16. KAPITEL
Hinter der grauen, mit Graffiti und Plakatresten verunzierten Fassade des Hauses Rue Parron Nummer 5 verbarg sich eine schäbige, versiffte Bar. Die Jahrzehnte hatten ihre Spuren an den Wänden hinterlassen, die fleckig und nikotingelb einen länglichen Raum einfassten. Teilweise war der Putz abgeblättert. Verblasste Plakate mit Motiven von Toulouse-Lautrec sollten wohl so etwas wie Atmosphäre schaffen. Seitlich befand sich ein langer Tresen aus den Siebzigerjahren. Einige Tische mit Veloursesseln in Dunkelrot standen in der Mitte des Raums. Nach hinten gab es einen Durchgang zu einem kleinen Treppenaufgang, der in den ersten Stock führte. LaBréa vermutete, dass in den Zimmern dort der eigentliche Bordellbetrieb stattfand.
An einem der Tische saß der Betreiber des Etablissements, ein etwa sechzigjähriger Mann mit Halbglatze und tiefer Narbe quer über der rechten Wange. Durch diese alte Verletzung wirkte sein Mund ein wenig schief. Er sah aus wie ein Kobold.
Neben ihm hatte Franck Platz genommen sowie Cédric Dupont, der Kollege von der Sitte. Dupont war ein vierschrötiger Endzwanziger, der den Eindruck vermittelte, als sei mit ihm nicht gut Kirschen essen. LaBrea kannte ihn nur flüchtig, wusste aber um den Ruf, der Dupont vorauseilte. Er galt als scharfer Hund und unerbittlicher Ermittler in Sachen illegale Prostitution und Straßenstrich.
Franck deutete auf den Betreiber des Lokals.
»Das ist Monsieur Marcel Villiers, Chef. Er sagt, Mitte der Neunzigerjahre habe hier ab und zu eine junge Frau verkehrt, die ein Kind hatte. An den Namen der Frau kann er sich aber leider nicht erinnern.«
»Was heißt das: ›Sie habe hier verkehrt‹?«, wollte LaBréa wissen. »Hat sie bei Ihnen gearbeitet, Monsieur?«
Marcel Villiers schüttelte den Kopf.
»Gearbeitet hat sie hier nicht. Bei mir waren vier Mädchen, alle angemeldet, alles tipptopp. Was Illegales lief nicht. Stimmt’s?« Er blickte Dupont an und erwartete eine Bestätigung.
»Das hat auch niemand behauptet«, knurrte Dupont und streckte seine Beine aus.
»Sie kam ein paarmal in dem Winter, als eine Menge Schnee lag. Sechsundneunzig muss das gewesen sein. Und sie hatte einen Jungen dabei. Der war damals neun oder zehn Jahre alt.« Der Mann räusperte sich. »War natürlich etwas ungewöhnlich, denn sie kam meistens nach zehn Uhr abends. Und da sollte so ein Junge doch eigentlich im Bett liegen.«
»Kam sie ohne weitere Begleitung?«
»Zuerst, ja. Aber, wie gesagt, mit dem Jungen. Ich hab ihr gleich zu verstehen gegeben, dass das nicht ginge. Bei mir war Publikumsverkehr, Stammkunden und so, Sie verstehen. Das ist nicht gerade was für Kinder. Aber sie meinte, sie hätten im Moment keine Wohnung und wollten sich nur ein bisschen aufwärmen.«
»Wie oft war sie da?«
»Fünf-, sechsmal vielleicht. Aber die letzten Male nicht allein. Sondern mit jemandem, den ich kannte.«
»Und zwar Patrice Montana«, fügte Franck rasch hinzu.
»Genau.« Villiers nickte. »Den kannte ich noch, als er als junger Spund nebenan in der Fischhalle gearbeitet hat. Die gibt es jetzt nicht mehr.«
»War er der Freund der Frau? Vielleicht der Vater des Jungen?«
»Nein. Das hab ich ihn nämlich mal gefragt. Er sagte, er wär’s nicht. Doch mit dem Jungen schien er sich gut zu verstehen.«
»Und Sie wissen wirklich nicht den Namen der Frau? Woher sie kam, was sie machte?«
»Was sie machte, war ziemlich klar. Straßenstrich. Schnelle Nummern im Auto. Patrice fand das wohl nicht so toll, denn er fragte mich mal, ob sie nicht bei mir in der Küche arbeiten könnte oder als Putzfrau. Aber ich brauchte niemanden, denn damals lebte meine Frau noch.« Er überlegte einen Moment. »Und woher sie kam? Keine Ahnung. Irgendwo aus der Banlieue, vermute ich. Genau wie Patrice. Aber sicher bin ich da nicht.«
»Wissen Sie denn noch, wie der Junge hieß?«
»Nein. Aber es war eindeutig ihr Sohn. Er hat sie Maman genannt. Pausenlos starrte er meine Mädchen an. Er hat natürlich mitbekommen, dass die ab und zu mit einem Freier nach oben verschwunden sind. So ein Kind macht sich da schon seine Gedanken.«
»Und Patrice Montana? War der auch ein Freier?«
»Ja, aber wenn er mit der Frau und dem Jungen kam, lief da nichts. Er hat der Frau ein paar Drinks spendiert und dem Jungen ’ne Cola. Dann gingen sie zusammen weg.«
»Eigenartig, dass er mit den beiden hierher zu Ihnen kam.« LaBréa fasste den Mann scharf ins Auge. »Warum wohl? Hatte er keine Wohnung, wo er sie unterbringen konnte?«
Villiers zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ich hab nicht gefragt. Patrice war ein guter Kunde, und da hab ich ihm eben den Gefallen getan. Ging ja auch nicht lange. Nur ein paarmal, weil es draußen so kalt war.«
»Die Frau hat vermutlich vor einigen Jahren in einem alten Stellwerk auf dem Gelände der Gare de Lyon gewohnt. Wussten Sie das?«
Der Bordellbesitzer sah LaBréa erstaunt an.
»In einem alten Stellwerk? Nein, das hat sie nicht erwähnt. Patrice auch nicht. Wie kam sie denn da hin?«
LaBréa überhörte die Frage und sagte: »Ist Patrice Montana in den darauffolgenden Jahren noch mal hier bei Ihnen aufgetaucht?«
»Einige Male, dann nicht mehr. Ich hab ihn später mal am Boulevard Diderot getroffen, in einem Spielclub. Das ist aber schon länger her. Fünf, sechs Jahre bestimmt. Da sagte er mir, er hätte eine feste Freundin und sei jetzt Geschäftsführer in so einem Musettewalzerschuppen an der Bastille.« Marcel Villiers verzog abschätzig den Mund. »Nostalgischer Schwoof mit alten Leuten. Da hab ich mich sowieso gewundert.«
»Wieso?«
»Na ja, weil er eigentlich ganz andere Pläne hatte.«
»Welche denn?«
»Er wollte ins Ausland gehen. Irgendwo einen Club in einer Ferienanlage aufmachen, wo man richtig abkassieren konnte. Betuchte Kunden, Promiangebote. Das ganze Jahr Sonne und so weiter. Hat aber anscheinend nicht geklappt.«
Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich umständlich die Nase.
»Hat Patrice Montana den Jungen und seine Mutter später nochmal erwähnt?«
»Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Haben Sie ihn nicht nach den beiden gefragt? Immerhin hatten Sie sich doch gewundert, dass sie mit dem Kind hier aufgekreuzt ist.«
»Das stimmt, aber ich hab trotzdem nicht gefragt. Weil es mich einfach nicht interessiert hat.«
»Ach so.« LaBréa blickte dem Mann in die Augen, deren Farbe im schummrigen Licht des Lokals verschwamm. Doch er konnte nichts darin erkennen, was Anlass geben würde, misstrauisch zu sein.
»Sagen Sie, Monsieur Villiers, fällt Ihnen noch irgendwas ein, was diese Mutter und ihren Sohn angeht? Etwas, was vielleicht ungewöhnlich war?«
Der Bordellbesitzer überlegte einen Moment und kratzte sich am Kinn.
»Nein, da fällt mir nichts ein, Commissaire. Tut mir leid.«
LaBréa erhob sich.
»Danke, Monsieur Villiers. Sie haben uns sehr geholfen.«
Marcel Villiers neigte neugierig seinen Kopf.
»Um was geht es hier eigentlich, Commissaire?«
»Es geht um Mord, Monsieur. Aber die Sache ist zu kompliziert, als dass ich sie Ihnen auf die Schnelle erklären könnte. Wir müssen weiter.« Er gab Franck und Dupont einen Wink. Die drei verließen das Lokal.
LaBréa und Franck verabschiedeten sich vom Kollegen der Sitte, dessen Dienste nicht länger gebraucht wurden. Sie gingen zu Francks Wagen, der in einer Seitenstraße geparkt war. Franck setzte das Blaulicht aufs Dach, und in rasendem Tempo fuhren sie Richtung Place de la Bastille.
Die kleine Straße lag verschlafen im Licht des frühen Nachmittags. Franck parkte den Wagen direkt vor dem Paradis. Am Morgen, als LaBréa und Jean-Marc hier gewesen waren, hatte die Haustür neben dem vergitterten Lokaleingang offen gestanden. Jetzt war sie verschlossen. Ohne den Türcode zu kennen, kam man nicht ins Haus.
Während LaBréa noch überlegte, was zu machen war, sah er Patrice Montanas Verlobte kommen. Sie war offenbar einkaufen gewesen, denn sie trug einen Korb mit Gemüse und mehrere Plastiktüten. Beim Anblick der Polizisten vor der Tür reagierte sie unwillig.
»Sie schon wieder.« Sie bedachte LaBréa und Franck mit einem feindseligen Blick.
»Es trifft sich gut, Mademoiselle, dass Sie gerade nach Hause kommen. Wir müssten nochmal mit Monsieur Montana sprechen. Ist er da?«
»Weiß ich nicht.« Die Stimme der jungen Frau klang schroff. Sie tippte vier Ziffern ein, und das Schloss sprang auf.
»Wir folgen Ihnen einfach«, meinte Franck entspannt. »Dann werden wir ja sehen, ob er zu Hause ist.« LaBrea entging nicht, dass Franck mit Kennerblick die Beine der jungen Frau taxierte. Sie trug Leggins und halb hohe Stiefel. Ein Cape-artiger, grün-braun karierter Mantel umschmeichelte ihre Figur. Franck grinste anerkennend, als sie vor ihnen die Treppe hinaufging. Sie schloss die Wohnungstür im ersten Stock auf und rief: »Patrice? Hier sind nochmal die Bullen. Keine Ahnung, was die schon wieder wollen!« Sie ging den Korridor entlang und öffnete eine Tür, die vermutlich in die Küche führte, stellte den Korb und die Tüten dort ab, kam wieder in den Flur und rief erneut: »Patrice? Wo bist du denn?«
LaBréa und Franck waren an der Eingangstür stehen geblieben, die Franck hinter sich verschlossen hatte.
Mit raschen Schritten ging die junge Frau durch die Wohnung zu der Tür, hinter der sich das Arbeitszimmer ihres Verlobten befand. Sie öffnete die Tür, blieb wie angewurzelt stehen und stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus. Dann taumelte sie zurück und starrte die beiden Polizisten mit weit aufgerissenen Augen an.
LaBréa und Franck stürzten ins Büro des Geschäftsführers des Paradis. Patrice Montana lag bäuchlings auf dem Steinfußboden vor dem Kamin, den Kopf zur Seite gedreht. Aus einer Schusswunde am Hinterkopf war Blut geflossen, das den gegelten Haaren einen zusätzlichen, eigenartigen Glanz verlieh. Während Franck die Verlobte des Mannes rasch in die Küche führte, kniete LaBréa neben dem leblosen Körper nieder und legte vorsichtig zwei Finger an die Halsschlagader.
Patrice Montana war tot. Daran gab es keinen Zweifel.

20. Dezember 2001

Der Tag hatte begonnen wie so viele andere in seinem Leben. Mit dem bitteren Geschmack des Scheiterns, der düsteren Ahnung von der Zukunft, die eine Nummer zu groß für ihn schien. Die Geschäfte mit Mahmoud hatten ein jähes Ende gefunden. Zwei Tage zuvor war Mahmoud von der Polizei geschnappt worden, als er in der Allee Vivaldi ein Auto knacken wollte. Es hatte ein belgisches Nummernschild, und auf dem Rücksitz lag eine Fotoausrüstung. Er und Mahmoud hatten den Wagen beobachtet, als er in die Straße einbog und parkte. Ein dicker Mann und seine ebenso dicke Frau waren ausgestiegen und fünfzig Meter weiter in einem Schnellrestaurant verschwunden. Während er sich in der Nähe des Restaurants postierte, um die Besitzer des Wagens im Auge zu behalten, wollte Mahmoud die Seitenscheibe einschlagen und die Fotoausrüstung herausholen. Doch plötzlich war, wie aus dem Nichts, eine Bullenkutsche aufgetaucht und hatte mit quietschenden Reifen neben dem Belgierauto gehalten. Zwei Bullen waren herausgesprungen und hatten Mahmoud, der einen großen Schraubenschlüssel in der Hand hielt, über dessen Absichten also kein Zweifel bestehen konnte, überwältigt. Er selbst war sofort losgerannt, in die Rue Henard eingebogen und in der Rue de Reuilly in die Metrostation Montgallet abgetaucht. Nach einem kurzen Streifzug durch die Zone-mehr oder weniger ergebnislos - war er in die Behausung zurückgekehrt. Dolly hatte es nicht geschafft aufzustehen. Am Vorabend war sie sturzbetrunken nach Hause gekommen, einen nach Knoblauch, Schweiß und Schnaps stinkenden Afrikaner im Schlepptau. Der hatte sie wenig zimperlich angefasst, als sie oben auf der Matratze lagen, und später lediglich zwanzig Euro abgedrückt.
Er hatte sich die Ohren zugehalten und sich geschworen, dass das seine letzte Nacht hier sein sollte.
Dolly war also noch nicht wach. Er holte ein angebissenes Pain au chocolat aus einer Tüte, die er in einem Abfalleimer in der Zone gefunden hatte, verdrückte es und trank ein Glas Leitungswasser dazu. Dann legte er sich auf seine Schlafstatt und dachte nach. Mahmoud konnte er vorerst abschreiben, so viel war sicher. Er überschlug sein Erspartes, das im Versteck unter der Bohle lag. Beinahe dreitausend Euro. Die letzten Wochen hatten fette Gewinne gebracht. Einmal hatten Mahmoud und er auf einen Schlag dreihundert Euro erbeutet. Ein alter Mann hatte am Geldautomaten in der Avenue Daumesnil einen Packen Scheine abgehoben. Sie waren dem Mann bis zu seiner Wohnung gefolgt. Im dunklen Treppenhaus hatte Mahmoud ihn gegen die Wand gedrückt und ihm ein Messer an die Kehle gehalten, während er aus der Manteltasche des Alten dessen Portemonnaie fingerte. Anschließend waren sie getürmt.
Draußen, von der Zone her, waberten die immer gleichen, lauten Geräusche herüber. Nach einer Weile hörte er unartikulierte Laute. Dolly war erwacht. Sie schlurfte die Treppe herunter und ging auf die Toilette, aus der gleich darauf entsprechende Geräusche an sein Ohr drangen. Minuten später wusch sie sich am Wasserhahn und rotzte ein paarmal laut ins Becken. Dann endlich bemerkte sie ihn und blickte flüchtig in seine Richtung.
»Was liegst du hier so faul rum?«, fragte sie mit belegter Stimme und rotzte erneut ins Becken. Er antwortete nicht. Dolly murmelte etwas Unverständliches und ging wieder nach oben. Wütend sprang er auf und verließ fluchtartig die Behausung. Er ging zur Straße und beschloss, erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren. Das war in weniger als zwei Stunden. Er streunte ziellos durch die Straßen und wartete, dass die Zeit verstrich, damit das, was geschehen musste, geschehen konnte.
 
Es war etwas nach dreiundzwanzig Uhr. Schwer atmend stand er einige Meter von der Behausung entfernt, die Dolly und ihm Unterschlupf geboten hatte. Er blickte in den klaren Nachthimmel. Hinter der Häuserzeile im Süden ging soeben der volle Mond auf. In wenigen Tagen war Weihnachten. Ein Datum, ein Ereignis, das in seinem Leben nie eine besondere Rolle gespielt hatte. In all den Jahren war Dolly wie gewohnt ihrer Arbeit nachgegangen. Fremde Männer hatten ihre flüchtigen Spuren hinterlassen. Einmal, als er noch klein war, hatte ihm einer eine Tafel Schokolade geschenkt.
Plötzlich hörte er von der Straße her Schritte. Im Licht des Mondes erkannte er seinen Cousin. Auch der bemerkte ihn jetzt.
»Was machst du denn hier draußen, Mick?«, fragte er erstaunt und kam näher. Mick roch den intensiven Duft des Rasierwassers, das sein Cousin benutzte.
»Wo ist Dolly?« Mick hob die Achseln. »Noch unterwegs.« Der Cousin stieß einen ärgerlichen Laut aus. »Ich hab ihr hundertmal gesagt, dass das zu gefährlich ist! Hier in der Gegend gibt es zu viele durchgeknallte Typen. Eines Tages kommt sie gar nicht mehr nach Hause. Weil sie tot in irgendeiner Ecke liegt.« Er zündete sich eine Zigarette an. Ein Schwall Rauch stieg in den hellen Nachthimmel auf. Wenig später machte sich der Cousin auf den Nachhauseweg.
Mick blickte ihm nach. Seine Seele oder das, was er dafür hielt, wurde von einem kalten Windhauch ergriffen. Ohne dass er es wollte, und ohne dass er etwas dagegen tun konnte, begann er leise zu schluchzen. Seine Schultern bebten, und für einen kurzen Augenblick schlug er die Hände vors Gesicht. Im Zeitraffer sah er sein bisheriges Leben an sich vorüberziehen. Ein Leben im Dreck. Doch jetzt war er frei. Und das war das, was zählte.
Mick war endlich frei.