5. KAPITEL
Es war kurz nach vierzehn Uhr, als er den Wagen auf dem Parkplatz des Justizpalastes parkte und ins Gebäude ging. Über sein Handy rief er im Büro von Ermittlungsrichter Joseph Couperin an. Dieser wollte am Wochenende einen Berg Akten abarbeiten, der sich während seines vierzehntägigen Urlaubs angehäuft hatte.
»Ich hab’s schon von Ihrer Mitarbeiterin gehört«, meldete sich Couperin. »Gewaltverbrechen an alten Menschen machen mich besonders wütend. Schon irgendwelche Erkenntnisse, LaBréa?«
»Noch nicht, Monsieur le Juge. Wir fangen ja gerade erst an. Kommen Sie doch gleich in unsere Talkrunde, wenn Sie möchten. Aber eigentlich lohnt es sich für Sie noch nicht.«
»Eben, das denke ich mir. Ich habe genug Arbeit auf dem Schreibtisch. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie mehr wissen. Wann liegt das Resultat der Autopsie vor?«
»Vermutlich am späten Nachmittag.«
 
Wenig später öffnete LaBréa die Tür des Mitarbeiterbüros.
»Talkrunde! Es kann losgehen«, verkündete er. Dann stutzte er. »Wo ist Franck? Ich hatte doch gesagt, vierzehn Uhr.«
»Vor einer Stunde kam ein Anruf vom Kommissariat des 11. Arrondissements«, erwiderte Claudine und erhob sich hinter ihrem Schreibtisch. Der Paradiesvogel, dessen Schreibtisch am Fenster stand, erhob sich ebenfalls. »Auf dem Bahngelände an der Gare de Lyon haben Gleisarbeiter ein menschliches Skelett gefunden.«
LaBréa runzelte die Stirn.
»Und wieso fährt Franck gleich dort hin?«
»Die haben uns angerufen«, sagte Jean-Marc. »Der Schädel war halb zertrümmert, sieht nach einem Gewaltverbrechen aus, sagen sie.«
»Eine skelettierte Leiche?« LaBréa schüttelte den Kopf. »Das fällt vorerst gar nicht in unsere Zuständigkeit. Da sollen die Osteologen ran, erst mal die Liegezeit der Knochen bestimmen und zusehen, ob sie irgendwoher noch DNA isolieren können. Erst dann schalten wir uns ein und auch nur, wenn die Sache nicht verjährt ist und eindeutige Anzeichen für Fremdverschulden vorliegen.« Ärgerlich blickte er auf seine Uhr. »Schon zehn nach zwei. Ich wüsste gern, was Franck in der Zwischenzeit herausgefunden hat. Wir warten noch fünf Minuten, dann fangen wir ohne ihn an.«
Er verließ die beiden Kollegen und ging zwei Türen weiter in sein eigenes Büro, wo er seinen Rechner hochfuhr und seine Mails las. Es war nichts Wichtiges darunter - was ihn am heutigen Sonnabend nicht weiter verwunderte. Eine Ankündigung der Generalversammlung der Polizeigewerkschaft; der neue Übungsplan für den Schießstand; der Termin für die Einweisung in die neue Software, mit der die Datenbanken der europäischen Polizeidienste noch besser vernetzt werden konnten. Er schloss sein Postfach und griff zum Hörer des Festnetztelefons. Normalerweise wollte Direktor Roland Thibon, LaBréas Vorgesetzter mit Spitznamen »Schöngeist«, am Wochenende nur im Notfall gestört werden. Allerdings wusste LaBréa nie so genau, wie Thibon das Wort »Notfall« interpretierte. Ginge es nach ihm, würde LaBréa den Direktor nicht gleich am Anfang einer Ermittlung benachrichtigen. Doch vor einigen Wochen hatte Thibon ihn scharf zurechtgewiesen, als er ihn nicht sofort über den Mord an einem Jugendlichen im 3. Arrondissement (eine Abrechnung unter Drogendealern) unterrichtet hatte. Man konnte nie wissen, ob man es dem Direktor recht machte oder nicht. LaBréa beschloss, das Risiko einzugehen, und wählte Thibons Privatnummer. Nach mehrmaligem Klingeln war er selbst am Apparat.
»Hier LaBréa, entschuldigen Sie bitte die Störung, Monsieur...«
Thibon unterbrach ihn.
»Es ist Mittagszeit, LaBréa. Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich und die Gäste, die wir heute eingeladen haben, zu stören!«
»Mord an einer alten Frau in der Rue Barbette. Sie wurde erwürgt.«
»Ja und? Deshalb rufen Sie mich an?« Thibon klang ausgesprochen ungehalten. »Haben Sie den Täter wenigstens schon?«
»Nein, bisher fehlt jede Spur. Ich wollte Sie lediglich informieren.«
»Ersparen Sie mir das beim nächsten Mal. Ein simpler Mordfall, das ist doch Ihr täglich Brot. Melden Sie sich am Montag bei mir, und da hoffe ich, dass Sie konkrete Resultate vorweisen können. Einen Erfolg, das ist es, was wir brauchen. Wie sagte doch der berühmte griechische Geschichtsschreiber Herodot? ›Der Erfolg bietet sich meist denen, die kühn handeln, nicht denen, die alles wägen und nichts wagen wollen. ‹ Merken Sie sich das, LaBréa.« Am anderen Ende der Leitung wurde aufgelegt. LaBréa spürte, wie die Wut in ihm hochkochte.
»Du blöder Hampel, dämlicher Sprücheklopfer!«, rief er laut und knallte seinerseits den Hörer auf. »Wie man es macht, ist es verkehrt!« Er hätte schwören können, dass er sich am Montag von Thibon einen Rüffel eingehandelt hätte, wenn er ihn nicht über den Mordfall unterrichtet hätte.
In dem Moment steckte Franck Zechira seinen Kopf durch die Tür. Die letzten Worte seines Chefs hatte er gehört. Er grinste und sagte: »Stress mit dem Schöngeist, Chef?«
LaBréa herrschte ihn wütend an.
»Ja, und mit Ihnen auch gleich! Wie kommen Sie dazu, sich ohne mein Wissen in die Ermittlungen um einen Skelettfund einzumischen? Sie wissen doch, dass in solch einem Fall erst einmal die Experten gefragt sind! Gerichtsmedizinische Spezialisten.«
Franck steckte die Hände in die Taschen seiner Lederjacke und setzt ein betretenes Gesicht auf.
»Normalerweise hätte ich Sie ja auch angerufen, aber in dem Fall...«, er suchte nach Worten. »... in dem Fall hätte ich das wegen Ihrer Mutter etwas pietätlos gefunden. Außerdem - ich bin sowieso zu spät gekommen. Die Kollegen von der Osteologie hatten das Skelett bereits geborgen und waren verschwunden. Ich bin ganz umsonst da hingefahren.«
LaBréa, immer noch ärgerlich, nahm am großen Konferenztisch Platz. Er wusste sehr wohl, dass seine schlechte Laune durch Thibon ausgelöst worden war und Franck nur als Blitzableiter diente. Andererseits hatte sein Mitarbeiter eine eigenmächtige Entscheidung getroffen, was ihm nicht zustand.
 
Claudine und Jean-Marc betraten LaBréas Büro. Der Paradiesvogel brachte eine Thermoskanne Kaffee und Pappbecher mit und stellte beides auf den Tisch. LaBrea bediente sich.
»Also, ich höre«, sagte er und nahm einen ersten Schluck, wobei er sich fast die Lippen verbrannte. »Wer fängt an?«
Franck hob lässig die Hand.
»Ich habe den stellvertretenden Leiter der Credit-Lyonnais -Filiale telefonisch erreichen können. Und zwar über den Wachdienst der Bank. Dort hatte man natürlich seine Privatnummer. Der Mann sagte mir, dass er den Kassierer anruft, der gestern am Schalter Dienst hatte. Heute Nachmittag gegen sechzehn Uhr können wir ihn in der Bank treffen.«
LaBréa nickte zufrieden.
»Sehr gut. Was haben Sie in dem Cafe herausgefunden, in dem Griseldis Geminard angeblich jeden Morgen gefrühstückt hat?«
»Da hat der Nachbar wohl übertrieben. Sie kam höchstens zweimal die Woche.«
»Allein?«
»Ja. Sie hatte ihren Stammplatz, und die Wirtin kannte sie seit Jahren. Dennoch wusste sie nicht viel über sie, abgesehen davon, dass sie Witwe war und ihre Tochter 2001 bei den Terroranschlägen in New York ums Leben kam.«
»Ungewöhnlich, dass die Wirtin nichts über sie wusste«, schaltete Jean-Marc sich ein. »Alte Menschen sind oft einsam. Und wenn sie regelmäßig ins Cafe oder Bistro gehen, reden sie normalerweise mit dem Wirt oder der Bedienung. Über ihren Alltag, ihre Krankheiten, die Vergangenheit. Sie haben ja sonst niemanden, dem sie sich mitteilen können.«
»Ob sie niemanden hatte, sei dahingestellt«, gab LaBréa zu bedenken. »Wir stehen erst ganz am Anfang. Die Frau hat seit Jahrzehnten in derselben Wohnung gelebt. Das heißt, dass einige Nachbarn ihre Gewohnheiten und ihren Umgang gekannt haben müssen. Da sollten wir nochmal nachhaken.« Fragend blickte er Claudine an. »Was rausgefunden über die Tochter?«
»Tja, Chef«, begann Claudine, wiegte leicht den Kopf und blätterte in ihrem Notizbuch. »An der Sache ist irgendetwas faul. Ich habe im Internet recherchiert. Dort gibt es eine Liste aller Opfer des Terroranschlags auf die Twin Towers. Unter den etwa dreitausend Toten ist definitiv keine Frau namens Augustine Géminard. Um genauer zu sein: niemand mit dem Vornamen ›Augustine‹, denn sie hätte ja verheiratet sein und von daher einen anderen Familiennamen tragen können. Außerdem habe ich das französische Konsulat in New York kontaktiert und mir dort die Liste der französischen Staatsbürger geben lassen, die bei dem Anschlag ums Leben kamen. Fehlanzeige.«
»Demnach hat Griseldis Geminard gelogen und diese Geschichte erfunden.« LaBréa lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. »Fragt sich nur, warum? Zweifelsfrei wurde Tochter Augustine 1954 in Paris geboren.«
»Alte Menschen erzählen oft Geschichten, um sich interessant zu machen«, meinte Franck.
LaBréa nickte.
»Ja, das kommt vor. Allerdings nicht nur bei alten Menschen. Leute, die sich etwas zurechtfantasieren, gibt es in allen Altersklassen und Bevölkerungsschichten. Ein schreckliches Ereignis, eine Naturkatastrophe, ein Unglück oder ein Terroranschlag, wie in diesem Fall, wird benutzt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder Mitleid zu erregen. Man behauptet, in direkter Weise von diesem Ereignis betroffen zu sein - zum Beispiel einen lieben Menschen verloren zu haben.«
»Wenn die Tochter nicht bei dem Terroranschlag ums Leben kam, wo ist sie dann?«, überlegte Franck. »Lebt sie überhaupt noch? Wenn ja, wo?«
»Der letzte Brief an ihre Mutter datiert vom April 2001«, bemerkte Jean-Marc.
»Geht aus den Briefen irgendetwas hervor, das uns weiterbringt?«
»Leider nicht, Chef. Da steht überhaupt nichts Interessantes drin. Sie schreibt nichts über ihren Beruf, und was Beziehungen oder Partner angeht, könnte man meinen, so etwas existierte überhaupt nicht für sie.«
»Und womit füllte sie dann die Seiten?«, fragt Claudine erstaunt.
»Sie schreibt übers Wetter, dass sie manchmal ans Meer fährt, dass sie in eine andere Wohnung gezogen ist und so weiter. Belanglosigkeiten. Manchmal erwähnt sie namentlich einige Nachbarn und Bekannte und beschreibt sie ausführlich, während man von ihr persönlich rein gar nichts erfährt.«
»Schon eigenartig«, bemerkte LaBréa nachdenklich und wechselt das Thema. »Was sagen die Kollegen im Labor, Jean-Marc?«
»Auf einem der Seidenschals aus der Wohnung wurden neben der DNA des Opfers auch Hautpartikel mit einer fremden DNA gefunden. Wir nehmen an, dass die Frau mit diesem Schal erdrosselt wurde. Auf der Handtasche der Toten wurden fremde Fingerabdrücke sichergestellt, auch auf ihrem Portemonnaie. Sie sind identisch. Gilles hat alles in die Datenbank eingegeben. Nichts, kein Treffer.«
»Hat er es europaweit versucht?«, hakte LaBréa nach.
»Ja. Aber es gibt nirgendwo eine Übereinstimmung.« LaBréas Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Er stand auf und nahm den Hörer ab. Es war Brigitte Foucart, die das Resultat der Autopsie durchgab. LaBrea schaltete auf »Mithören«, damit auch seine Mitarbeiter den Ausführungen der Gerichtsmedizinerin lauschen konnten.
»Mit meiner Einschätzung des Todeszeitpunkts habe ich richtig gelegen, Maurice. Ihre letzte Mahlzeit hat sie heute Morgen etwa gegen halb sieben eingenommen. Ein Croissant mit Butter und Orangenmarmelade sowie schwarzen Kaffee. Berücksichtigt man dazu noch die Entwicklung der Totenstarre und ihre Körpertemperatur, so ist der Tod zwischen acht und neun Uhr eingetreten. Wie bereits vermutet, wurde sie erdrosselt. Kein ungewöhnlicher toxikologischer Befund, keine weiteren Verletzungen. Und die Frau wurde nicht vergewaltigt. Es gab weder Spermaspuren noch Spuren von Gewalteinwirkung im Vaginalbereich. Abgesehen von einigen harmlosen Zysten an der Blase war sie im Übrigen in einem sehr guten gesundheitlichen Zustand. Sie muss fit und agil gewesen sein. Erstaunlich für ihr Alter!«
»Danke, Brigitte.« LaBréa legte auf und ging zum Konferenztisch zurück. Hinter seinem Stuhl blieb er stehen und stützte die Hände auf die Lehne.
»Was haben wir bisher? Griseldis Geminard war eine rüstige Endsiebzigerin aus großbürgerlicher Familie. Sie hat öfter laut Musettewalzer gehört und eine Geschichte vom angeblichen Tod ihrer Tochter beim Terroranschlag in New York erzählt, die erlogen war. Heute Morgen zwischen acht und neun wurde sie in ihrer Wohnung erdrosselt. Es sieht alles nach einem Raubmord aus. Nicht nur durch die Tatsache, dass der hohe Geldbetrag, den sie gestern abgehoben hat, spurlos verschwunden ist. Auch die fremden Fingerabdrücke auf Handtasche und Geldbörse lassen darauf schließen, dass das Portemonnaie durchsucht und das Papiergeld möglicherweise gestohlen wurde. Da die Wohnungstür nicht gewaltsam aufgebrochen wurde und es keine Kampfspuren gibt, muss sie ihren Mörder gekannt haben.«
»Ein glasklarer Fall also«, meinte Franck ein wenig ironisch. »Fehlt nur noch der Täter.«
»Jean-Marc, Sie hören sich nochmal in der Nachbarschaft um. Befragen Sie die anderen Hausbewohner, die Geschäftsleute in der Straße. Mit wem die Frau Umgang pflegte, wer sie besuchte. Und Sie, Claudine, recherchieren bitte, ob es in den letzten Jahren hier in der Stadt und im Umland ähnlich gelagerte Mordfälle gab, die nie aufgeklärt wurden. Franck und ich fahren jetzt zur Bank. Wenn Sie noch nicht zu Mittag gegessen haben, Franck, dann holen Sie sich rasch in der Kantine ein Sandwich.«
»Nicht nötig, Chef. Hab mir vorhin auf der Rückfahrt von der Gare de Lyon ’ne Pizza mit ins Auto genommen.«
»Also dann. Nächste Talkrunde um achtzehn Uhr.«

11. September 2001

Der Nebel hatte sich nicht gelichtet. Hin und wieder lugten die elektrischen Oberleitungen aus dem milchigen Himmel hervor wie abgebrochene Streben.
Die wenigen Menschen, die ihm auf der Straße begegneten, glitten wie Schemen vorüber. Der Nebel verschluckte sie ebenso schnell, wie er sie ausspuckte.
Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen und beide Hände in den Taschen vergraben. Die Schuhe, die sein Cousin ihm geschenkt hatte, drückten an den Zehen. Schon gestern hatten sich dort Blasen gebildet. Wenigstens waren sie fast neu und würden ihn über den Herbst und Winter bringen.
Die Straße mit ihren tristen Büro- und Lagerhäusern führte direkt in die Zone. Dort hielten sich viele Menschen auf Sie eilten geschäftig hin und her. Manche hatten es weniger eilig, andere standen einfach nur da und warteten.
Beim Durchsuchen der fünfzehn Abfallkörbe ging er systematisch vor. Er begann an der westlichen Seite und setzte seine Suche im Uhrzeigersinn fort. Er war dabei nicht der Einzige. Er sah den Alten mit dem Krückstock, der sich in der Mitte der Zone zu schaffen machte und sich bereits die Taschen vollstopfte. Er musste sich beeilen, bevor die anderen kamen. Rothaut mit dem Feuermal im Gesicht. Oder Mimi, die Schlampe mit der pockennarbigen Haut. Früher waren sie und Dolly einmal befreundet gewesen. Doch irgendwann war es in die Brüche gegangen, er wusste nicht, wodurch. Seit dieser Zeit machte Mimi obszöne Gesten, wenn sie ihn sah. Stieß bedrohliche Zischlaute aus, spuckte ihn an. Besser, er begegnete ihr nicht, dieser Schlampe.
Er zog eine Plastiktüte aus der Jackentasche. Mit geübtem Griff durchforstete er die Abfälle. Essensreste steckte er nur in die Tüte, wenn es sich lohnte. Wichtig waren Flachmänner mit Schnapsresten, auf die Dolly scharf war. In einem der Abfallkörbe fand er einen Einwegrasierer. Den würde er irgendwann brauchen. Er steckte ihn in die Jackentasche.
So verging der Vormittag. Der Lärmpegel in der Zone war ein vertrautes Geräusch, das so etwas wie Geborgenheit versprach.
Als er Hunger verspürte, zog er ein Sandwich aus der Plastiktüte, in das der Vorbesitzer nur einmal hineingebissen hatte. Es war mit Hühnerfleisch und Salatblättern belegt - eine seltene Köstlichkeit. Er stellte sich in eine ruhige Ecke in der Zone und kaute langsam und beinahe genüsslich. Schade, dass er nichts zu trinken hatte! In der Plastiktüte befanden sich zwei Flachmänner mit Schnaps (der eine halb leer, der andere noch drei viertel voll), doch er trank keinen Alkohol. Daran war Dolly schuld. Weil sie sich jede Nacht betrank, hatte er beschlossen, nie auch nur einen Tropfen anzurühren. Wenig später betrat er die öffentliche Toilette in der Zone und hielt seinen Mund unter den Wasserhahn.
Als er die Toilette wieder verließ, war es Mittag. In den Restaurants außerhalb der Zone saßen die Menschen und aßen. Er sah Teller mit Steaks und Pommes frites, Berge von Salat, Karaffen (manchmal auch Flaschen) voll Wein. Er ging Richtung Norden. Die Blasen an den Zehen schmerzten jetzt noch stärker. Auf dem Boulevard Diderot, den er überqueren musste, staute sich der Mittagsverkehr. Nahe beim Krankenhaus St. Antoine gab es eine Bäckerei, die über Mittag geöffnet hatte. Das war die letzte Station bei seinen täglichen Streifzügen. Die Bäckersfrau, eine fette Maghrebinerin mit einer Warze am Kinn, gab ihm jeden Tag ein knuspriges Pain de Campagne. Es war ein Geheimtipp. Keiner der anderen, die täglich ihren Rundgang durch die Zone machten, wusste davon. Die Bäckersfrau hatte er vor vielen Monaten zufällig in der Zone getroffen. Sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er die Abfallkörbe durchsuchte, und ihn angesprochen. Ihr Mitleid und ihre mütterliche Art waren ihm von Anfang an auf die Nerven gegangen. Doch ihr Brot war gut und ihr tägliches Abendessen.
Als er in die Rue Chaligny einbog, sah er den Menschenauflauf vor dem Geschäft für Radios, Waschmaschinen, Bügeleisen und Fernsehapparate. Er näherte sich der Menge, die durch die Schaufensterscheibe ins Innere des Ladens starrte. Dort stand ein eingeschalteter Fernseher, auf dem bizarre Bilder zu sehen waren. Ein Flugzeug raste in einen hohen Turm. Daneben stand ein weiterer Turm, aus dem dichter Qualm drang. Immer wieder wurden diese Bilder gezeigt, nur kurz unterbrochen von den Einblendungen eines Moderators, der sehr aufgeregt wirkte. Hier draußen auf der Straße verstand man nicht, was gesagt wurde. Die endlose Wiederholung dieser stummen Bilder hatte etwas Bedrohliches, Unbegreifliches. Von links ein Flugzeug, das in einen Turm rast. Eine Explosion, Feuer, Rauch.
Die anderen neben ihm starrten ebenso gebannt wie er auf den Bildschirm. Niemand wusste, was diese Bilder zu bedeuten hatten. Dann verlor er das Interesse, drehte sich um und schlenderte die Straße entlang. Das in Papier eingewickelte Pain de Campagne verströmte einen köstlichen Duft. Er musste an sich halten, um nicht ein Stück der knusprigen Kruste abzubrechen. Doch dann hätte er Ärger mit Dolly bekommen. Wegen solcher Kleinigkeiten konnte sie sich wahnsinnig aufregen.
Am Morgen hatte er auf Dollys Abreißkalender (ein Werbegeschenk des Discounters) gelesen, dass heute der 11. September war.
Für ihn ein Tag wie jeder andere.
Immer noch lag dichter Nebel über der Stadt. Er machte sich auf den Heimweg.
Etwas musste geschehen.