Kapitel 5
Im Grunde war es ganz einfach. Ich setzte mich mit Anna-Linda an den Küchentisch und nahm ihre Hände in meine. Als sie mich dann ansah, ließ ich die Schutzschilde fallen, die meinen Glamour, sowohl den der Feen als auch den der Vampire, normalerweise unterdrückten.
Anna-Linda blinzelte ein paarmal, doch es dauerte nicht lange, und ich spürte, wie ihr freier Wille kapitulierte. Sie war noch sehr jung und leicht zu kontrollieren. Schuldgefühle flackerten in mir auf. Ich war im Begriff, in ihrem Geist herumzupfuschen, ihrem Verstand meine Gedanken einzugeben und sie glauben zu lassen, das seien ihre eigenen.
Ich zögerte und versuchte, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich das Richtige tat. Immerhin – falls sie tatsächlich durchdrehte und auf die Idee kam, den Tod ihres Bruders rächen zu wollen, wäre ich ein leichtes Ziel. Inakzeptables Risiko. Kinder waren allzu geschickt darin, Geheimnisse zu erschnüffeln. Sie würde nicht lange brauchen, um mein Versteck zu finden. Also schob ich meine Zweifel beiseite und drehte den Charme voll auf.
»Anna-Linda, hör mir zu.«
Meine Stimme hatte einen leichten Nachhall. Sie blinzelte und sah mich dann an, als existiere außer mir niemand im ganzen Universum.
»Du willst bei Siobhan bleiben. Sie wird sich gut um dich kümmern, und du wirst ihr keinen Ärger machen. Du glaubst, das sei deine eigene Idee, und du wirst nicht weglaufen, es sei denn, dein Leben wäre in Gefahr. Falls etwas Schlimmes passiert, kommst du zu uns und erzählst uns davon. Hast du das verstanden?« Meine Stimme liebkoste sie wie warmer Honig, und ein friedvoller Ausdruck breitete sich über ihr Gesicht.
Sie nickte mit leerem Blick. »Ich will bei Siobhan bleiben.«
»So ist es. Und du wirst keinen Ärger machen. Du wirst ihr helfen und immer auf sie hören.« Während sie meine Anweisungen wiederholte, zog ich langsam meine Energie zurück, wie eine Welle, die ins Meer zurückgesogen wurde und nur die Nachwirkungen der Flut hinterließ. Danach brauchte ich sie nur noch mit Nerissa fortzuschicken, die versprach, uns am nächsten Morgen anzurufen. Als ich die Tür hinter ihnen schloss, legte Camille mir eine Hand auf die Schulter.
»Anna-Linda wird es bei Siobhan besser haben«, sagte sie. »Wir sind nicht dafür geeignet, uns um ein Kind zu kümmern, das weißt du doch.«
Ich starrte auf die stille Tür. »Dieses Mädchen ist schon lange kein Kind mehr. Anna-Linda hat Dinge gesehen und getan, die einem Kind wirklich erspart bleiben sollten.« Bilder von Dredge standen mir plötzlich vor Augen. Ich war nicht sein einziges Opfer. Zweifellos hatte es jede Menge Anna-Lindas gegeben, an denen er seine perversen Neigungen ausgelebt hatte. Ich hatte Glück gehabt – ich war älter und eher fähig gewesen, mit den Nachwirkungen fertig zu werden, als so ein junges Mädchen.
Camille schluckte. Ihr Blut war heiß heute; ich konnte ihre Wärme sogar von hier aus spüren. Und ihre Emotionen flackerten in ihrer Aura. Sie war zornig, sie wollte mit der Wilden Jagd durch die Welt hetzen, aufspüren, zerstören. Aber sie sagte nur: »Ich weiß, Menolly. Deshalb tun wir das, was wir tun.«
»Ich gehe heute früher in den Wayfarer, es sei denn, Chase hat irgendwelche Neuigkeiten über die vermissten Vampire. Vielleicht bekomme ich dann mal ein paar Gesichter zu sehen, die ich sonst verpasse, weil ich immer die Spätschicht mache. Mal sehen, was ich herausfinden kann.« Als ich meine Lederjacke überzog – nicht gegen die Kälte, sondern weil sie mir gut stand und mich in der Bar härter aussehen ließ –, hielt Camille mich zurück.
»Du hast das Richtige getan, Menolly. Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen.«
Ich schnaubte leise und erzählte ihr wieder die Lüge, die ich mir und allen anderen immer wieder auftischte. »Ich empfinde keine Schuld mehr. Eigentlich.«
Als ich zur Tür hinausging, flüsterte sie gerade so laut, dass ich sie noch hören konnte: »Schon klar. Aber falls doch, denk daran – Schuldgefühle sind ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Wir müssen alles nutzen, was sich uns bietet, um den Angriff der Dunkelheit abzuwehren.«
Ich nickte energisch und dachte im Stillen, dass meine älteste Schwester sich allmählich in einen Klon von mir verwandelte – und das machte mir Sorgen. Lautlos wie tanzende Schatten schoss ich die Stufen hinunter zu meinem Jaguar. Camille hatte natürlich recht. Ich hatte Anna-Linda gerettet. Warum hatte ich dann das Gefühl, sie verraten zu haben?
Ein Schwall vön Lärm schlug mir ins Gesicht, als ich durch die Tür des Wayfarer trat. Die Unterhaltung mischte sich mit der Musik zu einer gewaltigen Kakophonie, die donnernd von den Wänden widerhallte. Seit ein paar Wochen war hier immer mehr los, und inzwischen war die Bar die ganze Nacht lang voll. Das war auch gut so, denn der AND bezahlte uns kein Gehalt mehr – wir mussten unser echtes Geld jetzt also durch unsere Scheinjobs verdienen.
Jeder Tisch, jede Sitznische war besetzt. Der Wayfarer war von einer ruhigen Zuflucht für Besucher aus der Anderwelt zum angesagten Treffpunkt für allerlei Volk geworden, von Feen über die Wergemeinde der Erdwelt bis hin zu VBM.
Ich glitt hinter die Theke, und Luke – ein Werwolf, den ich erst kürzlich eingestellt hatte – warf mir einen dankbaren Blick zu.
»Mann, bin ich froh, dich zu sehen. Jede Nacht ist hier mehr los. Meinst du, wir könnten einen weiteren Barkeeper anheuern?« Er strich sich eine wilde Locke aus der Stirn. Er war Mitte dreißig und sehr süß.
Obwohl Luke ziemlich klein war – kaum eins siebzig groß – schimmerten seine Muskeln an genau den richtigen Stellen. Sein weizenfarbener Pferdeschwanz reichte ihm bis zur Taille. Eine lange Narbe zog sich über sein Gesicht, zackig und verblasst, offensichtlich eine alte Wunde. Ich wusste nicht, wie er sich die zugezogen hatte, und ich würde ihn auch nicht danach fragen. Luke würde es mir schon erzählen, wenn er das wollte. Mich interessierte nur, dass er in Rekordzeit eine Runde Drinks einschenken konnte, über die sich noch nie jemand beschwert hatte.
Ich band mir die Schürze um und nahm die nächste Bestellung auf. Zwei Long Island Ice Teas, ein Kryptiden-Pils und ein Feuerspucker – eine Spezialität aus der Anderwelt, die viel zu viel Alkohol und ein Streichholz beinhaltete. Als ich den Anaditbranntwein aus dem Regal zog, ließ ich kurz den Blick durch den Raum schweifen. Dann stellte ich abrupt das Schnapsglas, das ich gerade hatte füllen wollen, auf die Theke.
»Luke, ist heute Abend irgendetwas Ungewöhnliches passiert?« Etwas Böses hing in der Luft, irgendetwas stimmte nicht, und es fühlte sich gar nicht gut an.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Allerdings musste ich vor ungefähr einer Stunde eine Prügelei auflösen.« Mit einem Nicken lenkte er meine Aufmerksamkeit auf eine der Sitznischen. »Siehst du den Kerl da in der Nische?«
Der Mann, den Luke mir zeigte, sah aus wie eine AnderweltFee, aber er hatte etwas Seltsames an sich. Er wirkte wie aus einer anderen Welt, aber gewiss nicht der der Feen.
»Ja, was ist mit ihm?« Ich sprach mit leiser Stimme. Es war unwahrscheinlich, dass mich irgendjemand bei diesem Lärm belauschen konnte, aber ich wollte nichts riskieren. Fast alle Übernatürlichen hatten ein hervorragendes Gehör, und man konnte nie wissen, wer sich gerade in der Bar aufhalten könnte.
»Plötzlich sehe ich diesen Kerl vor dem Tisch in der Nische stehen. Ein anderer Typ taucht auf, und die zwei geraten in Streit. Laut und richtig hässlich. Ich bin nicht sicher, worum es bei dem Streit ging, aber ich sage dir, dieser Kerl macht mir Angst. Ich habe die Waffe hervorgeholt und war auf dem Weg zu ihnen, um sie zu trennen, als der andere Typ plötzlich verschwindet. Puff!«
Scheiße. Teleportation?
»Und der da setzt sich hin. Also gehe ich hin, um seine Bestellung aufzunehmen und ein Gefühl dafür zu bekommen, was da los ist. Verdammt, Menolly, ich habe einen solchen Schiss gekriegt, dass ich Chrysandra mit seinem Drink hingeschickt habe. Sie ist zurückgekommen mit einem Lächeln, als hätte sie gerade einen Joy Juice gekippt. Der Kerl hat ihr zwanzig Dollar Trinkgeld gegeben.«
Luke hatte eine hohe Angstschwelle – die Tatsache, dass dieser Fremde ihm so unheimlich war, sollte mir eine deutliche Warnung sein.
»Zwanzig Dollar Trinkgeld? Was hat er denn bestellt?«
»Nichts Exotisches. Einen Cognac, weiter nichts.« Luke zögerte und blickte verwirrt drein.
»Was? Was hast du mir noch nicht erzählt?«
»Das hört sich ziemlich verrückt an, obwohl einen bei unseren Gästen eigentlich nichts mehr wundern dürfte.« Er blinzelte und sah mich offen und ohne Angst an. Es gefiel mir, dass er sich nicht vor mir fürchtete. Allerdings hatte er mich noch nie mit ausgefahrenen Reißzähnen gesehen.
»Ach, Herrgott noch mal... erzähl mir einfach, was passiert ist. Du weißt doch, mit wem du hier sprichst. Ich werde dich nicht für verrückt halten.« Ich verschränkte die Arme und wartete.
»Okay, es war so. Als ich seine Bestellung aufgenommen habe... Menolly, du weißt, dass ich auf Frauen stehe. Du weißt, dass ich absolut hetero bin, aber verflucht – ich wollte zu dem Kerl auf die Bank kriechen und ihn abknutschen. Und dann hat er mir direkt in die Augen gesehen und gesagt: ›Richte der hübschen Lady, der diese Bar gehört, aus, dass ich mit ihr sprechen möchte.‹«
Ich runzelte die Stirn. Kein Wunder, dass der Kerl Luke so unheimlich war. Denn wenn Luke sagte, dass er absolut hetero war, dann übertrieb er damit nicht. Er war beinahe homophobisch, so sehr, dass ich mich schon gefragt hatte, ob er nicht doch latent homosexuell sei.
»Der Fremde will also mit mir reden?« Eine fremde Fee – das allein ließ meine Alarmglocken schrillen. »Ist dir sonst noch was aufgefallen? Irgendetwas?«
Luke runzelte die Stirn. »Lass mich überlegen... ja... Ich habe ihn nicht reinkommen sehen.«
»Na ja, das ist nicht ungewöhnlich. Du hast viel zu tun, die Bar ist voll.«
»Ja, aber trotzdem – ich habe die Tür sehr genau im Auge behalten, weil Tavah bald kommen sollte und ich sie bitten wollte, mir was vom obersten Regalbrett im Lager zu holen. Ich wollte sie nicht verpassen.« Er hielt inne und wischte die Bar mit seinem Tuch ab. »Und auf einmal prügeln sich die zwei. Keiner von den beiden war vorher in diesem Raum. Das garantiere ich dir.«
Ich vertraute Luke und seiner Beobachtungsgabe. Und je länger ich den Mann in der Sitznische anstarrte, desto klarer wurde mir, dass er ebenso wenig eine Fee war wie Luke.
»Verdammt will ich sein«, sagte ich, als eine Erkenntnis sich kribbelnd in meinem Hinterkopf ausbreitete.
»Stimmt was nicht?«
»Bei meinem Glück? Vermutlich. Ich will mal mit dem Kerl reden.« Ich reichte Luke die halbfertige Bestellung, die ich gerade eingeschenkt hatte, und schob mich durch das Gedränge zu der Nische. Die meisten Gäste kannten mich und machten mir hastig Platz. Mein Ruf war in Granit gemeißelt, und hier war allgemein bekannt, dass ich ein Vampir war. Niemand machte mir Ärger, und während meiner Schicht brauchten wir nicht einmal einen Rausschmeißer, weil alle zu viel Angst vor mir hatten.
Als ich die Nische fast erreicht hatte, konnte ich einen Blick auf den Mann werfen. Er war keine Fee, jedenfalls nicht so richtig, und ganz sicher kein Sidhe, aber er hatte etwas Wildes an sich; vermutlich gehörte er irgendeinem gefährlicheren Zweig der Feenfamilie an. Er machte schmale Augen und musterte mich von oben bis unten, neigte aber nur leicht den Kopf und sagte kein Wort.
»Ich habe gehört, du suchst mich«, sagte ich und zog mir einen Stuhl heran. Ich drehte ihn um und setzte mich rittlings darauf, ans Kopfende des Tisches in der Sitznische. »Und ich habe gehört, dass es vorhin Ärger gab. Luke war so weit, zur Waffe zu greifen. Ich mag es nicht, wenn Luke gezwungen ist, die Pistole auszupacken, also solltest du mir vielleicht erzählen, was da los war.« Ich lächelte ihn kurz an und fuhr dabei die Reißzähne aus, gerade so weit, dass er die Spitzen sehen konnte. »Und mir sagen, wer du bist.«
Der Mann blinzelte zweimal und straffte dann die Schultern. Er trug einen langen schwarzen Kutschermantel aus Leder, dunkelblaue Jeans und einen grauen Rollkragenpulli; das brünette Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und seine Augen waren grün und schimmerten vor Magie. »Ich heiße Roz.«
Nun war ich an der Reihe, ihn gründlich zu mustern. »Du kommst aus der Anderwelt, nehme ich an? Welchem Bündnis gehörst du an?«
Er lächelte schief. »Keinem. Ich bin Söldner. Ich arbeite für den Meistbietenden, und derzeit stehe ich in Diensten.«
Ich beugte mich vor, denn der selbstzufriedene Ausdruck, der in seinen Augen aufblitzte, machte mich misstrauisch. »Dann solltest du mir lieber erzählen, wer dich angeheuert hat, sonst könnte ich noch beschließen, dich aus der Bar zu werfen. Es gibt gewisse Gruppen aus der Anderwelt, die im Wayfarer nicht willkommen sind.«
Roz schnaubte. »Bei mir kannst du dir deine Tricks sparen. Ich weiß, wer du bist, ich weiß, was du bist, und das alles ist mir völlig gleichgültig. Ich stehe nicht in Diensten der Opiumfresserin. Sie ist die geringste unserer Sorgen... aber das weißt du ja.«
Er schwang sich von der Sitzbank und stolzierte zur Jukebox hinüber, wo er einen Vierteldollar einwarf und einen Song auswählte. Er drehte sich zu mir um, streckte die Hand aus und wies mit einem Nicken auf die Tanzfläche.
Ich fühlte mich, als ginge ich durch dichten Nebel, und erreichte ihn, als das industrielle Wummern von Yoko Kannos »Lithium Flower« einsetzte. Roz nahm meine Hand, führte mich auf die Tanzfläche und zog mich an sich, während der Beat uns in einen elektronischen Gewittersturm einhüllte. Er schlang die Arme um meine Taille und senkte den Kopf, um das Gesicht an meinem Hals zu bergen. Der Geruch seines nach Cognac duftenden Atems, sein Pulsschlag, der durch seine Finger raste, all das berauschte mich. Er schwankte im Takt der Musik, zog mich mit sich, schmiegte die Hüften an meine.
»Warum bist du hier?«, flüsterte ich, denn ich wusste, dass er mich verstehen konnte, obwohl die Musik alles unter sich begrub.
»Königin Asteria hat mich angeheuert und hierhergeschickt, damit ich euch helfe. Ich bin Kopfgeldjäger. Meine Spezialität sind Vampire und Höhere Dämonen.«
Immer noch hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas an ihm nicht stimmte. Ich stellte mich ganz auf ihn ein und versuchte, seine Energie zu erspüren. Und dann wusste ich es. »Keine Fee. Du bist ein Minderer Dämon.«
Er neigte den Kopf zur Seite. »Ach, wirklich?«
Ich musterte sein Gesicht und spürte den Charme, der aus jeder Pore durch seine Aura drang. Sehr wenige Dämonen verfügten über einen solchen Glamour. Ich ließ mir die Kategorien durch den Kopf gehen, und dann ging mir ein Licht auf. »Du machst wohl Witze. Königin Asteria hat uns einen Incubus geschickt?«
Er schnaubte. »Hast du ein Problem damit?«
Ich stieß ihn auf Armeslänge von mir. Wenn man versuchte, die Kontrolle über sich zu behalten, führte man keinen Teufel in Versuchung. Als Vampir war ich gegen den Charme vieler Wesen immun, aber ein Incubus – und vor allem dieser hier... nun ja, für so zuverlässig hielt ich meine Selbstbeherrschung dann doch nicht. Und ich mochte gar nicht daran denken, was er bei Camille anrichten könnte. Sofort war ich fest entschlossen, diese Möglichkeit im Keim zu ersticken, ehe sie eine Chance hatte, Blüten zu treiben.
»Abgesehen von der Tatsache, dass du ein Dämon... «
»Das bist du auch.« Er war auf Zack, das musste ich ihm lassen.
Ich hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Abgesehen von der Tatsache, dass du ein Dämon bist? Also, du hast bereits eine Prügelei in meiner Bar angefangen, obwohl du noch keine vierundzwanzig Stunden hier bist. Richtig?«
Er schüttelte den Kopf. »Stimmt. Woher weißt du das?«
»Du riechst noch nach der Anderwelt.« Und das tat er. Ich konnte den Duft von Sternbeeren-Blüten und Ushabäumen an ihm riechen. Er musste durch ein Portal irgendwo im Süden gekommen sein. »Na toll. Also, ist Roz dein richtiger Name?« Ich bedeutete ihm, mir an die Bar zu folgen.
Er gehorchte, doch ich ertappte ihn dabei, wie seine Mundwinkel sich zu einem selbstzufriedenen Lächeln verzogen. Incubi waren nicht immer böse; wenn Königin Asteria also fand, dass er seine guten Seiten hatte, dann stimmte das vermutlich. Aber sie schafften es immer, Chaos zu verbreiten, wo sie gingen und standen. Mit ihrem Charme kriegten sie so ziemlich jeden rum, Hetero oder Homo. Dazu gehörten auch zahllose Ehemänner, die einem Incubus alles durchgehen ließen, sogar dass er es mit ihrer Frau trieb. Incubi waren dazu veranlagt, sich und anderen Genuss zu bereiten.
Der Incubus starrte mich einen Augenblick lang an und zuckte dann mit den Schultern. »Mein Name ist Roz – eine Abkürzung für Rozurial.«
»Warum jagst du deinesgleichen?« Ein Dämon, der andere Dämonen jagte, machte mich misstrauisch, obwohl man mir streng genommen wohl dasselbe vorwerfen konnte.
»Ich will mich schützen, und ich mag Geld«, sagte er. »Außerdem bringe ich ja nicht meinesgleichen zur Strecke. Meist bin ich hinter Höheren Dämonen und Vampiren her. Ich bin schon seit siebenhundert Jahren in dem Geschäft und reise zwischen der Anderwelt und der Erde hin und her, weil ich einen ganz bestimmten Vampir suche. Ich hatte ihn in der Anderwelt schon aufgespürt, aber als ich in sein Nest eingedrungen bin, war er weg. Seine Spur führte mich zur Elfenkönigin. Sie hat mich angehört – im Beisein eines Wahrsehers, wie ich hinzufügen möchte – und mich dann zu dir geschickt.« Sein ernster Blick gab mir das Gefühl, gefährlich nah am Rand eines Abgrunds zu stehen.
Ich kannte die Antwort auf meine nächste Frage schon, ehe ich sie stellte. Aber dies war einer dieser Augenblicke, in denen ich, so dumm es auch sein mochte, absolute Gewissheit brauchte. »Von welchem Vampir sprichst du?«
Roz beugte sich über die Bar und sagte mit einer Stimme, so kalt wie meine Haut: »Muss ich dir das wirklich buchstabieren? D-R-E-D-G-E... die Geißel der Welten.«
Ich lehnte mich an die Bar, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen. Königin Asteria hatte uns gewarnt, es sei möglich, dass der Elwing-Clan zu uns unterwegs wäre. Nun sah es ganz so aus, als hätte sie recht damit. Warum sonst hätte sie uns diesen Kopfgeldjäger schicken sollen?
»Und du bist ganz sicher, dass er die Grenze überquert hat?«
»Er und ein paar von seinen räudigen Anhängern, angeführt von diesem verrückt gewordenen Stück Natur, das ihr bei der Königin abgeliefert habt.« Auf meinen überraschten Blick hin hob er die Hand. »Ich weiß alles über die allgemeine Situation. Und ich weiß, dass Dredge dich in seiner Gewalt hatte. Ich weiß, was er seinen Opfern antut, Menolly. Aber dich hat er verwandelt. Meine Schwester, meine Mutter und meinen Bruder hat er einfach weggeworfen, nachdem er sich mit ihnen amüsiert hatte. Vor siebenhundert Jahren hat er sie ausgesaugt, buchstäblich in Stücke gerissen und die Überreste an ein Rudel Höllenhunde verfüttert. Ich hatte mich auf dem Dachboden versteckt und habe alles durch die Spalten zwischen den Dielenbrettern mit angesehen. Da war ich sieben Jahre alt. Ich habe alles gesehen.«
Er sagte die Wahrheit. Ich sah es in seinem Gesicht und hörte es in seiner Stimme. Dredge hatte seine Familie ausgelöscht.
»Du warst damals noch kein Incubus, nicht wahr?«
Roz schüttelte den Kopf. »Nein, aber das ist eine Geschichte, die wir uns für ein andermal aufheben.«
»Dann haben wir etwas gemeinsam.« Ich straffte die Schultern und schaute zum vorderen Fenster hinaus in die dunkle, verschneite Nacht. »Weißt du, wo er ist?«
»Noch nicht«, sagte Roz. »Aber ich habe vor, es herauszufinden.«
»Wag es nicht, ihn zu töten«, sagte ich. »Wag es ja nicht, ihn zu Staub zerfallen zu lassen – ich will es sein, die ihm einen Pflock durchs Herz treibt. Deine Familie ist ermordet worden, und ich verstehe deinen Schmerz. Aber sie sind jetzt bei euren Ahnen. Ich bin noch hier, und ich weiß ganz genau, was Dredge seinem Spielzeug antut. Das kann ich niemals vergessen.« Ich überlegte kurz. »Wer war der Kerl, mit dem du dich vorhin geprügelt hast? Luke hat gesagt, er hätte sich einfach in Luft aufgelöst.«
Roz lächelte verlegen. »Vampir aus der Stadt. Seine Tochter lebt noch, und ich habe mit ihr geschlafen, weil ich dachte, ich könnte von ihr mehr darüber erfahren, wo hier die SubkultClubs sind. Aber alles, was ich bekommen habe, waren ein paar böse Blutergüsse, als ihr Vater plötzlich in ihrem Schlafzimmer aufgetaucht ist. Wie sich herausstellte, wusste sie gar nicht, dass er ein Vampir ist; er hat gut über sie gewacht. Hat mich mit einem Tritt aus dem Haus befördert und ist mir dann gefolgt, um noch mal nachzutreten und mich zu warnen: Wenn ich seine Tochter noch mal anfasse, würde er einen Protektor herbeirufen, der mich so schnell und so tief in die Unterirdischen Reiche hinabsaugen würde, dass ich nie wieder freikäme.«
Ich blinzelte. Nein, so was... ein Vampir, der einen Protektor beschwören konnte? Normalerweise hatten nur Magi oder Hexen der höchsten Ebenen Zugang zu diesen spirituellen Wachhunden, und sie wurden oft dazu eingesetzt, unerwünschte Geschöpfe aus den U-Reichen zu fangen und zu deportieren. Hatten wir hier einen Vampir herumlaufen, der Zugriff auf solche Magie hatte? Darüber würde ich unbedingt mit Wade sprechen müssen.
»Also, haben wir eine Abmachung? Wir arbeiten zusammen, um Dredge zu finden. Wenn wir ihn haben, überlasse ich dir die Ehre, ihn zu erledigen, aber ich darf dabei zuschauen.« Aus Roz’ Lächeln zu schließen, war er vollkommen sicher, dass ich ja sagen würde. Unwillkürlich erwiderte ich das Lächeln. Ich traute ihm nicht, aber an dem alten Sprichwort war schon was dran – der Feind meines Feindes ist mein Freund.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich. »Aber ich habe eine Bedingung. Und ich will deinen Eid darauf, sonst kannst du auf der Stelle zu dieser Tür hinausspazieren und weiterhin in Schlafzimmern nach Hinweisen auf Dredges Versteck suchen.«
»Und die wäre?« Roz lehnte sich an die Theke und verschränkte die Arme. Er zwinkerte mir zu, aber ich ignorierte seine Anmache. Es lag einfach in der Natur eines Incubus, jede Frau in seiner Reichweite verführen zu wollen. Er würde jedenfalls keine Gelegenheit bekommen, mich seiner zweifellos ellenlangen Liste von Eroberungen hinzuzufügen.
»Meine Schwestern – sie sind sehr schön. Du lässt sie in Ruhe. Wenn ich herausfinde, dass du auch nur versuchst, eine von ihnen zu verführen, sorge ich dafür, dass du sofort von der Erdwelt verschwindest und in die U-Reiche abgeschoben wirst. Wir haben schon genug Ärger, auch ohne einen Incubus, der die Hände nicht bei sich behalten kann.«
Er schnaubte. »Aber wenn sie den ersten Schritt machen... «
»Dann wirst du ihnen höflich sagen, dass du dich geschmeichelt fühlst, und dankend ablehnen. Kapiert?« Ich stemmte die Hände in die Hüften, beugte mich vor und lächelte ihn an, um ihm die Spitzen meiner Reißzähne zu zeigen.
Hüstelnd straffte er die Schultern. »Kapiert. Kein Problem. Also, wann lerne ich diese wunderbaren Leckerbissen kennen?«
»Sobald ich Feierabend habe«, brummte ich. »Und jetzt setz dich wieder zu deinem Drink.« Als er sich abwandte, hielt ich ihn auf. »Ach, übrigens, wie bist du eigentlich durch das Portal gekommen, ohne dass wir etwas davon gemerkt haben?«
Da lachte Roz aus voller Kehle. »Ich habe doch nicht das Portal im Wayfarer benutzt. Sagen wir einfach, wir Incubi haben unsere eigenen Transportmöglichkeiten.« Damit winkte er mir zu und kehrte zu seiner Sitznische zurück.
Sobald es ging, rief ich zu Hause an, um meinen Schwestern von Roz zu erzählen und sie zu fragen, ob wir uns lieber in der Stadt treffen wollten oder ob ich ihn mit nach Hause bringen sollte. Camille und Delilah fanden es sicherer, in die Stadt zu kommen und sich nach Feierabend mit ihm hier zu treffen. Er musste nicht unbedingt wissen, wo wir wohnten, zumindest so lange, bis wir ihn besser einschätzen konnten. Sie tauchten gegen zwei Uhr früh auf – Sperrstunde im Wayfarer – und ließen sich in einer Sitznische nieder.
Ich sah genau, dass Roz sie musterte, aber als ich ihm einen finsteren Blick zuwarf, wandte er sich wieder seinem zweiten Cognac zu. Während Chrysandra und ich die letzten Gläser wegräumten und die Bar und die Tische abwischten, hörte ich plötzlich ein Geräusch an der Tür. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, abzuschließen, sondern nur das Schild von OFFEN auf GESCHLOSSEN umgedreht. Die Tür flog auf, und als ich den Mund öffnete, um zu verkünden, wir hätten schon geschlossen, sah ich Chase und Sharah in der Bar stehen.
»Was ist los?« Ich eilte zu ihnen hinüber. Beide waren etwas grün im Gesicht, und Chase sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. Ich führte ihn zu einem Stuhl, und Delilah eilte zu uns und kniete sich vor ihn hin. Camille sauste hinter die Theke und holte ihm ein Glas Eiswasser.
Während er versuchte, die Fassung wiederzugewinnen, und in winzigen Schlucken das Wasser trank, blickte Sharah mit gequälter Miene zu uns auf. »Die Vampire haben wieder zugeschlagen... «
»Verdammt, das hatte ich befürchtet. Moment mal«, sagte ich, »sprecht ihr von den ursprünglichen oder... «
»Oder den vier Neulingen?« Sharah verzog das Gesicht. »Wir wissen es nicht; beides wäre möglich. Soweit wir wissen, könnten die Neulinge sich ihren Meistern angeschlossen haben. Wie auch immer, wir haben drei weitere Tote im Autopsieraum, und ich fürchte, sie werden sich erheben. Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Kommt darauf an, wann sie getötet wurden. Kommt darauf an, wie sie getötet wurden und wie viel Blut ihres Meisters sie getrunken haben. Kommt«, sagte ich und warf den Putzlappen auf die Bar. »Chrysandra, machst du fertig sauber? Schließ die Tür ab, wenn wir weg sind, und ruf Togo an – er soll herkommen und dich zu deinem Auto begleiten. Wenn er meckert, richte ihm aus, dass ich ihm die Kehle herausreißen werde, wenn er seinen faulen Arsch nicht sofort hierherbewegt. Das ist kein Scherz.« Im Gegensatz zu Tavah war Chrysandra kein Vampir und nur allzu verletzlich. Sie nickte, den Blick starr auf die Theke gerichtet.
Camille, Delilah, Roz und ich folgten Chase und Sharah hinaus auf die Straße. Chase war mit einem SUV vorgefahren.
»Steigt ein, wir dürfen keine Zeit damit verlieren, dass jeder erst zu seinem Auto läuft.« Die Tatsache, dass er nicht einmal fragte, wer Roz sei, sagte mir, dass Chase wirklich außer sich sein musste. Er war sonst die Vorsicht in Person.
Wir quetschten uns auf den Rücksitz, und Sharah stieg vorn mit ein. Auf dem Weg zum AETT-Krankenhaus betete ich, dass sie sich geirrt hatten, dass nur irgendein gewöhnlicher Irrer beschlossen hatte, sich mal als Freddy Krueger zu versuchen. Das Letzte, was wir brauchten, war ein schnell wachsendes Nest blutrünstiger Vampire in der Stadt. So etwas ließ sich nicht lange geheim halten.
Als Chase einen Schalter umlegte und die Sirene zu heulen begann, warf ich Roz einen Blick zu. Er starrte mich an, und sein Gesichtsausdruck war so mörderisch, dass ich nur darum beten konnte, Dredge als Erste zu finden. Denn Roz’ Miene machte sehr deutlich, dass er nicht die Absicht hatte, Gefangene zu machen. Und bei meinem Meister wollte ich den ersten Stoß haben.