20. KAPITEL
Richard LaBréa hatte alles für das Begräbnis ihrer Mutter in die Wege geleitet. Am Donnerstag erschien eine Todesanzeige im Figaro, und Freitag um elf würde die Beerdigung stattfinden. LaBréa hatte den Direktor von Jennys Schule angerufen, damit seine Tochter für diesen Tag schulfrei bekam. Ein älteres Nachbarsehepaar aus der Rue Daguerre, wo LaBréas Eltern gewohnt hatten, würde der Verstorbenen die letzte Ehre erweisen. Ebenso wie Muriel Weill, die Leiterin des Pflegeheims, sowie eine der Pflegerinnen, die sich in den letzten Jahren besonders liebevoll um die Kranke gekümmert hatte. Es war eine kleine Trauergemeinde, die sich auf dem Friedhof Montparnasse versammeln würde. Im Anschluss daran hatte Richard ein Mittagessen geplant und im Le Breton, dem Lokal in der Rue Daguerre, einen Tisch reservieren lassen.
Das Wetter hatte sich nicht verändert. Es regnete ohne Unterlass.
Richtiges Beerdigungswetter, dachte LaBréa, als er Freitagmorgen aus dem Küchenfenster in den kleinen Garten blickte, wo die Zwergzypresse regennass glänzte.
Kurz vor zehn holten LaBréa und Jenny Celine in ihrer Wohnung ab. Mit deren Wagen fuhren sie durch die verregnete, graue Stadt zum Friedhof. Am Haupteingang am Boulevard Quinet warteten schon Richard und Pater Rene, der Pfarrer der Kirche Notre-Dame des Champs. Richard hatte ihn nach seiner Rückkehr aus der Karibik kontaktiert und gebeten, seine Mutter nach christlichem Ritual zu bestatten. Wenig später trafen die anderen Trauergäste ein, und kurz vor elf fuhren zwei Wagen des Bestattungsunternehmens vor, eine Limousine und ein Kombi. Dem Kombi entstiegen vier Männer in Schwarz und die Geschäftsführerin des Unternehmens. Der Sarg, der mit Kränzen und Blumengestecken geschmückt war, wurde aus der Limousine auf einen bereitgestellten vierrädrigen Wagen umgeladen. Der Trauerzug setzte sich in Bewegung. Céline und LaBréa nahmen Jenny in ihre Mitte. Das Mädchen sah blass und mitgenommen aus. Jeder von ihnen hielt eine rote Rose in der Hand.
Vor beinahe einem Jahr hatte man Jennys Mutter in Marseille zu Grabe getragen.
Zum Glück hörte es jetzt auf zu regnen, doch es blies ein kalter Wind. Der Fußweg dauerte mehr als eine Viertelstunde. Über die Avenue du Nord und die Avenue de l’Est gelangte der Trauerzug zum Abschnitt 26. In der Nähe der Grabstätte des Dichters Guy de Maupassant befand sich das Familiengrab der LaBréas. Der Vater hatte dort seine letzte Ruhestätte gefunden, und seine Frau würde neben ihm bestattet werden.
Pater Rene, ein rundlicher, älterer Herr mit dem Akzent der Provence, hielt eine ebenso schlichte wie bewegende Rede. Als das Schlussgebet gesprochen war, ließen die Männer des Beerdigungsinstituts den Sarg ins Grab hinab. Jetzt war der Moment gekommen, endgültig Abschied zu nehmen. LaBréa trat als Erster zum Grab, streute eine Schaufel Erde auf den Sarg und warf seine Rose obenauf. Er verharrte einen Moment, die Hände verschränkt. Unendliche Traurigkeit erfasste ihn, ein tiefer Schmerz. Als Jenny ans Grab trat, bewahrte sie nur mit Mühe die Fassung. Die Erinnerungen überwältigten sie, und sie begann zu weinen. LaBréa nahm fest ihre Hand und führte sie zur Seite. Nachdem alle Übrigen eine Schaufel Erde auf den Sarg geworfen und LaBréa und seinem Bruder kondoliert hatten, trat plötzlich ein Fremder dazu. LaBréa hatte ihn vorher nicht gesehen, und er fragte sich, woher er auf einmal aufgetaucht war. Der Mann war alt, trug einen dunklen Mantel und einen schwarzen Hut, unter dem seine vollen, weißen Haare hervorlugten. Er kam LaBréa bekannt vor. In der Hand hielt er einen Strauß bunter Rosen. Ohne die anderen zu beachten, nahm er die Schaufel und ließ die Erde langsam auf den Sarg rieseln. Die Blumen warf er in einem Schwung hinterher.
Jetzt beugte sich Céline zu LaBréa und flüsterte ihm zu: »Ich ahne, wer das sein könnte, Maurice.«
LaBréa nickte, denn plötzlich war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen.
»Ja, ich erkenne ihn«, entgegnete er leise. »Obwohl er auf dem Foto natürlich viel jünger war.«
Der Mann legte die Schaufel beiseite und ging rasch weg. LaBréa eilte ihm nach und hatte ihn nach wenigen Metern eingeholt. Er berührte ihn an der Schulter.
»Pardon, Monsieur, aber ich glaube, ich weiß, wer Sie sind.«
Der Fremde drehte sich um, und LaBréa blickte in ein Paar klare, blassblaue Augen. Das gut geschnittene Gesicht des Mannes strahlte Vitalität und Energie aus, obgleich er sicher schon weit über siebzig Jahre zählte.
»Ich war ein guter Freund der Verstorbenen«, sagte er ausweichend und, wie es schien, ein wenig verlegen.
»Ja.« LaBréa lächelte. »Sie müssen Bernard sein.«
Ein kurzes Erstaunen huschte über die Züge des Mannes, dann erwiderte er LaBréas Lächeln.
»Richtig, Monsieur. Bernard Lefevre. Und Sie sind sicher Maurice, Lucias ältester Sohn.«
»Ja. Und ich würde mich freuen, wenn Sie uns zum Mittagessen ins Restaurant begleiteten.«
 
Eine halbe Stunde später betrat die Trauergemeinde das Le Breton. Im Stammlokal von Lucia LaBréa hatte der Wirt einen Tisch im Nebenraum reserviert. Er begrüßte LaBréa und reichte zu dessen Erstaunen auch Bernard Lefevre die Hand.
»Ich erinnere mich zwar nicht an Ihren Namen, Monsieur, aber Sie waren doch einige Male mit Madame LaBréa - Gott hab sie selig - hier bei uns.«
LaBréa tauschte einen schnellen Blick mit seinem Bruder und mit Celine.
Nach dem Essen, bestehend aus einer klaren Consommé, Krebsschwänzen und einer Seezunge, begleitet von einem weißen Bordeaux, verabschiedeten sich die Nachbarn aus der Rue Daguerre und die beiden Frauen aus dem Pflegeheim. Kurz darauf brach Pater Rene auf. Bei den anderen stellte sich ein plötzliches Schweigen ein. Es hatte mit Bernard Lefevre zu tun und der so lange im Verborgenen gebliebenen Geschichte, die ihn mit LaBréas Mutter verband. Während des Leichenschmauses hatte niemand dieses Thema angeschnitten. Jetzt war die Familie unter sich. Damit keine Betretenheit oder Peinlichkeit aufkam, sagte LaBrea rasch: »Woher wussten Sie eigentlich von der Beerdigung, Monsieur?«
»Ich habe die Annonce in der Zeitung gelesen. Und woher wussten Sie von mir?«
Richard erzählte ihm von den Briefen, die sich in Lucias Nachlass befunden hatten.
»Sie hat sie all die Jahre aufbewahrt?« Bernards Stimme klang mit einem Mal leise und brüchig. »Obwohl...« Er beendete den Satz nicht, und LaBréa sah, wie er für einen Moment von seinen Gefühlen überwältigt wurde. Sogleich versuchte Bernard jedoch, sich wieder zu fassen, und fragte: »Woran ist Ihre Mutter gestorben?«
»An Herzstillstand. Sie war seit langem an Alzheimer erkrankt und hat die letzten Jahre in einem Pflegeheim verbracht. Dort ging es ihr den Umständen entsprechend gut. Aber Sie wissen ja, was Alzheimer bedeutet.«
»Ja.« Bernard Lefevre nickte und zeigte sich betroffen von dieser Nachricht. »Ein schreckliches Schicksal. Es tut mir unendlich leid um sie. Die Krankheit hat sie wohl alles vergessen lassen. Auch mich. Wir beide hatten eine sehr glückliche Zeit. Doch sie war nicht von Dauer. Wie nichts auf dieser Welt.« Es klang bitter und melancholisch zugleich. »Damals, nach dem Tod Ihres Vaters, hat sie mit mir Schluss gemacht. Das habe ich nie verstanden, musste es aber gleichwohl hinnehmen.«
»Was haben Sie denn beruflich gemacht?«, wollte Céline wissen, die sich bisher zurückgehalten hatte.
»Ich bin Zahnarzt. Vor zwei Jahren habe ich meine Praxis im 11. Arrondissement aufgegeben. Ihre Mutter habe ich seinerzeit im Paradis kennengelernt. Das ist ein Tanzlokal an der Bastille. Es war Liebe auf den ersten Blick. Und zwar bei uns beiden. Aber wir hatten keine Chance auf eine gemeinsame Zukunft. Lucia war verheiratet und ich ebenfalls. Meine Frau ist einige Monate, nachdem Lucia unsere Affäre beendet hatte, an einer schweren Lungenentzündung gestorben. Wir wären beide frei gewesen, doch das Schicksal hat es anders gewollt.« Bernard schaute verloren, als tauche er tief in seine Erinnerungen ein. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Nach unserer Trennung war ich noch einige Male im Paradis, doch Lucia habe ich dort nie wieder gesehen.«
LaBréa betrachtete den Mann, mit dem seine Mutter den Vater jahrelang betrogen hatte. Er schien intelligent und kultiviert zu sein, sah auch heute immer noch gut aus. Lucia LaBréa hatte sich nicht in irgendjemanden verliebt. Sie musste ihn wirklich geliebt haben, sonst hätte sie nicht so viele Jahre ein Doppelleben führen können, von dem die Familie bis nach ihrem Tod nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Auch er war verheiratet gewesen. Wo hatten sie sich getroffen? Spielte das eine Rolle? Wollte er das wirklich wissen? Niemandem stand es zu, über Lucia und Bernard moralisch zu richten. LaBréas Mutter war nach langer, unheilbarer Krankheit gestorben. Ihre Erinnerungen an die Stationen ihres Lebens hatten sich im Lauf der Jahre verflüchtigt. Auch jegliche Erinnerung an Bernard war vom schwarzen Loch des Vergessens geschluckt worden. Doch Bernard hatte sie nicht vergessen - und ihr am heutigen Tag die letzte Ehre erwiesen.