr einen Seitensprung zugetraut. Schon gar nicht ein jahrelanges Verhältnis. Vielleicht hat sie Papas Tod als ein Zeichen gesehen.«
»So eine Art Fingerzeig Gottes, meinst du? War deine Mutter denn gläubig?«
»In meiner Kindheit und Jugend schien das nicht der Fall gewesen zu sein. Da ging sie kaum in die Kirche. Aber nach Papas Tod - ja, ab dem Zeitpunkt ging sie mehrere Male in der Woche in die Kirche Notre-Dame des Champs, am Montparnasse. Mit dem dortigen Pfarrer war sie fast freundschaftlich verbunden. Pater Rene hieß er, glaube ich.«
»Na, das sagt doch viel. Sie hat ihr Gewissen erleichtert und bei ihm gebeichtet.«
»Wie auch immer, ich werde den Schleier über diesem Geheimnis wahrscheinlich nie lüften.«
»Wirst du es Richard erzählen, wenn er zurück ist?«
LaBréa überlegte kurz.
»Ja, ich glaube, dass er es wissen sollte. Der Nachlass meiner Mutter gehört auch ihm. Ich kann ihm die Briefe nicht vorenthalten.«
»Bist du jetzt schockiert, Maurice, ändert sich dadurch das Bild, das du von deiner Mutter hast?«
LaBréa ließ sich Zeit mit einer Antwort.
»Schockiert ist vielleicht das falsche Wort. Ich bin eher erstaunt, oder, besser gesagt, etwas befremdet. Aber im Grunde genommen geht mich das nichts an. Es war ihr Leben, und sie war nur sich selbst Rechenschaft schuldig. Höchstens noch Papa, aber auch das geht mich nichts an.«
»Es gibt einen Film, ich weiß nicht, ob du den kennst. Mit Meryl Streep und Clint Eastwood. Die Brücken am Fluss.«
LaBréa schüttelte den Kopf.
»Nein, den kenne ich nicht.«
»Es ist die Geschichte einer ehrbaren Farmersfrau irgendwo in Amerika, die eine Zeit lang einen Liebhaber hatte, einen Fotografen, der die berühmten überdachten Brücken in der Gegend fotografierte und so mit ihr in Kontakt kam. Von dem leidenschaftlichen Verhältnis der beiden hat ihr Ehemann nie etwas erfahren. Auch die Kinder nicht. Erst nach dem Tod der Frau fanden der Sohn und die Tochter die Liebesbriefe des Fotografen. Man könnte sich vorstellen, dass so etwas öfter vorkommt.«
LaBréa lehnte sich zurück und blickte gedankenverloren durch die hohen Fenster in den kleinen Garten. Die Zwergzypresse bog sich im Wind. Auf das Glasdach der Atelierwohnung trommelte der Regen in gleichmäßigem Rhythmus.
»Musettewalzer...«, sagte LaBréa plötzlich und schlug sich an die Stirn. »Ich erinnere mich, dass Maman diese Musik sehr liebte. Sie hatte eine Menge solcher Schallplatten.« Mit einem Ruck drehte er sich zu Celine. »Die alte Frau, die heute Morgen in ihrer Wohnung ermordet wurde, die hat auch Musettewalzer geliebt. Und ihr Nachbar hat ausgesagt, dass sie sonnabends immer mit einer Freundin ausging. Das bringt mich auf eine Idee!«
Er sprang auf und lief zum Telefon. Ein rascher Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz vor elf war. Trotzdem wählte er Francks Nummer. Nach mehrmaligem Klingeln meldete sich sein Mitarbeiter.
»Haben Sie schon geschlafen, Franck? Gut, umso besser. Wenn Sie morgen nochmal bezüglich der beiden Mordfälle Annie Normand und Leonore Foures die Nachbarn interviewen, fragen Sie doch mal nach, ob die beiden Frauen öfter eines dieser Tanzlokale wie das Paradis besucht haben. Musettewalzer, Tanzmusik. Wie? Das erkläre ich Ihnen am Montag. Gute Nacht.«
 
Eine halbe Stunde später gingen er und Céline eng aneinandergeschmiegt ins Bett. Sie liebten sich lange und leidenschaftlich, so als wäre es das erste Mal. Céline schlief danach rasch ein. LaBréa lag noch lange wach und dachte über die Turbulenzen des Tages nach. Ereignisse hatten sich gekreuzt und überlagert, bei denen es um Liebe, Betrug und Tod ging. Und um ein nostalgisches Vergnügen aus vergangener Zeit: den Musettewalzer. Später, als LaBréa endlich schläfrig wurde, erschien ihm in der kurzen, rasch entfliehenden Spanne zwischen Wachen und Schlaf das filigrane Gesicht der ermordeten Griseldis Geminard. Das Bild verblasste, und LaBréas Gedanken und Gefühle versanken in ein traumloses Nichts.

6. Oktober 2001

Er zog die Schuhe aus, die ihm sein Cousin geschenkt hatte, und streifte die Socken ab. Der Schmutz unter den Fußnägeln hatte sich mit angetrocknetem Blut vermischt. Einige Blasen an den Zehen waren aufgeplatzt. Barfuß zu gehen war eine Wohltat.
Schon lange hatte sich der Tag davongestohlen. Auf dem Wecker neben Dollys Bett las er die Uhrzeit: kurz nach elf. Der Wecker stammte noch aus der Zeit, als er zur Schule ging, und war im Lauf der Jahre überflüssig geworden. Dolly und er lebten ohne festen Rhythmus, und Dolly stand auf, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen hatte. Das war selten vor zehn Uhr morgens.
Von draußen vernahm er die immer gleichen Geräusche. Heute störten sie ihn, und er wusste nicht, warum. Seine Streifzüge hatten sich länger hingezogen als gewöhnlich. In der Zone war wenig Betrieb gewesen, und dementsprechend fand er in den Abfallkörben nur kümmerliche Reste. Am Nachmittag war er von der Metrostation Nation nach Barbès gefahren. Er war ein geübter Schwarzfahrer. Die Kontrollsperren zu überwinden erwies sich in den meisten Metrostationen als Kinderspiel. In der Rue Custine wohnte Mahmoud, ein ehemaliger Schulfreund von ihm. Sie waren zusammen eingeschult worden und hatten all die Jahre Kontakt gehalten. Mahmouds Familie stammte aus Afrika und lebte von Diebstahl und Hehlerei. Zu den Stoßzeiten trieben sich die Jugendlichen und Kinder des fünfzehnköpfigen Clans als Taschendiebe auf den Bahnhöfen der Stadt herum oder drängten sich in die überfüllten Metrozüge. Vor einigen Monaten hatte die Polizei Mahmouds jüngeren Bruder geschnappt. Da er noch nicht strafmündig war, musste der Untersuchungsrichter ihn laufen lassen.
Schon seit längerem plante er mit Mahmoud ein größeres Ding. In einem Hinterhof am Boulevard Barbes lagerten in einem schlecht gesicherten Raum Billiglaptops, Handys, Digitalkameras und Ghettoblaster. Schwarzmarktware aus Asien, Labelimitationen. Mahmoud hatte einige Käufer an der Hand, und am heutigen Abend sollte es losgehen. Er wusste, dass Dolly nicht vor Mitternacht nach Hause kam. Da würde er längst zurück sein. Das Türschloss des Lagerraums zu knacken war ein Kinderspiel. In den beiden Rucksäcken, die Mahmoud organisiert hatte, verstauten sie ein Dutzend Handys, drei Kameras, zwei Ghettoblaster und drei Laptops. Mahmoud wollte die Ware gleich am nächsten Tag verhökern. Nachdem sie die Sachen sicher in Mahmouds Wohnung geschafft hatten, bekam er seinen Anteil von fünfzig Euro. Er fand das eigentlich zu wenig, doch Mahmoud hatte ihm klargemacht, dass er das Risiko trüge und die Ware möglicherweise nicht loswerden würde. Dolly würde er von diesem Geld nichts erzählen, denn sie war strikt gegen derartige Aktionen.
»Wir sind keine Diebe und Kriminellen«, sagte Dolly oft. »Sondern anständige Leute, trotz allem. Wir respektieren das Eigentum anderer.« Er wunderte sich über ihren seltsamen Begriff von Ehre. Für sie selbst galt er in einem entscheidenden Punkt offenbar nicht. Doch das stand auf einem anderen Blatt.
Einen Moment lang hatte er überlegt, ob er für Dolly eine Flasche guten Schnaps kaufen sollte. Fünf Euro, mehr müsste er nicht dafür hinblättern. Doch aus verschiedenen Gründen hatte er diesen Gedanken verworfen. Einer davon war der, dass etwas geschehen musste.
 
Seit den Flugzeuganschlägen auf die Türme in Amerika waren einige Wochen vergangen. Es war Herbst geworden. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt, trotz der fünfzig Euro, die er sich heute verdient hatte.
Diesmal hatte er kein Brot aus der Bäckerei mitgebracht. Dolly wollte unterwegs ein Stück Pizza essen, und später in der Nacht ließ ohnehin nur noch billiger Fusel sie alles vergessen.
Er blickte durchs Fenster auf die Umgebung. Es regnete, doch das Wasser konnte die verschmutzten Scheiben nicht rein waschen. In der Ferne blinkten Lichter, rote und grüne.
Eine Nacht wie jede andere.
Bald würde Dolly nach Hause kommen. Wie immer nicht allein. Hoffentlich war er bis dahin eingeschlafen!
Er hasste den Augenblick, wenn er das Geräusch des Schlüssels in der Haustür vernahm. So wie er alles hasste. Diesen Tag, der wie alle anderen war. Das Rattenloch, in dem sie lebten. Die immer gleichen Außenund Innengeräusche, die ihn Tag und Nacht begleiteten.
Er ging zu seiner Schlafstatt und hob eine Holzbohle an. Dort hatte er eine verbeulte Tabakdose versteckt. Er legte die fünfzig Euro hinein. Es war nicht der einzige Schein. Mehr als vierhundert Euro hatten sich bereits angesammelt. Aus ähnlichen Geschäften wie heute. Er rückte die Bohle wieder an ihren Platz. Ohne sich zu waschen, warf er sich auf sein Lager. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starrte er in die Dunkelheit.
Etwas musste geschehen.