Kapitel 19

 

Seattle bei Nacht war wunderschön – dunkel und schmierig in den Gassen, strahlend erleuchtet um die Wolkenkratzer und die Space Needle, die über dem Wasser schimmerte. Ich hatte das Aussehen und die Geräusche der schlafenden Stadt lieben gelernt. Natürlich streiften die üblichen Penner und College-Studenten, Nutten und Drogendealer durch die Straßen. Und ein paar Vergewaltiger und Gangster mischten sich darunter oder brausten in ihren aufgemotzten Autos herum. Aber insgesamt herrschte in den Nachtstunden eine stille Wachsamkeit in Seattle.

Die gekräuselten Strömungen der Elliott Bay glitzerten im reflektierten Licht der Lampen am Pier, als wir auf den Parkplatz in der Nähe des Hotels einbogen. Lautlos wie die Nacht versammelten wir sechs uns in einer schattigen Nische zwischen zwei Gebäuden. Im Westen konnten wir über die Hauptstraße, den Alaskan Way, bis zum Meerbusen schauen. Im Osten wartete eine Reihe von Lagerhäusern und anderen großen Gebäuden auf uns.

»Da.« Ich deutete auf das Halcyon Hotel. »Das Mekka der Übernatürlichen. Ich hoffe sehr, dass Dredge noch da ist, dieses Stück Scheiße.«

Wir gingen über den leeren Parkplatz, nicht mehr als eine Kiesfläche mit Reihen von Zementstegen, die den Fahrern anzeigten, wo sie parken sollten, von einzelnen Lampen schwach beleuchtet. Außer unseren eigenen Autos waren hier nur ein paar Wagen geparkt. Einer, ein Hummer, hatte ein personalisiertes Nummernschild mit der Aufschrift »SEXYSUCC«.

Ich zeigte darauf. »Zehn zu eins, dass der einem Succubus gehört.«

Camille lachte auf. »Manchmal glaube ich, ich hätte einen tollen Succubus abgegeben.«

»Wenn du die Magie nicht mehr lieben würdest«, bemerkte Morio.

Ich warf Delilah einen Blick zu. Morio kannte Camille besser, als ich gedacht hatte. »Okay, Leute, hört zu. Ihr wisst bereits, dass Dredge wahnsinnig gefährlich ist. Denkt daran: Er ist ein Sadist. Er genießt es, anderen Schmerzen zuzufügen. Wenn er euch in die Finger bekommt, wird er alles tun, was ihm einfällt, um euch zu brechen. Jemanden nur zu töten, geht für seinen Geschmack viel zu schnell.«

»Glaubst du wirklich, dass wir ihn besiegen können?«, fragte Camille, die plötzlich sehr ernst wirkte. »Was ist mit dem Rest seines Clans?«

»Der restliche Clan könnte ein Problem sein. Seltsamerweise haben wir einen Bericht nach dem anderen über Dredge gehört, aber nichts über seine Gefolgsleute. Trotzdem müssen wir ihn ausschalten, denn wenn er uns entkommt, werden wir jeden verdammten Tag unseres restlichen Lebens damit zubringen, ständig über die Schulter zu schauen. Wir könnten nie wieder Freunde haben oder Verwandte in unsere Nähe lassen, ohne sie in Gefahr zu bringen.«

Schlimmstenfalls würde ich Dredge entkommen können, und Roz vermutlich auch. Aber die anderen – für Chase war die Gefahr am größten, doch wie man es auch drehte und wendete, meine Schwestern und Morio waren in keiner Weise unverwundbar. Als wir uns dem Gebäude näherten, bedeutete ich allen, sich so dicht wie möglich am Rand zu halten, wo man uns von den Fenstern, die zum Parkplatz hinausgingen, nicht sehen konnte.

»Ich muss erst herausfinden, in welchem Stockwerk er ist. Ich bezweifle, dass wir diese Information irgendwem am Empfang entlocken könnten. Dredge ist sehr charmant, auch ohne Vampir-Glamour. Ihr könnt darauf wetten, dass sie am Empfang gar nicht wüssten, nach wem wir uns erkundigen, oder warum. Er hat sie ganz sicher so betört, dass sie keinerlei Informationen über ihn herausrücken werden.«

Ich suchte die Fenster ab und wandte mich dann zum Pier um. Da – die Statue einer Gestalt mit einem großen Sack über der Schulter, den sie über eine Planke trug. The Deckhand. Das war die Statue, die ich durch Dredges Augen gesehen hatte. Und direkt dahinter war das Sushirama. Das bedeutete... Ich blickte wieder am Hotel hinauf. »Viertes Fenster von links. Da bin ich sicher. Lasst mich schnell nachsehen, in welchem Stockwerk.«

Langsam löste ich mich vom Boden und schwebte aufwärts. Erdgeschoss, nein. Erster Stock – nichts. Zweiter – vielleicht, dachte ich. Als ich den dritten Stock erreichte, schnippte ich mit den Fingern und ließ mich sofort wieder hinabsinken. »Dritter Stock, viertes Fenster von links. Los, gehen wir.« Ich führte die anderen in die Lobby.

The Halcyon Hotel and Nightclub war genau das – ein Hotel mit einem Nachtclub, der über die Lobby zugänglich war. Wie die meisten der ÜW-Clubs, die in der ganzen Stadt aus dem Boden geschossen waren, wurde auch dieser hier eher von Erdwelt-Übernatürlichen frequentiert als von Besuchern aus der Anderwelt, aber hier war so gut wie jeder willkommen, solange er keinen Ärger machte. Musik und Lachen drangen aus der Lounge herüber, als wir die Lobby betraten. The Doors heulten aus der Jukebox.

»Sieht nach einer kleinen Ecstasy-Party aus«, bemerkte Camille mit gedämpfter Stimme.

»Solange es kein Z-fen ist«, erwiderte ich und sah mich um. Sie hatte recht. Die Deko schien einem psychedelisch angehauchten Siebziger-Jahre-Knutschfilm entstiegen zu sein, mitsamt glühenden Lavalampen und Schwarzlicht-Postern in einer Ecke. Ich blinzelte und dachte, dass Exo Reed wohl auf ziemlich seltsame Sachen abfuhr.

»Glaubst du, dass Exo da ist?«, fragte Delilah.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Aber bitte denkt daran, dass er und seine Familie in diesem Gebäude wohnen.«

»Nicht gerade die ideale Umgebung für Kinder.« Chase blickte sich um. »Wenn er kein ÜW wäre, würde ich ernsthaft daran denken, das Jugendamt anzurufen, damit die sich das hier mal ansehen.«

Ein wenig verärgert brachte ich ihn zum Schweigen. »Darum geht es nicht. Die Familie wohnt hier, also befinden sich vermutlich Kinder im Haus. Deshalb sollten wir uns bemühen, keinen allzu großen Schaden anzurichten oder sonst jemanden in Gefahr zu bringen. Und genau deswegen will ich nicht, dass Exo sich an unserem Kampf beteiligt. Am besten, er merkt gar nichts davon, bis wir fertig sind, denn wenn Dredge ihn betört hat, könnte es gut sein, dass Exo uns unabsichtlich verrät. Kapiert?«

»Da ist der Aufzug. Oder willst du die Treppe nehmen?« Delilah deutete auf das Treppenhaus am Ende der Eingangshalle.

Mit dem Aufzug ginge es schneller, aber sein Zimmer lag ja nur im dritten Stock. »Treppe. Dann brauchen wir nicht mit einer unschönen Überraschung zu rechnen, falls die Tür aufgeht und Dredge zufällig gerade davorsteht. Oder einer seiner Kumpane.«

Meine Gedanken rasten voraus, während wir die Treppe hinaufliefen. Wie sollten wir das anpacken? Dredge war furchtbar stark, und wir würden alles aufbieten müssen, was wir hatten, um ihn zur Strecke zu bringen, vor allem, da er mit Loki verbunden war. Mein Herz sagte mir, dass wir siegen konnten, während mein Kopf mich warnte, dass allzu große Siegessicherheit katastrophale Folgen haben könnte.

Als hätte Delilah meine Gedanken gelesen, fragte sie: »Haben wir einen Plan? Ich nehme an, du und Roz geht zuerst rein.«

Ich nickte. »Ja, wir haben die besten Chancen, uns gegen ihn verteidigen zu können.«

»Und wir haben die größte Rechnung mit ihm offen«, warf Roz grimmig ein. »Vergesst nicht, dass er meine Familie ermordet hat. Meine gesamte Familie.«

»Wollt ihr einfach versuchen, ihm einen Pflock zu verpassen?« Camille blieb auf dem Treppenabsatz unterhalb des zweiten Stocks stehen. »Ist er immun gegen Magie?«

Ich lehnte mich an die Wand des Treppenhauses. »Wenn wir einfach reingehen und das mit dem Pflock versuchen, hat er schon so gut wie gewonnen. Nein, wir werden schon darum kämpfen müssen, in diese Position zu kommen. Einige Arten von Magie können ihm durchaus zu schaffen machen. Du hast nicht zufällig die Fähigkeit, Tote auferstehen zu lassen?« Das war ein Scherz, aber auch halb ernst gemeint. Morio schien in Todesmagie unglaublich bewandert zu sein, und ich vermutete, dass er wesentlich mehr war als ein einfacher Yokai. »Das würde ihn wahrscheinlich töten.«

»Dafür bräuchten wir einen sehr mächtigen Nekromanten«, erwiderte Morio.

Chase sah ihn an, und offenbar dachte er ganz ähnlich wie ich, denn er sagte: »Du und Camille habt da an ziemlich mächtigem, düsterem Zeug gearbeitet. Steht in eurem Zauberbuch auch was für Vampire?«

Morio warf Camille einen Blick zu und zuckte mit den Schultern. »Schon möglich. Vielleicht können wir ihn ein bisschen langsamer machen oder eine Illusion schaffen, die ihn erschreckt. Weißt du denn, wovor er sich fürchtet?«

Ich überlegte einen Moment lang. »Ja – zumindest etwas, das ihn zögern lassen würde. Kannst du die Illusion erzeugen, Fenris stünde hinter uns?«

»Fenris?«, fragte Roz und starrte mich an. »Aha... ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst.«

»Wer zum Teufel ist Fenris?«, fragte Chase.

Camille runzelte die Stirn. »Ein gewaltiger Wolf. Sohn von Loki, der Chaos und Zerstörung verbreitet.«

Morio neigte den Kopf. »Ich könnte die Illusion vermutlich ein paar Augenblicke lang aufrechterhalten, aber er wird sie ziemlich schnell durchschauen.«

»Ein paar Sekunden sind für uns schon kostbare Zeit, in der er von uns abgelenkt ist«, sagte ich. »Wenn wir reingehen, will ich diesen Wolf hinter uns haben. Neuer Plan. Camille, du und Delilah geht mit mir als Erste rein. Roz, du kommst als Nächster, zusammen mit Morio. Camille, du feuerst erst mal einen Lichtblitz ab, um ihn zu blenden. Chase, halt dich im Hintergrund und sei bereit, jeden, der schwer verletzt wird, aus der Gefahrenzone zu holen. Roz, was hast du zu bieten?«

»Ich gehe mit gezücktem Pflock rein, aber ich habe da noch was im Ärmel.« Er holte etwas hervor, das ein bisschen an einen Chinaböller erinnerte. »Das ist eine Knoblauch-Rauchbombe. Entzündet sich bei Kontakt mit Untoten. O ja, dieses Baby dürfte ihn heftig ins Schleudern bringen. Zumindest wird es ihm entsetzliche Schmerzen bereiten, und das mitten im Kampf. Dir wird das auch nicht bekommen, Menolly, also wenn ich gezwungen bin, den Italiener in mir rauszulassen, sieh zu, dass du deinen niedlichen kleinen Hintern zur Tür rausschaffst.«

Ich verzog das Gesicht. »Igitt. Bleib mir bloß vom Leib mit dem Ding, außer es geht gar nicht anders, und um Himmels willen warne mich vorher, wenn du es einsetzen musst.« Ich schloss die Augen. Es hatte keinen Zweck, die Sache noch länger hinauszuzögern. »Okay, gehen wir. Bitte seid vorsichtig. Ich habe keine Lust, heute Nacht noch mehr Leute zu erwecken, und glaubt mir, Dredge wollt ihr erst recht nicht in die Hände fallen.«

Eine Minute später erreichten wir den dritten Stock und gingen den leeren Flur entlang. Ich zählte die Türen ab und blieb vor der stehen, hinter der ich Dredge vermutete. Schon als wir uns der Tür näherten, hing ein überwältigender Geruch nach Vampir in der Luft. Er war da drin, das war sicher. Und wahrscheinlich wusste er, dass seine Neulinge – zumindest die meisten von ihnen – tot waren. Wenn wir Glück hatten, wusste er noch nicht, wer sie erledigt hatte. Wenn wir Pech hatten, wartete er schon auf uns.

Ich blickte zu den anderen zurück. »Und – Action.« Ich trat die Tür ein und stürmte ins Zimmer. Camille und Delilah waren direkt hinter mir. Plötzlich war es ganz still. Erst fühlte es sich so an, als hätten sich hier drin viele Leute unterhalten und wären bei meinem Eindringen abrupt verstummt. Dann erkannte ich, dass ich nur Dredge gegenüberstand. Es waren keine anderen Vampire zu sehen.

»Menolly –« Delilahs Stimme zitterte. Ich blickte blitzschnell über die Schulter zurück und sah, dass nur meine Schwestern mir in das Hotelzimmer gefolgt waren.

Dredge ließ sich auf der Kante des Schreibtischs vor dem Fenster nieder, ein triumphierendes Grinsen im Gesicht. Er war so, wie ich ihn in Erinnerung hatte, prachtvoll und tödlich, bekleidet mit einer schwarzen Lederhose und passender Weste.

»Na, ihr habt ja ganz schön lange gebraucht«, sagte er. »Was denn? Überrascht es euch wirklich, dass ich auf euer Kommen vorbereitet bin?«

»Verflucht. Er hat eine magische Barriere aufgebaut«, sagte Camille mit einem Blick zur Tür. »Menolly, die Jungs können nicht reinkommen.« Sie trat zwei Schritte zurück, und ich spürte ihre Energie aufflammen, als sie einen blendenden Lichtblitz verschoss.

Dredge hielt sich die Hand vor Augen, und ich sprang vor, doch das Licht versagte plötzlich, und ich konnte ihm gerade noch ausweichen, als er nach meinem Handgelenk griff.

Zur Hölle! Ich verfluchte Camilles ewige magische Fehlzündungen. Ich würde uns Zeit erkaufen müssen, damit die Jungs eine Chance hatten, die Barriere irgendwie zu durchbrechen. »Was ist denn los? Hast du solche Angst vor uns, dass du uns trennen musstest?«

Er stieß einen leisen Pfiff aus und schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil, meine hübsche Menolly. Ich wollte lieber eine kleine, intime Party feiern. Ihr werdet feststellen, dass niemand, der kein Anderwelt-Feenblut besitzt, durch diese Barriere dringen kann. Keine Menschen, keine Dämonen... O ja, ich weiß, dass ihr mit Abschaum wie diesem Incubus und der japanischen Töle herumlauft. Aber bedauerlicherweise, für euch, meine ich, seid nur ihr drei meine geladenen Gäste. Ihr könnt die Barriere in die Gegenrichtung nicht wieder durchschreiten – also, Mädels, wir sind ganz unter uns. Menolly, nur du und ich... und deine Schwestern.« Er rieb sich die Hände. »Ich werde die heutige Nacht sehr genießen.«

Ich blickte mich um. »Wo sind deine kleinen Freunde, Dredge?«

»Mit anderen Aufgaben beschäftigt, die ich ihnen zugewiesen habe. Glaub mir, ich brauche sie nicht einmal, damit sie die Sauerei aufwischen, die von euch übrig bleiben wird.«

Verflucht, dann liefen sie immer noch frei herum. »Nur zu, Dredge. Ich weiß alles über dich. Ich weiß, wem du dienst.«

Dredge verschränkte die Arme vor der Brust und wedelte tadelnd mit dem Zeigefinger. »Menolly, Menolly, Menolly. Schäm dich, Mädchen. Du hast dich mit den falschen Leuten eingelassen, und jetzt werde ich dich in Stücke reißen müssen. Dann nehme ich mir deine Schwestern vor, ficke sie, bis sie mich anflehen, endlich sterben zu dürfen, und verwandle sie. Dann lasse ich sie auf deine geliebte Stadt los, damit sie den Dreck, der hier drüben so lebt, gründlich terrorisieren.«

»Lass sie da raus. Das ist eine Angelegenheit zwischen dir und mir.«

Das Lächeln erlosch, und der gnadenlose Dredge trat auf. »Halt dein beschissenes Maul. Wir spielen hier nach meinen Regeln, Verräterin.«

Camille hob die Arme, und mit einem wilden Ausdruck in den Augen, den ich bei ihr nur selten zuvor gesehen hatte, sprach sie:

»Beim Licht des Mondes, bei allen Sonnenstrahlen,
beim Zorn der Jägerin, deren Kraft ich besitze.

Bei der Hitze meiner Wut, bei Schmerz und Qualen,
befehl ich durch meinen Körper herab die Blitze!«

Ein gewaltiges Krachen ließ den Raum erbeben, ein gleißend blauer Blitz zerschmetterte das Fenster und sprengte den Schreibtisch hinter Dredge in tausend Stücke. Ein Holzsplitter schoss hoch und bohrte sich in seinen Arm. Nah dran, aber nicht nah genug. Ein weiterer, gegabelter blauer Energiestrahl verfing sich im Metallrahmen des Betts. Die Bettwäsche ging in Flammen auf.

Dredge machte schmale Augen. »Du hast dir soeben einen ganz besonderen Platz in der Hölle gesichert, Mädchen«, sagte er, und in der nächsten Sekunde stand er neben Camille.

»Nein!« Delilah stach mit dem ausgestreckten Dolch nach ihm. Das Silber schlitzte ihm den Arm auf, und er zuckte zusammen, so dass Camille sich ans andere Ende des Zimmers flüchten konnte. Rauch füllte rasch das Zimmer, denn die Tagesdecke brannte lichterloh, und Camille murmelte ein paar Worte. Ein heftiger Regenschauer prasselte von der Zimmerdecke, durchweichte uns alle, löschte aber die Flammen.

Ich nützte das Chaos zum Angriff und sprang mit erhobenem Pflock vor. Dredge wirbelte herum, und wir prallten mitten in der Luft aufeinander, stürzten zu Boden und rangen verzweifelt miteinander. Er lag auf mir und langte mit den Klauen nach meiner Kehle, aber ich schaffte es, mich gegen seine Schultern zu stemmen, so dass er mich nicht recht zu packen bekam.

»Warum? Warum hast du dich gegen mich gewandt? Du undankbares Miststück, du verräterische Hündin! Du wagst es, mir zu trotzen? Du wagst es, das Band zu zertrennen?« Er lehnte sich zurück und versetzte mir einen Faustschlag in die Magengegend. Wenn ich noch am Leben gewesen wäre, hätte dieser Schlag mich getötet. So brachte er mich nur aus der Fassung.

»Lass sie in Ruhe!«, hörte ich Delilah kreischen. Im nächsten Moment stöhnte Dredge und warf sich von mir herunter, Delilahs Dolch in der rechten Schulter. Immer noch nicht genug, um ihn zu vernichten, aber das Silber musste höllisch brennen.

Ich nutzte den Moment der Ablenkung, um mit einem Satz auf die Füße zu kommen. Dredge wollte sich gerade umdrehen, als Camille einen weiteren Zauber losließ. Aber als der Energiestrahl auf Dredge zuschoss, packte er Delilah und stieß sie in den heranrasenden Zauber.

Camille brach den Angriff sofort ab, und die Energie machte sich selbständig, wich zur Seite ab, traf Delilah an der Schulter, prallte ab und schoss zum offenen Fenster hinaus in die Nacht.

Delilah kreischte vor Schmerz und drehte sich dann zu Dredge um. Ihre Augen funkelten wild. »Du verfluchter Blutsauger!«

Erst dachte ich, sie würde sich in ein Tigerkätzchen verwandeln – dann hätten nur noch Camille und ich weiterkämpfen können. Doch dann roch ich einen Hauch von Erntefeuer. O-oh. Offenbar wollte jemand nicht auf eine seiner Todesmaiden verzichten. Ihr tiefes Grollen hallte durch den Raum, und zum ersten Mal sah Dredge ein wenig nervös aus. Mehr Ablenkung brauchte ich nicht, um mich erneut mit hocherhobenem Pflock auf ihn zu stürzen.

Dredge wich meiner Attacke aus, bemerkte aber nicht, dass Camille sich von hinten angeschlichen hatte. Sie hatte etwas in der Hand – keinen Pflock, es war viel kleiner. Sie sprang auf seinen Rücken, schlang die Arme um seinen Hals und wickelte die Beine fest um seine Taille. Ehe er sie abschütteln konnte, schlug sie ihm eine Hand vor den Mund und ließ nicht wieder los, während Dredge an ihren Beinen zerrte.

Ein erstickter Laut war zu hören, und sie ließ los, fiel zu Boden und rollte sich weg. Er hatte ihr lange, tiefe Wunden an den Unterschenkeln zugefügt, die heftig bluteten.

Ich schnupperte. O Scheiße, ich wusste, was sie getan hatte! Sie hatte eine von Roz’ Knoblauchbomben stibitzt und sie soeben Dredge ins Maul gestopft! Im nächsten Augenblick nahm Delilah in einem glitzernden Funkenregen ihre Panthergestalt an, und ihr Gebrüll ließ das Zimmer erbeben.

»Was zum... « Dredge blickte einen Moment lang verwirrt drein. Er starrte mich mit blutroten Augen an und begann dann plötzlich zu würgen. Er fuhr sich mit den Händen an die Kehle und stöhnte, und ich sah, wie sich sein Gesicht langsam vor Schmerz verzerrte.

»Tut weh, was? Aber du magst doch Schmerz!« Ich trat zu ihm, ignorierte den Knoblauch, ignorierte das Schwindelgefühl, das dieser Geruch bei mir auslöste. Ich sah nur eines, nur mein Ziel: den Feind auszulöschen. Das war alles, was ich zu tun hatte.

»Wie gefällt dir das!« Ich zielte auf seinen Bauch und trat so fest zu, wie ich konnte. Der Tritt schleuderte ihn an die Wand. Mit ausgestreckten Armen prallte er auf, und ein langer Riss zog sich durch den Putz. Das ganze Zimmer bebte, und er sackte zu Boden. Er versuchte aufzustehen, aber Delilah landete direkt vor ihm und verbiss sich in seinem in Leder gehüllten Bein. Der Biss war tief, ich konnte den Knochen sehen, als sie ein riesiges Stück Fleisch herausriss.

»Delilah, zurück. Er gehört mir«, sagte ich.

Sie warf mir einen fragenden Blick zu und trottete ein paar Schritte beiseite. Dredge rappelte sich gerade hoch, als ich vorsprang. Mit aller Kraft stieß ich den Pflock herab und in Dredges Herz. »Stirb, verflucht, stirb endlich!«

Er lehnte sich zurück und starrte auf den Holzpflock, der zur Hälfte in seiner Brust steckte. Warum verpuffte er nicht zu Asche? Stimmte etwas nicht? Und dann sah ich den Schatten neben ihm – die Gestalt eines Mannes, von Flammen umzüngelt, und neben ihm ein Wolf, angeleint mit einer gigantischen Kette. Mann und Wolf starrten mich beinahe höhnisch an. Doch dann lachte Loki auf und wandte sich Dredge zu.

»Zeit, die Zeche zu zahlen«, sagte er; seine Stimme hallte von den Wänden wider wie ein misstönendes Konzert von Trommeln im tosenden Wind.

»Nein, nein, noch nicht – noch nicht... « Dredge tastete fahrig nach dem Pflock und versuchte ihn herauszuziehen.

»Nein, das wirst du nicht tun!« Ich stürzte mich auf ihn, ohne auf die gewaltige Szene zu achten, die sich vor meinen Augen abspielte. Ich packte das Ende des Pflocks und setzte Dredges Kampf all meine Kraft entgegen.

»Dies ist nicht das Ende«, flüsterte er und starrte mit diesen wunderschönen, betörenden Augen zu mir auf. »Ich bin noch nicht mit dir fertig.«

»Hast du noch nie von Scheidung gehört, Arschloch?« Ich stieß noch einmal zu, ließ mich auf den Pflock fallen und rammte ihn mit beiden Händen ein. Die Spitze glitt langsam tiefer in seine Brust, durchbohrte sein Herz und traf schließlich auf den Boden unter ihm. Loki lachte bellend, und Dredge stieß einen letzten, schrillen Schrei aus, bevor sein Körper, vor tausend Jahren geboren, zu Asche zerstob, die auf den Teppich rieselte. Ich fiel zur Seite und landete auf den Knien vor dem Halbgott.

Ich warf mir die langen Zöpfe aus dem Gesicht und stand langsam auf. Loki hielt eine schimmernde Kugel in der Hand. Dredges Seele. Ich schluckte und wich ein paar Schritte zurück. Was zur Hölle würde jetzt geschehen? Aber Loki musterte mich nur von Kopf bis Fuß und zwinkerte mir dann zu. Ich konnte Dredge einen letzten Schrei ausstoßen hören, als Loki, sein Wolfskind und sein Vampirkind verschwanden.

»Camille, kannst du aufstehen?« Delilah war wieder sie selbst. Sie kroch gerade zu Camille, die auf dem Boden lag und an beiden Beinen stark blutete.

»Wo ist er?« Morio platzte als Erster durch die Tür. Die Barriere war verschwunden. Er blickte sich um, entdeckte den blutigen Pflock und zog seine Schlüsse. »Ist alles in Ordnung – Camille? Camille?« Er eilte zu ihr, während Delilah versuchte, ein Betttuch zu zerreißen, um die Blutung zu stoppen.

Roz und Chase ließen nicht lange auf sich warten. Roz stieß Delilah und Morio beiseite. »Lasst mich das machen. Ich habe eine Heilsalbe dabei, für alle Fälle. Die wird zumindest die Blutung stillen, bis sie medizinisch versorgt werden kann.« Als er die Salbe auf ihre Wunden tupfte, verzog Camille das Gesicht.

»O Große Mutter, das brennt«, jammerte sie.

»Rache für die Näherei an meinem Hals«, erwiderte er grinsend.

»Er ist also weg? Tot?« Chase blickte sich um und stieß einen leisen Pfiff aus. »Das Zimmer habt ihr jedenfalls hübsch zugerichtet. Die Wand hat einen Riss, das Bett ist abgefackelt, der Teppich angesengt, das Fenster zerbrochen... Euch drei möchte ich bei mir zu Hause nicht haben, das kann ich jetzt schon sagen.«

Ich schnaubte. »Danke sehr, Witzbold. Camille hat einen Blitz eingeladen, mit uns zu spielen, der hat hier Feuer gelegt, das sie dann mit ein paar Eimern Regen löschen musste. Und für den Riss in der Wand bin ich verantwortlich.«

Chase starrte uns an und brach dann in Lachen aus. »Ein ganz normaler Tag im Leben der D’Artigo-Schwestern, was?«

Ich kniete mich vor den Pflock und starrte auf das Häuflein Asche. Der Wind blies durch das zerbrochene Fenster herein, erfasste die Asche, wirbelte sie durch die Luft und trug sie davon. Roz trat zu mir, und wir blickten in die kalte Nacht hinaus.

»Ich weiß nicht, wie wir das geschafft haben. Ich weiß ehrlich nicht, wie es uns gelungen ist, ihn zu erledigen.« Ich erzählte ihm von dem Kampf. »Wir waren gut... aber sind wir wirklich so gut?«

»Sieht ganz danach aus. Aber vielleicht... vielleicht hat euch jemand ein bisschen geholfen?« Roz hob den Pflock auf und starrte die blutige Spitze an.

»Wie meinst du das?«

»Vielleicht fand Loki, es sei an der Zeit, dass Dredge seine Schuld einlöst. Vielleicht auch nicht. Wie auch immer, ich würde wetten, dass der Winter in ein paar Tagen milder wird.« Roz schüttelte den Kopf. »Ich kann gar nicht glauben, dass es vorbei ist. Ich bin seiner Spur gefolgt, seit er meine Familie ermordet hat. Siebenhundert Jahre lang habe ich ihn über alle Länder und Berge hinweg gejagt. Und jetzt, am Ende, konnte ich ihm nicht einmal in die Augen sehen, als er gestorben ist.«

Ich ließ den Kopf hängen. »Ich wünschte, du hättest hier bei uns sein können. Er ist weg. Aber der restliche Elwing-Clan ist noch da.« Ich schaute aus dem Fenster. »Sie sind da draußen, irgendwo.«

»Und er war ihr Anführer. Wenn er mit seinen Leuten so umgesprungen ist wie mit dir, werden sie dich als ihre Retterin feiern.« Roz wischte den Pflock an einer Decke ab und steckte ihn in seinen Mantel.

»Und wenn sie Dredge verehrt haben... werden sie sich an mir rächen wollen. Irgendwann.« Ich stand auf und wischte mir die Hände am Hosenboden ab. »Ich werde bereit sein.«

»Was jetzt?«, fragte Roz.

»Jetzt fahren wir nach Hause und versorgen Camilles Wunden. Dann überlegen wir, was der nächste Zug in unserem Krieg gegen Schattenschwinge sein sollte.« Ich drehte mich nach Morio um, doch Roz hielt mich am Arm zurück.

»Ich komme mit euch. Da ist etwas, das ihr wissen müsst. Über Schattenschwinge. Über die Dämonen.«

Ich wollte fragen, was, aber er war zu schnell, und ehe ich mich versah, hatte er das Zimmer verlassen und lief den Flur entlang. Wir sammelten alles ein, was Dredge gehört hatte, und ich bat Morio, zu Exo Reed zu gehen und ihm zu erklären, was hier passiert war – und dass er uns die Rechnung für den entstandenen Schaden schicken sollte.

Was wusste Roz über Schattenschwinge? Und über Dredge? Der war jetzt Asche, aber was hatten dieses Grinsen und der Abschiedsgruß vom Herrn des Chaos zu bedeuten?

Als ich Camille hochhob, um sie zum Auto zu tragen – das war für mich am einfachsten, und das Blut, das aus ihren Wunden rann, ließ nicht einmal meine Nase zucken –, wurde mir klar, dass ein Teil von mir immer in Angst leben würde. In der Angst, Dredge könnte doch irgendeinen Weg finden, in die Welt zurückzukehren. Manche Wunden heilen niemals, dachte ich. Selbst wenn man die Last losließ, würden die Riemen, an denen man sie getragen hatte, für immer auf der Seele brennen.