10. KAPITEL
Sofern sein Beruf ihm die Zeit dazu ließ,
ging LaBréa sonntagvormittags gern auf den Markt, am liebsten zur
Place Monge im Quartier Latin. Schon als Junge hatte er seine
Eltern manchmal am Sonntag dorthin begleitet. Der Markt erstreckte
sich bis in die Rue Mouffetard. In einer Ecke des Platzes fand ein
Treiben besonderer Art statt. Hier saß ein Akkordeonspieler und
intonierte alte Gassenhauer, Couplets und bekannte Chansons von
Edith Piaf oder Charles Aznavour. Jeder Marktbesucher konnte sich
zu ihm stellen und ein Lied schmettern. Die meisten Darbietungen
waren laienhaft, aber die Menschen hatten Spaß dabei. Zur Musik
wurde getanzt, und alle fielen in den Refrain der populären Lieder
ein.
Nach einem gemeinsamen Frühstück mit Jenny machten
er und Céline sich auf den Weg zum Markt. Das schlechte Wetter -
ein unangenehmer Nieselregen und ein böiger Wind - hielt sie nicht
davon ab. Jenny hatte sich mit ihrer Klassenkameradin Virginie zu
einer frühen Kinovorstellung verabredet. Der neueste Asterix und
Obelix war im Kinocenter Beaubourg angelaufen.
Lieber wäre Jenny zwar mit ihrer Freundin Alissa ins Kino
gegangen, doch die verbrachte das Wochenende bei ihrem Vater und
dessen neuer Frau.
Céline und LaBréa fuhren mit der Metro und
erledigten ihre Einkäufe. Wegen des Wetters war der
Akkordeonspieler nicht erschienen. Und so fehlte die fröhliche,
unbeschwerte Atmosphäre, die so typisch für diesen Markt war.
Mittags lud LaBréa seine Gefährtin in ein kleines
Lokal in der Rue Mouffetard ein. Die Wirtin kannte sie und stellte
als Erstes gleich einen Krug Landwein auf den Tisch. Zu essen gab
es einfache Hausmannskost. Am heutigen Tag wurden Lammkoteletts mit
grünen Bohnen als Hauptgang serviert, als Nachtisch eine
hausgemachte Mousse au Chocolat.
Nach dem Essen fuhren sie nach Hause. Céline wollte
am Nachmittag arbeiten. Am kommenden Wochenende sollte ihre
Ausstellung in einer Galerie im feinen 16. Arrondissement eröffnet
werden. Ihr neuer Bilderzyklus, Solitudes, abstrakte
Kompositionen in Grau-, Weiß- und Schwarztönen, war fertig. Jetzt
galt es, einen Plan zu erstellen, in welcher Reihenfolge und
Zusammenstellung die Exponate in der Galerie gehängt werden
sollten
Sie gingen in Celines Atelier, um dort noch einen
Kaffee zu trinken. Auf dem großen Tisch fand Celine eine Nachricht
von Adrien. Er bedankte sich für ihre Gastfreundschaft. Am Morgen
war er zu einer Veranstaltung
aufgebrochen und hatte sein Gepäck gleich mitgenommen. Sein
Flieger nach London ging am frühen Abend.
Eine Viertelstunde später begab LaBréa sich in
seine Wohnung. Er legte Seven Steps to Heaven von Miles
Davis in den CD-Player und machte es sich mit einem Buch auf der
Couch gemütlich. Im Moment las er Drop City von T.C. Boyle, die
skurrile Geschichte einer Hippiekommune in den USA. In den letzten
Wochen hatte ihm sein Beruf wenig Zeit zur Lektüre gelassen. Bis
zum Abend, wenn er im Mordfall Geminard zu einem Gespräch mit der
Concierge in die Rue Barbette aufbrechen musste, blieben ihm ein
paar Stunden Zeit. Und noch ein zweiter Gesprächstermin stand an
diesem Abend an. LaBréa hatte sich erinnert, dass Francine Dalzon,
die Besitzerin der Brülerie, ebenfalls hin und wieder eins dieser
Tanzlokale aufsuchte, genau wie LaBréas Mutter und vielleicht auch
die ermordete Griseldis Geminard. Was lag da näher, als sich bei
Francine einige Informationen über diese Lokale zu holen.
Kurz vor vier kehrte Jenny in Begleitung ihrer
Klassenkameradin Virginie vom Kinobesuch zurück. Virginie war ein
hoch aufgeschossenes, hübsches Mädchen mit dichten, blonden Haaren,
die sie kurz geschnitten trug. Sie entstammte einer alten
Adelsfamilie, die während der Revolution beinahe ausgelöscht worden
war. LaBréa wusste, dass das Mädchen sich von Anfang an bemüht
hatte, Jennys beste Freundin zu werden. Doch seine Tochter hatte
Alissa den Vorzug gegeben, und so war Virginie für Jenny immer nur
zweite Wahl. Deshalb schien das Mädchen heute umso erfreuter, dass
Jenny sie sogar mit nach Hause nahm.
»Papa, spielst du mit uns ’ne Runde Monopoly?«,
fragte Jenny gleich, als die beiden die Wohnung betraten. LaBréa
senkte sein Buch und seufzte.
»Jetzt bin ich gerade beschäftigt, Cherie. Seid
nicht böse, ihr beiden, aber ich will das Buch endlich zu Ende
lesen.«
»Dann eben nicht«, schmollte Jenny. »Komm,
Virginie, wir gehen in mein Zimmer. Ich zeig dir mein neuestes
Videospiel.«
»Habt ihr was gegessen?«, rief LaBréa ihnen
nach.
»Ja, bevor wir ins Kino gegangen sind, Monsieur«,
erwiderte Virginie. Ihre Zahnspange blitzte. »Einen Cheeseburger
bei McDonald’s. Und ’ne Cola dazu.«
LaBréa verdrehte die Augen. Er verabscheute
Fastfood, und auch Jenny machte sich normalerweise nichts daraus.
Wahrscheinlich war es Virginies Idee gewesen, zu McDonald’s zu
gehen.
»Wenn ihr noch irgendwas wollt, meldet euch«,
brummte er, doch Jennys Tür war bereits ins Schloss gefallen. Er
stand auf und legte eine neue CD ein. Eine Aufnahme des letzten
Konzerts von Betty Carter, die er besonders liebte. Obelix, der in
seinem Lieblingssessel
lag und schlief, war kurz wach geworden, als die Mädchen
hereinkamen, hatte ihnen jedoch weiter keine Beachtung
geschenkt.
Um sechs schlug LaBréa das Buch zu und ging in sein
Schlafzimmer. Er vertauschte seine ausgewaschene Jeans und das alte
Flanellhemd mit einer dunkelblauen Cordhose und einem dazu
passenden Pullover. Wenig später klopfte er an Jennys Zimmertür.
Die beiden Mädchen hockten einträchtig nebeneinander und waren in
ihr Spiel vertieft. Es hieß Animal Crossing und führte die
Spieler in die virtuelle Welt eines Dorfs und seiner Tiere. LaBréa
hielt nichts von Videospielen und hatte sich lange dagegen
gesträubt, Jenny eine Spielkonsole zu schenken. Doch letztes
Weihnachten hatte Celine gemeint, dass man sich heutzutage diesen
Dingen nicht mehr verschließen könne, und Jenny bekam ihre erste
Nintendo-Konsole.
»Ich muss nochmal weg«, sagte LaBréa. »Bin aber
gegen acht wahrscheinlich zurück.« Jenny nickte, ohne sich beim
Spiel unterbrechen zu lassen. LaBréa wandte sich an die
Klassenkameradin. »Wissen deine Eltern, dass du bei uns bist,
Virginie?«
»Ja, Monsieur. Meine Mutter holt mich gegen sieben
Uhr hier ab.«
»Gut. Also, Jenny, bis später.«
LaBréa verließ das Haus. In Celines Atelier brannte
Licht, und LaBréa sah, wie sie aufmerksam ihre Bilder betrachtete,
die sie ringsum an den Wänden aufgestellt
hatte. Er klopfte kurz an die Fensterscheibe, winkte ihr lächelnd
zu und machte sich auf den Weg. Immer noch regnete es. LaBréa
spannte seinen Schirm auf.
Bis zur Rue Barbette im 3. Arrondissements brauchte
er zu Fuß weniger als zehn Minuten. Ganz bewusst hatte LaBréa es
vermieden, Madame Chabrier, die Concierge, über seinen Besuch in
Kenntnis zu setzen. Bei jeder Mordermittlung spielte der
Überraschungseffekt eine wichtige Rolle.
Nur wenige Menschen wagten sich bei diesem
ungemütlichen Herbstwetter auf die Straße. Dazu gehörten die
unverwüstlichen Hundebesitzer. Ihnen blieb auch keine andere Wahl.
Eine junge Frau in Gummistiefeln und Regencape führte ihr winziges
Hündchen aus - vermutlich eine sündhaft teure Rasse -, dessen
magerer Leib mit dem spärlichen Fell vor Kälte zitterte. Das Tier
verkroch sich in einem Torbogen, bis sein Frauchen es kurzerhand
schnappte und auf den Arm nahm.
Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei. LaBréa hielt
sich dicht an den Häuserwänden, damit das Wasser, das aus den
Pfützen hochspritzte, seine Kleidung nicht beschmutzte.
Er ging an der tristen Fassade des Nationalarchivs
vorbei und bog in die Rue Vieille du Temple ein. Kurz darauf stand
er vor dem Haus, in dem Griseldis Géminard am Vortag ermordet
worden war.
Die Wohnung der Concierge befand sich im Hinterhof
des Gebäudes. Eloïse Chabrier mochte Anfang fünfzig sein und
entsprach in keiner Weise dem Bild einer Pariser Concierge, wie es
in zahllosen Romanen über viele Jahrzehnte hinweg vermittelt wurde
und oftmals auch heute noch seine Gültigkeit hatte. Sie war eine
moderne Frau in den Fünfzigern, die sich, wie es so schön hieß, gut
gehalten hatte. Ihre engen schwarzen Jeans und der blaue Pullover,
der nicht gerade aussah, als wäre er im Monoprix gekauft worden,
betonten ihre tadellose Figur. Ihr dezentes Make-up war sorgfältig
aufgetragen, der Schnitt ihrer kurzen Haare schien das Werk eines
fähigen Friseurs. Eine leichte Parfümwolke umgab die Frau, die eher
als Directrice in ein Edelkaufhaus zu passen schien als in das
Häuschen einer Concierge.
Sie bat LaBréa einzutreten. Ihre Wohnung war klein
und ziemlich dunkel, was Eloïse Chabrier mit hellen Holzmöbeln zu
kompensieren versuchte. Über den gewaltsamen Tod von Griseldis
Geminard war sie bereits unterrichtet. Als sie vor einer knappen
Stunde nach Hause gekommen war, hatte sie Monsieur Buffon
getroffen, der einen Müllbeutel zu den Tonnen im Hof brachte. Sie
zeigte sich erschüttert.
»Eine fürchterliche Geschichte! Wer bringt eine
alte Frau um? Und vor allem, weswegen?«
LaBréa nahm auf einem der Sessel Platz.
»Ich hoffe, dass Sie mir da weiterhelfen können,
Madame. Wie lange kannten Sie Madame Geminard?«
Die Concierge setzte sich auf die Couch und schlug
die Beine übereinander.
»Ach, seit Ewigkeiten. Schon meine Mutter war
Concierge in diesem Haus. Nach ihrem Tod vor fünfzehn Jahren habe
ich dann ihren Posten übernommen. Die Geminards sind hier Ende der
Sechzigerjahre eingezogen. Später hat Griseldis dann die Wohnung
gekauft.«
»Dann kannten Sie doch sicher auch die Tochter,
Augustine?«
»Natürlich. Wir waren ja in einem Alter. Ich machte
damals, Anfang der Siebzigerjahre, gerade eine Ausbildung zur
Stenokontoristin. Augustine hatte nach dem Abitur angefangen zu
studieren. Ethnologie, daran erinnere ich mich noch genau. Sie
interessierte sich für Indianerstämme und bedrohte Völker. Ein-
oder zweimal sind wir auch zusammen ins Kino gegangen. Aber
Augustine hatte ja ihren Freundeskreis an der Uni, und der Kontakt
schlief allmählich ein.«
»Madame Geminard hatte Ihnen und auch anderen in
der Nachbarschaft erzählt, dass Augustine bei dem Terroranschlag in
New York um Leben gekommen sei.«
»Ja. Ich war damals total schockiert. Man hat ja so
viele Bilder gesehen und konnte sich vorstellen, welch
schrecklichen Tod die Menschen gestorben sein müssen. Und wenn man
jemanden persönlich kennt, dann hat so etwas noch mal eine völlig
andere Dimension.
Griseldis sagte, Augustine habe im Nordturm bei einer großen Bank
gearbeitet. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, wieso sie
in einer Bank tätig war. Sie hatte doch völlig andere Interessen,
als sie nach Amerika ging.«
»Aber Sie haben Madame Geminard diese Geschichte
geglaubt.«
Die Concierge blickte ihn erstaunt an.
»Ja, natürlich, wieso denn nicht?«
»Weil sie nicht stimmt. Madame Geminard hat sie
erfunden. Ihre Tochter ist nicht bei dem Anschlag ums Leben
gekommen.«
Eloïse Chabrier schüttelte irritiert den
Kopf.
»Wieso erzählt sie dann so etwas? Eine Mutter
erfindet doch nicht einfach den Tod ihrer Tochter?!«
»Wann haben Sie Augustine denn zum letzten Mal
gesehen?«
Die Concierge überlegte einen Augenblick.
»Das muss... warten Sie, das war Mitte der
Siebzigerjahre. Augustine wollte nach Amerika gehen und dort
weiterstudieren. Sie gab hier unten im Hof ein Abschiedsfest für
ihre Freunde und die Hausbewohner. Einige Tage später flog sie dann
los.«
LaBréa nickte. Augustine Geminard verschwand vor
beinahe dreißig Jahren und schrieb ihrer Mutter aus New York
regelmäßig Briefe, in denen sie belanglose Dinge mitteilte. Über
ihr Privatleben oder was sie beruflich machte, erfuhr man nichts.
Als ehemalige
Ethnologiestudentin arbeitete sie laut Aussage ihrer Mutter bei
einer Investmentbank, was schon recht seltsam war. Im April 2001
kam ihr letztes Schreiben, und nach dem 11. September verbreitete
Griseldis Géminard die Nachricht, ihre Tochter sei bei dem Anschlag
ums Leben gekommen. Warum? Was war tatsächlich mit Augustine
Geminard geschehen? Und hatte das irgendetwas mit dem Mord an ihrer
Mutter zu tun? LaBréa mochte es nicht ausschließen, wenngleich er
sich nicht vorstellen konnte, in welcher Weise es relevant sein
sollte.
»Ist Augustine Geminard denn irgendwann einmal
wieder nach Paris gekommen, um ihre Mutter zu besuchen?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
»War sie in den USA verheiratet?«
»Nein. Jedenfalls hat Griseldis das nie
erwähnt.«
»Was war Augustine für ein Mensch?«
Eloïse Chabrier dachte einen Moment nach und suchte
nach den richtigen Worten.
»Wie soll ich sagen? Man hätte nie gedacht, dass
sie aus einer solchen Familie kommt. Sie war damals in den
Siebzigern ziemlich flippig. Bunte Kleidung, Jesuslatschen, Henna
im Haar, Janis Joplin und diese ganzen Sprüche der Hippie-Bewegung.
Außerdem war sie politisch engagiert. In der Studentenbewegung’68
hier in Paris hat sie aktiv mitgemacht, obwohl sie damals noch zur
Schule ging. Bei der Party hier im Hof
haben einige Marihuana geraucht, Augustine auch. Eigentlich wollte
sie nach San Francisco. Aber da blieb sie wohl nur kurz und ging
dann nach New York. Ich habe sie aus den Augen verloren, und
Griseldis war keine Frau, die viel erzählt hat.«
»Verstehe. Haben Sie eine Idee, wer Madame Géminard
umgebracht haben könnte?«
»Nein. Sie hatte ja kaum Kontakte und hat nie einer
Seele etwas zuleide getan. An den Samstagen ging sie meistens zum
Tanzen, ins Paradis in der Rue de Lappe.«
LaBréa horchte auf.
»Ins Paradis? Sind Sie da ganz
sicher?«
»Ja.«
»Ging sie auch in andere Tanzlokale?«
»Das glaube ich nicht. Ich weiß, dass sie im
Paradis Stammgast war.«
»Monsieur Buffon sagte mir, er habe sie mit einer
Freundin weggehen sehen.«
»Ja, mit Madame Baker. Eine Engländerin, die seit
fast vierzig Jahren in Paris lebte.«
»Lebte? Heißt das, sie ist verstorben?«
»Vor eineinhalb Jahren. Bei einem Verkehrsunfall.
Sie war sehr nett, immer fröhlich und gut aufgelegt.«
»Wissen Sie, ob Madame Geminard im Paradis
irgendwelche Kontakte geknüpft hat?«
Die Concierge schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung.«
»Bekam sie Männerbesuch?«
»Nicht, dass ich wüsste. Warum fragen Sie das,
Commissaire? Denken Sie, sie hat den Kerl, der sie umgebracht hat,
gekannt?«
»Wir wissen nicht, ob der Mörder ein Mann war,
Madame Chabrier. Alles ist möglich. Nur der Ordnung halber: Wann
sind Sie in Ihr Wochenende gefahren?«
Die Concierge sah ihn empört an.
»Freitagabend. Glauben Sie etwa, ich hätte
Griseldis...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende und lachte ein
wenig gekünstelt.
»Das sind reine Routinefragen. Haben Sie jemanden
besucht?«
»Meinen Freund. Ich fahre jedes Wochenende zu ihm.
Er wohnt im Grünen, hinter der Porte des Lilas.«
»Wann haben Sie Madame Geminard zum letzten Mal
gesehen?«
»Das war am Freitagnachmittag. Ich habe den
Hausflur geputzt, da kam sie nach Hause.«
Bei der Vorstellung, dass diese gepflegt wirkende
Frau sich mit Scheuereimer und Schrubber im Hausflur zu schaffen
machte, musste LaBréa schmunzeln. Doch warum eigentlich nicht? Wenn
sie ihren Pflichten als Concierge nachkam, trug sie ja vielleicht
eine Kittelschürze und Gummihandschuhe.
»Sie war auf der Bank gewesen«, fuhr Madame
Chabrier fort.
»Sagte sie, dass sie am Abend oder am nächsten Tag
jemanden erwartete? Dass sie sich am Sonnabend mit jemandem treffen
wollte?«
»Nein. Ich erwähnte ja bereits, dass Griseldis nie
viel von sich erzählt hat. Sie lebte ihr eigenes Leben und ließ
andere nicht daran teilhaben.«
»Was können Sie sonst noch über sie sagen?«
Die Concierge überlegte nicht lange.
»Geizig war sie, richtig knickrig. Mit Trinkgeldern
war sie mehr als sparsam.«
LaBréa wurde hellhörig.
»Ihnen gegenüber?«
Die Concierge machte eine wegwerfende
Handbewegung.
»Um mich geht es gar nicht. Obwohl es in meinem Job
üblich ist, dass die Wohnungseigentümer sich zum Beispiel zu
Weihnachten oder Neujahr großzügig zeigen. Griseldis war es nicht.
Dabei dürfte sie wahrlich nicht arm gewesen sein, bei der guten
Pension ihres Mannes.« Sie verzog ihren Mund zu einem etwas
verkniffenen Lächeln. »Zum Glück bin ich nicht auf Trinkgelder
angewiesen. Aber eins muss ich doch sagen: Da ist Monsieur Buffon
schon ein anderes Kaliber! Nobel und vom alten Schlag.«
Wie von Zauberhand verblasste der Eindruck, den
LaBréa zunächst von Eloïse Chabrier gehabt hatte. Hinter der
Fassade einer gepflegten und charmanten Frau, die nicht dem Bild
einer Concierge entsprach und von
Griseldis Geminards gewaltsamem Tod ehrlich betroffen schien,
entdeckte LaBrïa einen Anflug von Neid und Missgunst. Hatte Eloïse
Chabrier gewusst, dass die alte Dame am Freitag 25 000 Euro von
ihrem Konto abheben wollte? Eine solche Summe konnte jemanden
leicht in Versuchung führen... LaBréa wechselte das Thema.
»Wie war Madame Geminards Verhältnis zu den anderen
Hausbewohnern?«
»Distanziert«, erwiderte die Concierge.
»Und zu ihrem direkten Nachbarn, Monsieur
Buffon?«
Eloïse Chabrier zögerte einen Moment, bevor sie
antwortete.
»Ich glaube, Griseldis fand ihn sehr nett und
irgendwie auch attraktiv.«
»Tatsächlich? Hat sie das Ihnen gegenüber einmal
erwähnt?«
»Nein, sie nicht. Aber Monsieur Buffon machte mal
so eine Andeutung, dass Griseldis wohl gern näheren Kontakt zu ihm
gehabt hätte. Aber umgekehrt war es nicht so.«
Wenig später verabschiedete sich LaBréa von ihr
und ließ seine Karte da, für den Fall, dass der Concierge noch
etwas Wichtiges einfiel. Namen und Adresse ihres Freundes hatte er
sich notiert, damit ihr Alibi überprüft werden konnte.
»Was ist mit der Beerdigung?«, fragte Madame
Chabrier, als sie LaBréa zur Tür brachte. »Wer entscheidet denn
darüber? Abgesehen von Augustine hatte Griseldis ja keine
Angehörigen mehr.«
»Ich weiß. Wir versuchen herauszufinden, ob die
Tochter noch lebt. Wenn das bis Ende der Woche nicht gelingt, wird
die Mairie des Arrondissements über das Begräbnis
entscheiden.«
Madame Chabrier nickte und blickte ihn aus ihren
braunen Augen an, die im Halbdunkel des Eingangsbereichs
ausdruckslos wirkten.
»Wiedersehen, Madame«, sagte LaBréa. »Und vielen
Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
»Das ist doch selbstverständlich, Commissaire. Auf
Wiedersehen!«
Die Tür fiel ins Schloss.
Eine Frau, die als geizig galt, hob auf einen
Schlag 25 000 Euro ab, dachte LaBréa, als er das Haus verließ.
Wofür?