18. KAPITEL
LaBréa schob sich an die Wand des Parkwärterhäuschens. Doch der Mann, der Franck fast um Haupteslänge überragte und mit ihm über den Hof zu den Autos ging, blickte kein einziges Mal in LaBréas Richtung. Sein ganzes Interesse galt dem feuerroten Ferrari, dessen polierte Karosserie im Licht der Scheinwerfer verführerisch glänzte. Franck redete mit dem Mann, gestikulierte, öffnete dann die Fahrertür. Der Mann steckte seinen Kopf kurz ins Wageninnere und nahm dann auf dem Fahrersitz Platz, wobei er Mühe hatte, seinen langen Körper zusammenzufalten. Franck legte die Hand aufs Wagendach und fuhr in seinen Erklärungen fort. Jetzt sah LaBréa, wie Franck heftig nickte und gleich darauf einen raschen Blick in seine Richtung warf. LaBréa ahnte, dass es jetzt um die Probefahrt ging.
Er drückte Francks Nummer auf seinem Handy. LaBrea sah, wie Franck das Handy aus der Tasche zog.
»Ja?«
»Ich kenne den Mann, Franck«, sagte LaBréa mit leiser, erregter Stimme. »Nehmen Sie ihn sofort fest. Zugriff!«
Im selben Moment stieg der Mann aus dem Ferrari, ging zum Heck des Wagens und beugte sich nach unten, wahrscheinlich um den Auspuff zu begutachten. Franck steckte das Handy ein, zog seine Waffe aus dem Schulterholster unter seiner Lederjacke und trat auf den Mann zu. LaBréa hörte nicht, was Franck sagte, doch er kannte das Prozedere. Der Mann wurde aufgefordert, sich mit erhobenen Händen gegen das Auto zu lehnen.
Jean-Marc, der das Geschehen von der Werkstatt aus beobachtet hatte, kam auf den Hof gerannt. Auch er hielt seine Pistole im Anschlag.
Der Mann reagierte sofort, hechtete zur Seite und suchte hinter dem nächsten Wagen Schutz. Es war der viertürige Maserati. LaBréa sah eine Waffe aufblitzen. Im selben Moment fiel ein Schuss. Er durchschlug die Fahrertür eines weißen Lamborghini. Franck ging hinter dem roten Ferrari in Deckung, Jean-Marc, der noch einige Meter von den Autos entfernt war, ließ sich zu Boden fallen. Hatte der Mann ihn entdeckt? Das war anzunehmen. LaBréa wusste, dass der Paradiesvogel in höchster Gefahr schwebte. Jetzt robbte er rasch an die Wagen heran. Ein weiterer Schuss fiel, doch er verfehlte Jean-Marc, der gerade den dunkelblauen Ferrari ganz außen links erreicht hatte.
LaBréa zog seine Beretta Neun-Millimeter-Parabellum und verließ das Parkwärterhäuschen. Dieser Teil von Hof und Parkplatz war unbeleuchtet, und es bestand die Chance, sich unbemerkt nähern zu können. Er würde versuchen, von hinten an das Nebengebäude heranzukommen, an dessen Vorderseite die Autos standen. Weitere Schüsse fielen. LaBréa hörte, wie Franck rief: »Lassen Sie die Waffe fallen!« Die Antwort war ein weiterer Schuss, der die Heckscheibe des roten Ferrari durchschlug.
LaBréa war am Nebengebäude angelangt und spähte vorsichtig um die Ecke. Er sah den Mann, der bewegungslos mit der Waffe im Anschlag hinter dem Maserati hockte. Mit einem Sprung war LaBréa neben ihm.
»Waffe fallen lassen! Hände hoch!«, brüllte er und hielt seine Beretta auf den Mann gerichtet. Blitzschnell drehte der sich zu ihm um und legte auf ihn an. In diesem Moment ertönte ein Schuss. Mit einem Aufschrei ließ der Mann seine Waffe fallen und griff sich an die Schulter. LaBréa und Franck, der den Schuß abgefeuert hatte und jetzt angerannt kam, drehten ihn auf den Bauch. Franck legte dem stöhnenden Mann Handschellen an. Jean-Marc, ebenfalls hinzugekommen, rief einen Krankenwagen.
Franck durchsuchte die Taschen der Cordjacke, die der Mann trug, und zog Brieftasche und Portemonnaie heraus. Im Portemonnaie steckten vier Zwanzigeuroscheine. Aus der Brieftasche nahm Franck den Ausweis des Mannes.
»Michel Catteau«, las er laut. »Wohnhaft Rue Lafayette 27 im 10. Arrondissement.«
»Rufen Sie Claudine an, sie soll den Namen ins Zentralregister eingeben«, sagte LaBréa. »Jean-Marc und ich nehmen uns seine Wohnung vor.«
Er beugte sich zu Michel Catteau, der am Boden lag und stöhnte. Aus einer Schulterwunde sickerte Blut.
»Wir beide sind uns schon mal begegnet, erinnern Sie sich?«, fragte LaBréa leise. Der Mann schloss die Augen und drehte seinen Kopf weg. Das Bärtchen, das die Narbe an der Oberlippe kaschieren sollte, zitterte leicht.
LaBréa erhob sich und nahm seine beiden Mitarbeiter beiseite. In wenigen Worten berichtete er ihnen, wo er Michel Catteau schon einmal gesehen hatte.
»Da schließt sich dann ja wohl der Kreis«, meinte Jean-Marc mit einer gewissen Genugtuung.
»Ja. Er war unvorsichtig genug, weiterhin im Paradis zu verkehren.« LaBrea wandte sich an Franck.
»Übrigens - danke, Franck. Das war keine Sekunde zu früh. Der Kerl hätte abgedrückt.«
Franck grinste verlegen.
»Stimmt. Aber Sie hätten das Gleiche auch für mich getan.«
Von fern ertönte die Sirene des Krankenwagens. Michel Catteau würde im Krankenhaus St. Lazare behandelt werden. Sobald es sein Gesundheitszustand erlaubte, wollte LaBréa ihn verhören. Er hoffte, dass das bereits morgen der Fall war. Noch einmal wandte er sich an Franck.
»Nehmen Sie von ihm im Krankenhaus als Erstes eine Speichelprobe, damit wir möglichst bald seine DNA haben. Übrigens, es wird sicher eine Untersuchung geben, weil Sie auf Catteau geschossen haben.«
»Ich weiß, Chef, das ist Vorschrift.«
»Es war Notwehr.« Nachdenklich sah LaBréa seinen Mitarbeiter an. »Aber seit dem Selbstmord von Dr. Clement haben sie ein Auge auf uns. Thibon hat seinerzeit ein gewaltiges Spektakel veranstaltet, das wissen Sie ja.«
Franck nickte. Vor einigen Monaten hatte Claudine versäumt, bei Dr. Clement vor der Vernehmung eine Leibesvisitation durchzuführen. In der Folge hatte die Gefängnisärztin der Sante, eine zweifache Mörderin, sich durch Selbstmord dem Verfahren und einer sicheren Verurteilung entziehen können. Die Innenrevision hatte Claudine und auch LaBréa als ihren Vorgesetzten tagelang in die Mangel genommen, und Direktor Thibon hatte noch Öl ins Feuer gegossen. Am Ende war Claudine mit einem Verweis und einem Vermerk in ihrer Personalakte davongekommen. Doch LaBréa wusste, dass jeder neue Vorfall, bei dem er oder seine Mitarbeiter von der Waffe Gebrauch machten, akribisch untersucht werden würde.
 
Inzwischen war es nach neunzehn Uhr. Durch die hell erleuchtete Stadt lenkte Jean-Marc den Dienstwagen in scharfem Tempo ins 10. Arrondissement. Der Feierabendverkehr hatte nachgelassen, und sie kamen zügig voran.
Michel Catteaus Adresse in der Rue Lafayette Nummer 27 entpuppte sich als gutbürgerliches Wohnhaus, das offenbar erst vor kurzem renoviert worden war. Die sandgestrahlte Fassade glänzte matt, die Balkongitter und eisernen Fensterläden waren dunkelgrün gestrichen, ebenso wie die massive hölzerne Eingangstür, die verschlossen war. Jean-Marc hatte in den Taschen von Catteau auch dessen Haus- und Wohnungsschlüssel gefunden. So war es für die Beamten kein Problem, die schwere Tür zu öffnen.
Ein Durchgang führte zu einem hübschen Innenhof mit Gartenhaus. Alles wirkte gepflegt. An einer Tür mit dem Schild »Concierge« klopften sie an. Ein älterer Mann öffnete und fragte, was die Besucher wollten. LaBréa zückte seinen Polizeiausweis und stellte sich vor.
»Wo wohnt Monsieur Catteau?«
Der Concierge, dessen volles, graues Haare akkurat gescheitelt war, wie bei einem Schüler aus früheren Zeiten, konnte nur mühsam seine Neugier bezähmen. Er erinnerte LaBréa an Monsieur Hugo, seinen Concierge in der Rue des Blancs Manteaux. Aber sahen die Concierges in Paris nicht sowieso alle ähnlich aus?
Nicht immer, dachte LaBréa, und rief sich die geradezu elegante Erscheinung der Concierge im Haus der ermordeten Griseldis Geminard ins Gedächtnis.
»Im fünften Stock.« Der alte Mann deutete aufs Treppenhaus. »Dachgeschoss. Leider ohne Fahrstuhl, Commissaire.« Er lächelte mit nikotingelben Zähnen.
»Wie gut kennen Sie Monsieur Catteau?«, erkundigte sich Jean-Marc.
»Na ja, wie man jemanden so kennt, der noch nicht lange hier wohnt und eigentlich kaum zu Hause ist.«
Jean-Marc holte Stift und Notizbuch aus der Tasche, während LaBréa die Befragung fortsetzte.
»Wann ist er denn hierhergezogen?«
»Mitte September, glaube ich.«
»Wissen Sie, wo er vorher gewohnt hat?«
»Keine Ahnung. Monsieur Catteau lebt sehr zurückgezogen. Ich sehe ihn kaum, und ins Gespräch kommt man mit ihm nicht.« Er beugte sich ein wenig vor und flüsterte vertraulich: »Hat er was ausgefressen, Commissaire?« LaBréa überhörte die Frage.
»Wissen Sie, welchen Beruf er ausübt?«
»Nein.«
»Bekommt er denn mal Besuch? Freunde, Verwandte?«
»Das würde mich wundern. Ich sehe ihn immer nur allein, wenn überhaupt.«
»Hat er eine Freundin?«
Der Concierge zuckte mit den Achseln.
»Kann sein, kann auch nicht sein. Ich weiß es nicht.«
»Danke, Monsieur.« LaBréa bedeutete Jean-Marc, ihm die Treppen nach oben zu folgen.
»Wollen Sie in seine Wohnung?«, rief der Concierge ihnen nach. »Dürfen Sie das denn einfach so? Ich meine, soll ich nicht lieber mitkommen?«
»Das geht schon in Ordnung, Monsieur«, erwiderte LaBréa. »Und in die Wohnung gehen wir lieber allein.«
 
Bis zur vierten Etage führte eine bequeme Steintreppe. Danach verjüngte sich das Treppenhaus, und ins Dachgeschoss gelangte man nur noch über eine steile Holzstiege. Dort gab es nur eine Wohnung, die von Michel Catteau. Kein Namensschild wies darauf hin, wer hier lebte. Auf dem Boden lag eine Fußmatte mit dem Aufdruck »Welcome«. Mit Catteaus Schlüsseln öffnete Jean-Marc die Tür, die zusätzlich mit einem robusten Sicherheitsschloss versehen war.
Die Wohnung bestand aus einem winzigen Eingangsbereich, einem innen liegenden Bad und einem großen Wohn-/Schlafzimmer mit Küchenzeile. Die schrägen Wände schufen eine freundliche Atmosphäre, die durch die Einrichtung noch unterstrichen wurde. Der große Raum, in dessen Mitte ein Bett stand, war sparsam mit hellen Möbeln ausgestattet. An einer Schmalseite stand ein kleiner Kleiderschrank. Ein roter Sessel und ein runder Rattantisch erweckten den Eindruck, als würden sie nie benutzt. Alles wirkte aufgeräumt und sauber. Durch die beiden Fenster, die nach Süden hinausgingen, hatte man einen weiten Blick über die Dächer. Deren Zinnen und Fernsehantennen hoben sich scharf vom nächtlichen Himmel ab.
»Keine schlechte Bleibe«, meinte Jean-Marc und begann mit der Durchsuchung des Zimmers.
»Fragt sich nur, woher der Mann das Geld für die Miete hat«, rief LaBréa, der in die Küche gegangen war. »Die dürfte nicht unter zweieinhalbtausend Euro liegen. Mit dem Ausblick! Kein Vis-à-vis, Zentralheizung, restaurierte Hausfassade...«
Auf dem Küchentisch lagen die Hochglanzprospekte, die LaBréa in Patrice Montanas Wohnung gesehen hatte. Daneben ein zwanzig Zentimeter langes rundes Eisenstück von etwa einem Zentimeter Durchmesser.
»Na bitte!« LaBréa nickte zufrieden und rief Jean-Marc zu: »Hier liegt der Schalldämpfer. Ein besseres Indiz gibt’s wohl nicht!«
Er öffnete sämtliche Fächer und Schubladen des Küchenschranks. Nur wenig Geschirr und Besteck befand sich darin. Das Notwendigste für einen Single: zwei Tassen, ein großer und ein kleiner Teller, Messer, Gabel, zwei Löffel. Hier wohnte niemand, der gern kochte oder Besuch empfing. LaBréa fand nichts mehr, was ihm von Bedeutung erschien, und ging zurück ins Wohnzimmer. Jean-Marc machte sich gerade am Kleiderschrank zu schaffen. In einem der unteren Fächer entdeckte er einen Schuhkarton. Als er ihn öffnete und den Inhalt inspizierte, stieß er einen erstaunten Laut aus.
»Hier, Chef, sehen Sie mal!« LaBréa war mit wenigen Schritten bei ihm. Jean-Marc hielt ihm einen dicken, unverschlossenen Umschlag entgegen. Darin lag ein Packen Geldscheine. LaBréa blätterte sie durch; es waren in der Hauptsache Fünfhunderter- und Zweihunderterscheine. Er schätzte, dass es sich um mindestens dreißigtausend Euro handelte.
LaBréa steckte die Scheine zurück in den Umschlag.
»Ich glaube, wir brauchen uns nicht lange den Kopf zu zerbrechen, woher er das viele Geld hat, Jean-Marc.«
»Denke ich auch. Ob Griseldis Geminard wohl die Einzige war, die auf ihn hereingefallen ist und die er ausgenommen hat?«
»Bestimmt nicht. Sie war ja auch nicht die Einzige, die ermordet wurde. Vergessen Sie Annie Normand nicht, die pensionierte Staatsbeamtin aus dem 13. Arrondissement, die 2003 erdrosselt wurde. Doch noch können wir nicht hundertprozentig sicher sein, dass Catteau wirklich der Täter ist. Wir brauchen seine DNA.«
Im Nachttisch neben dem Bett fand LaBréa einige Papiere, darunter weitere Hochglanzprospekte wie die, die er in Patrice Montanas Wohnung gesehen hatte. Dazwischen lag neben Rechnungsbelegen die Kopie eines Meldescheins. Am 13. September war Michel Catteau von der Avenue de la Republique hierher in die Rue Lafayette gezogen.
»Hm«, murmelte LaBréa, »bisschen wenig Informationen über seine Person.« Er schob die Schublade des Nachttischs zu und blickte sich prüfend um.
Jean-Marc war mit der Durchsuchung des Kleiderschranks fertig.
»Wir haben ja seinen Führerschein und den Personalausweis, Chef. Darüber kommen wir an weitere Daten.«
»Richtig. Vielleicht weiß Claudine ja auch schon mehr. Ich nehme mir unten ein Taxi und fahre ins Büro. Rufen Sie die Spurensicherung an und warten Sie, bis die Kollegen da sind.« LaBréa warf einen Blick auf seine Uhr. »Um halb neun steigt die Talkrunde.«
 
Auf der Straße wählte er als Erstes Francks Nummer. Der hatte inzwischen das Krankenhaus St. Lazare verlassen und befand sich auf dem Weg ins Präsidium. Michel Catteau war in die Notaufnahme gebracht und wenig später an der rechten Schulter operiert worden.
»Und die Speichelprobe, Franck?«
»Ist schon im Labor.«
»Wann können wir ihn vernehmen?«
»Sie wissen doch, wie die Ärzte sind, Chef. Ginge es nach denen, erst in ein paar Tagen. Aber ich habe gesagt, dass wir morgen im Lauf des Vormittags kommen.«
»Sehr gut, Franck. Im Übrigen haben wir in Catteaus Wohnung einen Haufen Geld gefunden. Mehrere Zehntausend Euro.«
»Na, dann haben wir ja unseren Walzer-Mörder!« Franck lachte.
»Wir sehen uns um halb neun zur Talkrunde. Bis dann, Franck.«
LaBréa musste bis zur Metrostation Louis Blanc laufen, bis er ein freies Taxi erwischte. Der Fahrer, ein Inder oder Pakistani, sprach nur gebrochen Französisch und kannte den Weg nicht. LaBréa erklärte ihm, wie er fahren sollte. Von unterwegs rief er Jenny an, die immer noch mit ihrem Klassenkameraden Pierre-Michel über den Matheaufgaben hockte.
»Habt ihr was gegessen?«, fragte LaBréa besorgt.
»Ja. Ich hab Spaghetti gekocht und mir von Celine ein Glas Pesto ausgeliehen. Hat super geschmeckt.«
LaBréa schmunzelte und dachte daran, wie seine Tochter ihn vor Monaten zum ersten Mal mit einem selbst gekochten Abendessen überrascht hatte. Die Nudeln mit Fleischsoße damals waren total versalzen gewesen. Sicher hatte sie inzwischen daraus gelernt.
»Gut, Cherie. Macht aber nicht mehr so lange. Wann geht Pierre-Michel denn nach Hause?«
»Seine Schwester holt ihn nachher ab. Die hat gerade erst den Führerschein gemacht.« Jenny kicherte. »Und Pierre-Michel sagt, sie fährt wie der Henker.«
Nachdem das Gespräch mit Jenny beendet war, wählte LaBréa noch rasch Celines Nummer und sagte ihr, dass es spät werden würde.
»Kannst du gegen zehn einfach mal rüber zu Jenny gehen und nachsehen, ob sie im Bett liegt?«
»Mach ich.«
»Danke. Wir sehen uns dann morgen, Celine.«
 
Eine Viertelstunde später stieg er vor dem Präsidium aus dem Taxi.
Pünktlich um halb neun erschienen die Mitarbeiter zur Talkrunde. Claudine hatte den Hintergrund von Michel Catteau recherchiert.
»Er wurde am 18. März 1987 im Krankenhaus Tenon im 20. Arrondissement geboren. Vater unbekannt. Mutter eine gewisse Dolores Catteau. Ein spanischer Vorname. Aber ihre Familie kommt nicht aus Spanien. Sie stammt aus Orleans, und Dolores muss irgendwann Mitte der Achtzigerjahre nach Paris gekommen sein, wo sie sich polizeilich nicht gemeldet hat. Amtlich registriert wurde sie in Paris erst bei der Geburt ihres Sohns.«
»Lebt Dolores Catteau noch?«
»Keine Ahnung, Chef. Ich habe nichts weiter über sie finden können.«
»War im Krankenhaus Tenon die Adresse bekannt, unter der sie in Paris wohnte?«, fragte LaBréa.
»Ja. Rue des Tourelles 2, im 20. Arrondissement. Da hab ich natürlich nachgeforscht. Niemand dort hat je von der Frau gehört.«
»Wo ging der Junge später zur Schule?«
»In eine Grundschule im 12. Arrondissement. Aber die hat er nach zwei Jahren wieder verlassen. In den Akten dort ist vermerkt, dass die Mutter mit dem Jungen fortziehen wollte.«
Das Telefon auf LaBréas Schreibtisch klingelte. Auf dem Display sah er die Nummer von Brigitte Foucart. Er drückte auf »Mithören«, damit seine Mitarbeiter das Gespräch verfolgen konnten.
»Es hat zwar eine Weile gedauert«, kam die Gerichtsmedizinerin gleich zur Sache. »Aber dafür kann ich mit einer sensationellen Nachricht aufwarten. Es geht um die Tote an der Gare de Lyon.«
»Spann mich nicht auf die Folter!«, erwiderte LaBrea ungeduldig.
»Aus den Knochen dieser Frau konnte tatsächlich noch DNA isoliert werden. Das Resultat haben wir im Osteologischen Institut in den Computer eingegeben. Erstens: Es gibt eine Übereinstimmung mit den DNA-Spuren im alten Stellwerk. Die unbekannte Frau hat dort ganz eindeutig gelebt. Zweitens: Es gibt auch Übereinstimmungen mit den beiden DNA-Proben am Seidenschal von Madame Geminard und vom Tatort Annie Normand von 2003.«
»Moment mal.« Irritiert schüttelte LaBréa den Kopf. »Eine Person, die selbst vor sechs bis sieben Jahren ermordet wurde, kann ja wohl schlecht einige Jahre später zwei alte Frauen erwürgt haben. Das bedeutet...«
»Sehr richtig, Maurice«, unterbrach Brigitte ihn. »Es gibt nur eine Erklärung: Der Mörder der beiden alten Frauen ist mit der Frau, deren Skelett jetzt gefunden wurde, verwandt.«
LaBréa spürte sein Herz schneller schlagen.
»Wie eng verwandt, Brigitte?«
»Sehr eng. In aufsteigender oder absteigender Linie.«
LaBréa ahnte, was das zu bedeuten hatte.
»Das heißt also, der Mörder von Griseldis Géminard, der auch den Mord an Annie Normand begangen hat, ist entweder ein Elternteil der unbekannten Toten von der Gare de Lyon oder deren leibliches Kind?«
»Genau. Und zwar männlichen Geschlechts. Seine untersuchte DNA zeigt über 50 Prozent Übereinstimmung mit der DNA der unbekannten Toten. Darüber hinaus trägt er ihr X-Chromosom. Der Mörder ist deren Sohn oder Vater. Beides ist möglich.«
»Wie sicher ist das?«
»Ich würde sagen, neunundneunzig Komma neun Prozent. Wir haben den DNA-Strang des Mörders von Griseldis Geminard mit dem DNA-Strang der unbekannten Toten verglichen. Und zwar bis zur zehnten Stelle. Nach der zehnten waren keine weiteren Analysen mehr möglich, weil die Qualität der DNA aus den Knochen des Skeletts nicht so gut war. Aber das spielt insofern keine Rolle, weil der enge Verwandtschaftsgrad nachgewiesen wurde.«
»Danke, Brigitte.« LaBréa legte auf. Mit einem Schlag waren ihm die Zusammenhänge klar. Ein direkter Weg führte von der Toten an der Gare de Lyon zu den beiden alten Frauen, zu Patrice Montana und in dessen Tanzlokal Paradis.
»Das ist das fehlende Glied in der Kette«, sagte LaBrea zu seinen Mitarbeitern. »Für mich ist der Fall geklärt. Es gibt nur eine Möglichkeit.«
»Dass Michel Catteau der Sohn der Toten von der Gare de Lyon sein muss«, meinte Claudine rasch.
»Richtig. Vom Alter käme das auch genau hin. Aber wer hätte auch auf diese Idee kommen können... Was haben Sie noch über ihn herausgefunden?«
»Michel Catteau hat keine Vorstrafen. Und als Schulabbrecher natürlich keine Berufsausbildung. Wovon er gelebt hat, ist, glaube ich, sonnenklar.«
»Von der Gutgläubigkeit und der Sehnsucht alter Damen«, sagte Jean-Marc.
»Als ich ihn am Sonntagabend im Paradis sah, war er anscheinend wieder auf der Jagd.« Erneut blickte LaBréa in die Runde. »Die Frau, mit der er da getanzt hat, wäre vielleicht sein nächstes Opfer gewesen.«
»Vorausgesetzt, sie wäre betucht gewesen«, meinte Franck trocken. »Denn darum ging es ihm ja anscheinend: um richtig viel Geld.«
»Entscheidend ist, dass Patrice Montana heute Morgen gesagt hat, dass er Catteau und die beiden anderen Männer nicht kenne. Das war eine Lüge. Catteau hat er auf jeden Fall gekannt, sonst wäre der nicht in seiner Wohnung gewesen und hätte ihn erschossen. Montana muss nach unserem Besuch bei ihm irgendwie geahnt haben, dass Catteau die beiden Frauen kontaktiert und ermordet hat. Vielleicht hat er Catteau heute Mittag mit dieser Tatsache konfrontiert und musste deshalb sterben.« LaBréa goss sich ein Glas Mineralwasser ein und trank einen Schluck. »Also, nach allem, was wir bisher wissen und beweisen können, ergibt sich folgendes Bild: Zwei alte Frauen, die an den Wochenenden Musettewalzertanzlokale besuchten, wurden auf ähnliche Art und Weise ermordet und jeweils um große Geldbeträge gebracht. Die Spur führt zu ein und demselben Täter, der zumindest in dem Tanzlokal verkehrt hat, das Griseldis Geminard regelmäßig aufsuchte. Ob er dort auch Annie Normand kennengelernt hat, wissen wir nicht, aber es ist zu vermuten. Die hohen Geldbeträge, die Catteau in seiner Wohnung gehortet hat, sind ein schlüssiges Indiz dafür, dass er die Frauen aus Habgier getötet hat. Der DNA-Abgleich wird die endgültige Klärung bringen.«
Erneut trank LaBréa einen Schluck Wasser und fuhr dann fort.
»Der Besitzer des Paradis, wo Michel Catteau verkehrte, wird erschossen, wobei es keinen Zweifel daran geben kann, dass Catteau der Täter ist. Der Beweis: der Schalldämpfer in seiner Wohnung und die Telefonnummer des Autohauses Frolet, die er offensichtlich in der Wohnung des Ermordeten verloren hat. Patrice Montana seinerseits hatte Ende der Neunzigerjahre Kontakt mit einer Unbekannten, von der wir jetzt wissen, dass sie in einem stillgelegten Stellwerk gewohnt hat und vor sechs bis sieben Jahren erschlagen und auf dem Bahngelände verscharrt wurde. Sie heißt Dolores Catteau und ist die Mutter des Mörders.«
»Sie und ihr Sohn waren es, mit denen Patrice Montana einige Jahre zuvor zum Aufwärmen in jenes Bordell kamen«, fügte Claudine hinzu. »Der Junge war damals neun oder zehn. Das würde exakt passen, denn Michel Catteau wurde 1987 geboren und war zu der Zeit genau in diesem Alter.«
»Ja. So viele zufällige Übereinstimmungen gibt es einfach nicht. Wir gehen davon aus, dass Dolores Catteau als Prostituierte gearbeitet hat. Wahrscheinlich hat der Junge mit seiner Mutter damals in dem Stellwerk gelebt. Als Dolores Catteau eines gewaltsamen Todes starb, war Michel Catteau dreizehn oder vierzehn Jahre alt.«
»Dann hat er doch sicher mitbekommen, wer seine Mutter ermordet hat«, sagte Franck. »Das können wir ihn doch fragen.«
»Ja, das können wir.«« LaBréa lächelte hintergründig. »Aber ob er uns das sagt? Denn es könnte ja auch sein, dass er selbst der Mörder seiner Mutter war.« Er ließ seine Worte nachwirken. »Und das wird ihm schwer nachzuweisen sein, ohne Geständnis gar nicht. Verwertbare Täterspuren am skelettierten Leichnam gibt es nicht, und die Spuren im Stellwerk lassen keine Rückschlüsse über den Tathergang zu. Dort ist der Mord anscheinend nicht begangen worden, denn nichts weist auf ein solches Geschehen hin. Wenn Dolores Catteau außerhalb des Stellwerks auf dem Bahngelände erschlagen wurde, ist das heute nicht mehr nachzuweisen. Ganz abgesehen davon, dass Catteau zur Tatzeit mit dreizehn oder vierzehn noch strafunmündig war.«
Jean-Marc atmete tief durch.
»Ein Junge ermordet seine eigene Mutter. Was muss passiert sein, damit ein Kind so etwas tut?«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kind eine Mutter, die ihre Freier mit nach Hause bringt, ablehnt, ja sogar hasst. Insbesondere auf Jungen trifft das zu. Und auf einen Heranwachsenden allemal. Hier könnte das Motiv für den Mord an der eigenen Mutter liegen.«
»Und warum hat Catteau seine späteren Opfer, die alten Frauen, in dem Musettewalzerschuppen gesucht?«, wollte Franck wissen.
»Auch das kann mit Erfahrungen in seiner Kindheit und Jugend zusammenhängen. Inwiefern, werden wir herausfinden.« LaBréa verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte sich. Er fühlte sich steif, und sein Rücken schmerzte. »Und Patrice Montana musste vermutlich deshalb sterben, weil er zu viel wusste.«
»Sie meinen, er wusste von dem Mord an Griseldis Géminard?«, fragte Franck.
»Vielleicht wusste er sogar von Catteaus Mord an seiner Mutter. Und als wir Montana mit den beiden Mordfällen Geminard und Normand konfrontierten, hat er eins und eins zusammengezählt. Er wusste doch, dass Catteau in seinem Lokal verkehrte. Er war ja einer der drei Typen, die am letzten Sonntagabend im Paradis auf Pirsch waren. Deshalb war Montana in unserem ersten Gespräch heute Morgen wahrscheinlich auch so erleichtert, dass ich ihn nicht weiter nach diesen Männern gefragt habe.«
»Hm.« Franck fuhr sich übers unrasierte Kinn. »Catteau hat drei Menschen umgebracht. Mit seiner eigenen Mutter und der Krankenschwester von 2006 vielleicht sogar fünf. Wir hätten den Kerl vielleicht nie gekriegt. Aber er hat einen entscheidenden Fehler gemacht, als er die Telefonnummer des Autohauses Frolet in Montanas Wohnung verlor. Es gibt ihn also doch nicht, den perfekten Mord.«
»Doch, Franck, es gibt ihn. Aber diese Fälle landen nicht in unserer Abteilung. Weil sie gar nicht erst als solche erkannt und untersucht werden. Wie viele sogenannte ›natürliche Tode‹ werden bei der Leichenschau festgestellt, denen in Wirklichkeit ein Gewaltverbrechen zugrunde liegt? Von den jungen, unerfahrenen Ärzten, die bei den Leuten die Totenscheine ausstellen, nehmen die wenigsten eine gründliche Untersuchung der Leiche vor. Dr. Foucart kann da einiges erzählen. Aber das steht auf einem anderen Blatt.«