Kapitel 16
Als ich aufwachte, saß Camille im Schaukelstuhl in meinem Zimmer, einen nervösen Ausdruck auf dem Gesicht. Ich schüttelte den Kopf, um die letzten Spinnweben zu vertreiben. »Was ist los? Ich sehe dir an, dass es nichts Gutes ist.«
Sie runzelte die Stirn. »Da hast du recht. Komm mit nach oben – wir müssen eine richtige Besprechung abhalten. Chase ist hier, und Wade und Siobhan.«
Chase? Wade? Siobhan? Getrieben von Neugier, schlüpfte ich hastig in meine Klamotten und folgte ihr ins Wohnzimmer.
Und tatsächlich, da saßen Wade und Siobhan auf dem Sofa und unterhielten sich flüsternd. Iris und Maggie kuschelten in dem besonders niedrigen Schaukelstuhl, den wir für den Hausgeist angeschafft hatten. Shamas sprach in der Ecke mit Morio, während Delilah und Anna-Linda am Tisch Karten spielten.
Mir fiel auf, dass Anna-Linda völlig verändert aussah – ihr Gesicht war frisch gewaschen, sie trug neue Jeans, nicht mehr hauteng, und ein süßes T-Shirt. Und sie lächelte.
Aber es war Chase, der meine Aufmerksamkeit fesselte. Er barg den Kopf in den Händen, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er wirkte total zerknautscht – sehr ungewöhnlich für diesen Armani-und-Martini-Typ. Er blickte zu mir auf, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, und ich erschrak, als ich sah, dass er nicht nur zerzaust aussah, sondern mit blutunterlaufenen Augen den Eindruck machte, als müsse er sich gleich übergeben.
Camille zog sich einen Fußschemel heran und setzte sich neben ihn. »Also, fangen wir an.«
»Was ist passiert? Noch mehr Morde?«, fragte ich – die erste vernünftige Erklärung, die mir einfiel.
Chase schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste... jedenfalls noch nicht. Nein, es ist was Schlimmeres.«
»Was könnte schlimmer sein als eine weitere Serie von Morden?«
Bedauerlicherweise sollte meine Frage sofort beantwortet werden. Delilah warf mir die heutige Ausgabe des Seattle Tattler zu – eines dieser Boulevardblätter, die sie so mochte. Ich hätte mir damit nicht mal den Hintern abgewischt, na ja, falls ich so etwas noch hätte tun müssen, aber sie liebte die Klatschpresse.
Ich warf einen Blick auf die Schlagzeile. In kreischenden, riesigen schwarzen Lettern stand da: Vampire beherrschen Unterwelt von Seattle.
»Was zum Teufel... « Ich überflog den Wirrwarr aus erstaunlichen Geschichten von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt, bis ich den Artikel zur Schlagzeile fand. Als ich zu lesen begann, begriff ich, warum alle so außer sich waren.
Der bekannte Leiter des Anderwelt-Erdwelt-Tatort-Teams, hat offenbar die Aktivität eines Nests von üblen Vampiren vertuscht. Gerüchteweise heißt es, mehrere Einwohner von Seattle würden vermisst, und Seattles Star-Ermittler Chase Johnson hätte den Bluff des Jahrhunderts abgezogen und das Geflüster um Entführungen einfach ignoriert.
Wir beim Tattler haben Hinweise darauf, was wirklich passiert ist – dass diese vermissten, unschuldigen Stadtbürger in widerliche Blutegel der Nacht verwandelt wurden. So ist es, Leute – ihr wusstet, dass es sie gibt, aber wusstet ihr auch, dass Seattle etwa fünfundvierzig dieser gefährlichen Untoten beherbergt? Und wenn aufrechte Bürger und Steuerzahler plötzlich verschwinden, von wem erwarten wir dann, dass sie die Sache in die Hand nehmen? Die Polizei? Falsch gedacht.
Kylie Wilson, Vorsitzende der Aufrechte-Bürger-Patrouille, erklärt, ihre Gruppe habe sich mit den Freiheitsengeln verbündet und plane für die kommenden Monate Massendemonstrationen gegen die wachsende Bevölkerung der Übernatürlichen (auch als ÜW bekannt). »Wenn Gott gewollt hätte, dass die Übernatürlichen, wie sie sich selbst bezeichnen, in großer Anzahl existieren, dann wären wir alle als degenerierte Mutanten auf die Welt gekommen.«
Polizeichef Richard Devins antwortete auf die Frage nach den vermissten Personen mit der Behauptung, es gebe keine Verschwörung. »Bei uns ist niemand als vermisst gemeldet worden, und wenn wir uns dazu berufen fühlen würden, Morde zu vertuschen, wären wir nicht Tag für Tag da draußen auf der Jagd nach den bösen Jungs«, erklärte er heute Morgen. »Aber Sie können sicher sein, dass wir diesen Anschuldigungen nachgehen werden, um den Beweis zu erbringen, dass sie falsch sind. Bis dahin raten wir den Bürgern von Seattle dringend, nicht in Panik zu geraten.«
»Große Mutter, das könnte eine gewaltige Sauerei geben.« Ich legte die Zeitung weg und sah Chase an. »Warum sind unsere Neulinge nicht als vermisst gemeldet worden? Weiß jemand etwas davon?«
»Anna-Linda, wie wäre es, wenn wir in die Küche gehen und einen Happen essen?«, sagte Delilah.
Anna-Linda schnaubte. »Ihr wollt bloß nicht darüber reden, solange ich im Zimmer bin.« Sie schaute zu mir hinüber, sprang auf, rannte zu mir und schlang die Arme um meine Taille. »Danke. Danke, dass Sie mir geholfen haben!«
Verwundert warf ich Siobhan einen Blick zu, die hinter Anna-Lindas Rücken den Daumen hob. »Anna-Linda wird ab sofort bei ihrer Tante in Boise wohnen«, sagte sie. »Nerissa und ich haben herausgefunden, dass sie Verwandte dort hat. Und – Überraschung! – der Mann ihrer Tante ist... «
»Ich will es ihr sagen! Ich will es ihr sagen!« Anna-Linda hüpfte aufgeregt auf und ab.
Siobhan lachte. »Schön, nur zu. Erzähl ihr die guten Neuigkeiten.«
Anna wandte sich wieder mir zu. »Der Mann meiner Tante ist ein Werwolf. Sie haben Zwillinge, die sind vier Jahre alt. Darrin, der Junge, ist ein VBM, und seine Schwester Chrissie ein Werwolf. Ich kann ihnen auf dem Hof helfen, sie haben einen kleinen Milchbauernhof, und ich werde Tante Jean mit den Kindern helfen und reiten lernen und wieder zur Schule gehen.«
Ihre Augen strahlten, und ich hatte plötzlich einen gewaltigen Kloß in der Kehle – nicht wegen der schlimmen Dinge, die sie durchgemacht hatte, sondern weil sie so viel Glück hatte. Sie würde es schaffen, von der Straße wegzukommen. Anna-Linda würde es gut haben. Sie würde behütet aufwachsen, und, wenn sie noch etwas mehr Glück hatte, eine glückliche, gesunde junge Frau werden.
»Das freut mich sehr für dich«, sagte ich. »Ich nehme an, deine Mutter und deine Tante haben nicht viel Kontakt, hm?«
Anna-Lindas Lächeln fiel ein wenig in sich zusammen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, meine Mom sagt, dass Tante Jean langweilig und spießig ist und sie nicht versteht. Aber sie hat gesagt, es ist ihr egal, ob ich bei Tante Jean wohne oder nicht.«
Autsch. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es jemandem egal sein sollte, wo sein Kind lebte.
Siobhan legte Anna-Linda die Hände auf die Schultern. »Wie wäre es, wenn wir in die Küche gehen und uns um den Imbiss kümmern? Dann kann Delilah sich noch ein bisschen mit Menolly unterhalten.«
»Okay. Kann ich ein Erdnussbutter-Sandwich haben?« AnnaLinda hüpfte fröhlich in Richtung Küche.
Iris stand auf und setzte sich Maggie auf die Hüfte. »Ich komme auch mit. Es ist Essenszeit für Maggie, und du könntest mir helfen, sie zu füttern. Ich glaube, wir finden bestimmt noch ein paar Erdnussbutter-Plätzchen für dich, und dazu ein TruthahnSandwich und ein Glas Milch. Wie hört sich das an?«
»Juhu!« Anna-Linda verschwand in der Küche, gefolgt von Iris und Maggie.
Siobhan wartete, bis sie den Raum verlassen hatten, und drehte sich dann zu mir um. »Du hast Anna-Linda vor der Hölle auf Erden gerettet. Freu dich für sie... Du hast es möglich gemacht, dass sie in Geborgenheit groß und stark werden kann.« Sie wandte sich ab und folgte den anderen in die Küche.
Ich schluckte den dicken Kloß in meiner Kehle herunter. So lange hatte ich mich gefragt, ob ich überhaupt je etwas Gutes in der Welt bewirkte. Jetzt wusste ich es. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wandte ich mich wieder Chase zu.
»Was diese angeblich nicht vorhandenen Vermisstenmeldungen angeht... « Er schüttelte den Kopf. »Es sind drei eingegangen, aber ich habe es so gedreht, dass alle über mich laufen. Ich bin hingegangen, habe die Aussagen von Angehörigen und Freunden aufgenommen und sie wie verrückt vertröstet. Ich kann nur darum beten, dass keine der drei Familien, die einen Angehörigen als vermisst gemeldet haben, dieses Revolverblatt liest und auf irgendwelche Gedanken kommt.«
»Nicht zu fassen, dass sonst keiner von den Neulingen als vermisst gemeldet wurde. Das ist wirklich traurig.« Delilah sah entschieden unglücklich aus.
»Traurig, ja, aber bete lieber darum, dass das noch eine Weile so bleibt«, sagte Chase ein wenig säuerlich.
»Was hat dein Chef denn zu dem Artikel gesagt?«, fragte ich.
»Artikel? Das ist kein Artikel.« Chase schüttelte den Kopf, und sein Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Der Soziopath, der diesen Mist verfasst hat, hasst alle Fremden gleichermaßen, ob sie nun aus Mexiko kommen, vom Mars oder aus der Anderwelt. Also, Devins hat mir die Hölle heißgemacht, weil ich zugelassen hätte, dass so ein Gerücht überhaupt aufkommt. Er hat gesagt, ich solle die Sauerei beseitigen, bevor die Sache außer Kontrolle gerät, sonst könnte ich wieder Streife gehen.«
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Morio.
»Tja, ich könnte einen Widerruf erzwingen – ein Freund von mir hat großen Einfluss auf einige Anzeigenkunden dieses Schmierblatts und könnte finanziell mächtig Druck ausüben auf diesen... Wie heißt der gleich wieder? Der Kerl, der diesen Artikel geschrieben hat?«
»Andy Gambit«, sagte Delilah nach einem Blick auf die Zeitung.
»Richtig. Gambit. Er ist schon lange als Unruhestifter bekannt. Also, ich kann dafür sorgen, dass er einen Maulkorb verpasst bekommt, zumindest für eine Weile, aber Devins wird mir ab sofort ständig über die Schulter gucken.«
»Vermutet er, dass wir etwas damit zu tun haben?« Das Letzte, was wir brauchten, war, dass Devins Verdacht schöpfte und sich den AND mal näher ansah – na ja, das, was wir der Welt inzwischen als den AND verkauften. Aber zumindest in diesem Punkt konnte Chase mich beruhigen.
»Nein«, antwortete er. »Das ist für ihn nur eine weitere Möglichkeit, mich fertigzumachen. Es macht ihn verrückt, dass meine Idee mit dem AETT so große Unterstützung gefunden hat. Er hat versucht, mich zu zertreten wie ein lästiges Insekt, als ich den ersten Plan dafür vorgelegt habe, wisst ihr? Als der AND und Gouverneur Tomas die Sache offiziell gemacht und mir die Leitung übertragen haben... seitdem hat Devins es einfach auf mich abgesehen.«
Delilah ging zu ihm hinüber, beugte sich über seine Schulter, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn zärtlich auf die Wange. »Ist er deswegen immer so mies zu dir?«
»Ja«, antwortete Chase. »Wenn ich so darüber nachdenke, nehme ich an, dass er wohl neidisch auf mich ist. Mein Freund wird dafür sorgen, dass der Tattler Ruhe gibt, und ich werde mir irgendeinen Grund einfallen lassen, warum diese Leute verschwunden sind – aber Devins wird nicht davor zurückschrecken, diese Katastrophe auszunutzen und mich fertigzumachen.«
Verdammt, der arme Kerl sah so verloren aus, dass ich ihm am liebsten auch ein Küsschen gegeben hätte, aber das wäre wohl mehr gewesen, als er im Augenblick vertragen konnte.
Stattdessen sagte ich nur: »Wir wissen, wo Dredge ist – wir werden ihn heute Nacht erledigen. Er ist gefährlich, aber ich glaube, wir können es schaffen.« Ich wandte mich an Delilah. »Wenn er allerdings den Rest seines Clans bei sich hat, wird es einen verdammt harten Kampf geben, aber wir haben bisher nichts darüber gehört. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Könntest du einen Stadtplan von Seattle auf deinem Computer aufrufen? Dann kann ich vielleicht genau bestimmen, wo er sich versteckt.«
Delilah warf mir einen langen Blick zu. »Klar.« Sie klappte ihren Laptop auf und startete ihn. »Camille hat uns erzählt, was in Aladril passiert ist.« Ihre Worte hingen schwer in der Luft, belastet mit tausend Fragen und Kommentaren. Ich musste etwas unternehmen, ehe diese beiden anfingen, sich in jedem wachen Augenblick bei mir zu entschuldigen.
»Kätzchen, Camille, hört mal zu. Was Dredge mir angetan hat... nichts, was ihr sagt oder tut, könnte das ungeschehen machen. Aber es ist vorbei, und wir werden mit dem arbeiten, was wir jetzt haben.« Ich musste ihnen etwas von den Schuldgefühlen nehmen, die ich in ihren Augen sehen konnte. Die typischen Schuldgefühle der Überlebenden, unangebracht, aber gut gemeint. »Ich habe mich damit abgefunden, wer ich bin, und dank Jareth hat Dredge keine Kontrolle mehr über mich. Jareth hat mir das größte Geschenk gemacht, das mir irgendjemand hätte machen können.«
»Warum hast du uns nie davon erzählt?«, fragte Delilah, die nun eifrig auf der Tastatur herumtippte. »Wir wussten nicht, dass du mit so grauenhaften Erinnerungen leben musstest.«
»Und wenn ihr es gewusst hättet? Was hättet ihr denn tun können? Ich dachte, es sei besser, es einfach sein zu lassen.« Let it be... Die Beatles hatten das völlig richtig erkannt, dachte ich, obwohl ich ihre Musik nicht mochte.
Delilah öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Camille unterbrach sie. »Menolly hat recht. Wir hätten dasselbe getan, wenn es uns getroffen hätte. Menolly ist jetzt frei. Konzentrieren wir uns lieber auf die Gegenwart, denn ihr wisst verdammt gut, dass Dredge uns nicht mit offenen Armen empfangen wird. Mit offenem Maul vielleicht... «
»Hier, bitte«, sagte Delilah und stellte den Laptop auf den Couchtisch. »Ein Stadtplan der Innenstadt. Wenn du reinzoomen willst, klick mit der linken Maustaste und scroll dich weiter. Du kannst auch mit der Maus den Balken bewegen.«
Ich kniete mich vor den Couchtisch und schaute auf den Bildschirm. »Da«, sagte ich und fuhr mit der Fingerspitze den Alaskan Way entlang. Ich zoomte ein bisschen rein. »Okay, da ist es. Seht ihr dieses alte Lagerhaus hier? Da wohnt Dredge, direkt gegenüber vom Sushirama und diesem Deckhand-Denkmal. Ich vermute, er ist im zweiten oder dritten Stock, aber das kann ich euch genau sagen, wenn wir dort sind.«
Delilah spähte mir über die Schulter. »Dieses Lagerhaus ist jetzt das Halcyon, dieses Hotel mit Nachtclub.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Ich kenne den Besitzer – einer von diesen fehlgeleiteten Typen, die glauben, dass alle Übernatürlichen im Grunde gut sind und sie nur niemand richtig versteht.«
Wir alle kannten solche Leute, sowohl zu Hause in der Anderwelt als auch hier, Erdseits. Leute, die glaubten, dass alle Angehörigen ihrer besonders geliebten Gruppe grundsätzlich besser waren als andere. Den meisten wurde irgendwann das Herz gebrochen, wenn sie feststellen mussten, dass Menschen nur Menschen waren, Feen nur Feen, Übernatürliche nur Übernatürliche, und dass Gut und Böse nicht automatisch mit einer bestimmten Bezeichnung auf der Geburtsurkunde einhergingen.
»Lass mal sehen, was ich über das Hotel herausfinden kann«, sagte Delilah und öffnete ein weiteres Browserfenster. Während sie ihre Internetsuche begann, schlenderte ich zu Morio hinüber, der im Lehnsessel saß, Camille auf den Knien. Shamas hatte sich im Sessel gegenüber zurückgelehnt, einen weltfremden Ausdruck auf dem Gesicht.
»Wie geht es dir?«, fragte ich und setzte mich neben ihn. »Haben meine Schwestern dir erklärt, wie das Leben hier drüben so ist?«
»Ich habe den ganzen Morgen lang fern. . . gesehen«, sagte er unsicher. »Mir war nie bewusst, wie andersartig die Menschen sind. Ich hatte keine Ahnung, wie breit die Kluft zwischen uns im Lauf der Jahrtausende geworden ist. Ich dachte, die Menschen führen noch in Pferdewagen und kämpften mit Schwertern.«
»Wie wir zu Hause?«, erwiderte ich lächelnd. »Finde dich damit ab – wir haben Magie entwickelt, sie Technologie.«
Shamas lachte. »Da hast du recht. Aber wie habt ihr das geschafft? Wie habt ihr euch an diese gewaltigen Unterschiede angepasst? Ich weiß nicht, ob ich das könnte – die ganze Zeit unter Kopfblinden zu wandeln.«
Ich starrte ihn an und war mir bewusst, dass auch Delilah und Camille bei diesem Kommentar aufgeblickt hatten. Mir machte das nicht so viel aus, aber ich wusste, dass jede abfällige Bemerkung eines Angehörigen des Feenvolks – Verwandter oder Fremder – über VBM meine Schwestern tief traf.
Ich stand auf, beugte mich vor und verpasste ihm eine schnelle, aber kräftige Ohrfeige. »Shamas, mein Lieber, eines solltest du besser nicht vergessen. Unsere Mutter war menschlich. Ein Vollblutmensch. Damit sind wir drei halb menschlich. Unter den Kopfblinden zu wandeln, ist auch nicht anders, als sich unter aufgeblasenen Eseln bewegen zu müssen, die sich auf ihre Magie verlassen statt auf ihren Verstand. Kapiert?« Ich fügte noch ein kleines Fauchen hinzu, um die kaum verhohlene Drohung zu unterstreichen.
Er blinzelte, sah meine Schwestern an und dann wieder mich. »Entschuldigung.« Er senkte den Kopf. »Ich habe nicht daran gedacht, wie sich das für euch anhören musste. Ich habe wohl einfach Angst. In der Anderwelt finde ich mich überall zurecht, aber da darf ich mich so bald nicht mehr blicken lassen. Und hier... ich weiß nicht, wie man hier überlebt. Ich habe es nicht böse gemeint.«
»Tja, eine Menge unserer Verwandten haben sich für ihre Beleidigungen nie entschuldigt«, brummte Delilah. »Hier müssen wir uns das wenigstens nicht gefallen lassen – dies ist unser Zuhause.« Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, und ich konnte ihre Aura schimmern sehen – das erste Anzeichen einer Verwandlung.
»Kätzchen, beruhige dich. Du kannst dich jetzt nicht verwandeln, dafür haben wir keine Zeit.« Ich warf Shamas einen finsteren Blick zu. »Reg sie nicht so auf. Sie ist sehr empfindlich, was Kritik aus der eigenen Familie angeht.«
»Ist schon gut, Süße«, sagte Chase und legte Delilah eine Hand aufs Knie.
Delilah warf Shamas einen Seitenblick zu. »Ich packe das schon.« Aber ich hörte sie leise etwas brummen, das sich verdächtig nach »Fick dich doch« anhörte.
»Können wir uns jetzt wieder um Dredge kümmern?« Ungeduldig schwebte ich zur Decke hinauf. Hoch über dem Boden fühlte ich mich immer etwas besser. »Delilah, hast du schon etwas gefunden?«
Delilah nickte. »Ja, passt auf. Vor sechzig Jahren war das Halcyon ein Holzlager. Die großen Lastkähne brachten das Holz von der Halbinsel, wo fleißig Bäume gefällt wurden. Vor dreißig Jahren, als die Holzindustrie praktisch vor die Hunde ging, wurde es zu einem gewöhnlichen Lagerhaus. Vor vier Jahren hat Exo Reed es gekauft, so, wie es damals war, und es zum Halcyon Hotel and Nightclub umgebaut. Gäste sind in erster Linie Erdwelt-ÜW und ein paar Besucher aus der Anderwelt. Soweit ich sehen kann, hat er keine Verbindung zum AND. Hm... ist als Vier-Sterne-Hotel gelistet.«
»Und Exo Reed?«, fragte Morio.
»Lykanthrop. Engagiert sich an mehreren Fronten – ÜWRechte, die NRA... «
»Kinder? Verheiratet?«, fragte Chase.
»Ja, er ist verheiratet. Drei Kinder. Da steht außerdem, Exo sei der Vorsitzende des Jagdverbands von Seattle.«
»Na toll, das hat uns gerade noch gefehlt. Ein Strippenzieher mit einem Jagdgewehr, der sich bei Vollmond in einen Werwolf verwandelt«, brummte Chase.
Ich versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, aber es gelang mir nicht. Camille und Delilah sahen mich fragend an.
»He, der Mann hat nicht ganz unrecht«, sagte ich. »Lykanthropen können bei Vollmond ziemlich schießwütig werden. Aber da Exo so ein aufrechter Geschäftsmann und Familienvater ist, halte ich es für unwahrscheinlich, dass er Dredge ein Zimmer geben würde, wenn er wüsste, was für ein krankes Monster er in Wahrheit ist, was meint ihr?«
»Vor allem, da er und seine Familie in dem Hotel wohnen.« Delilah warf einen Blick auf eine weitere Website. »Okay, mehr kann ich auf die Schnelle nicht finden.«
»Dann denke ich, wir sollten dem Halcyon Hotel einen kleinen Besuch abstatten.« Ich sprang auf und schnappte mir meine Schlüssel. »Wer fährt mit?«
Delilah klappte ihren Laptop zu. »Ich fahre bei Chase mit.«
»Camille und ich fahren zusammen«, sagte Morio, während meine Schwester von seinem Schoß rutschte und ihr Kleid glatt strich.
»Kann ich mitkommen?«, fragte Shamas.
»Nein, du bleibst hier bei Iris. Du bist noch nicht bereit für die Art von Kampf, die uns bevorsteht. Verdammt, wenn doch nur Trillian schon wieder aus... « Ein Klopfen an der Tür unterbrach mich. »Ich gehe schon.«
Als ich die Tür öffnete, fegte ein kalter Windstoß Schnee herein, gefolgt von Roz, der sich ein blutiges Handtuch an den Hals drückte.
»Scheiße, schnell rein mit dir!« Ich scheuchte ihn ins Wohnzimmer. »Er ist verletzt. Holt Wasser und Verbände, ich... « Ich hielt plötzlich inne und wich zurück. Sein Blut roch wie der Nektar der Götter, und eine Woge von Hunger überrollte mich. Ich konnte kaum den Blick von diesem blutgetränkten Handtuch abwenden. »Camille... «
Sie hörte das Zittern in meiner Stimme und eilte sofort zu mir. »Geh da rüber in die Ecke und schau aus dem Fenster, bis du dich im Griff hast. Delilah, sag Iris, sie soll dir helfen – wir brauchen Handtücher, Wasser und Verbände. Na los!«
Während Delilah in die Küche eilte, zwang ich mich, zum Fenster zu gehen und in die dunkle Nacht hinauszustarren. Ich bemühte mich, den verlockenden Duft zu ignorieren. Ein paar Augenblicke später konnte ich mich wieder konzentrieren.
»Was ist passiert? Bist du schwer verletzt?«, fragte ich, drehte mich aber sicherheitshalber noch nicht um.
»Ja«, kam die heisere Antwort. »Ich habe sie gefunden. Ich glaube, das war nicht Dredges Versteck, aber die Neulinge waren dort. Und dieses komische Pflanzenwesen, das ihr Wisteria nennt.«
»Wisteria? Du hast sie gefunden? Wo zum Teufel steckt sie?« Ich fuhr herum. Anblick und Geruch seines Blutes spielten jetzt keine Rolle mehr – nicht wenn dieses kleine Miststück in unserer Reichweite war.
Roz blickte in mein Gesicht und starrte mich dann erstaunt an. »Was zum Teufel ist denn mit dir los? Du siehst völlig verändert aus«, sagte er. »Ruhiger, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Das ist jetzt egal. Glaub mir einfach, dass ich Dredge jetzt gegenübertreten und ihn auch besiegen kann. Erzähl uns alles.«
Delilah kehrte zurück, gefolgt von Iris; sie schleppten eine Schüssel mit warmem Wasser, mehrere Tücher und den ErsteHilfe-Kasten herein.
»Ich habe mich noch mal genauer beim Zoo umgesehen, weil die letzten Angriffe sich in der Gegend ereignet hatten. Ach, übrigens, habt ihr die Schlagzeile... «
»Ja, haben wir. Weiter.«
Als Camille die Wunde mit einem feuchtwarmen Handtuch abtupfte, verzog er das Gesicht. »Schon gut, ich dachte ja nur. Wie gesagt, ich wollte mich da umsehen. Ich hatte mich entschieden, mich bei diesem Wäldchen im Park zu verstecken, also habe ich einen Tarnzauber benutzt. Und tatsächlich, vor etwa zwei Stunden habe ich etwas gehört, das wie ein Kampf klang. Ich bin den Geräuschen gefolgt und habe einen von den Neulingen gesehen, die uns neulich Nacht entwischt sind. Sie war mit einer Floreade unterwegs.«
»Einer Floreade!«
»Ja, und deiner Beschreibung nach würde ich meinen, das ist eure Freundin. Also, erinnert ihr euch an den Jungen von neulich Nacht?«
»Du meinst den Teenager?« Camille seufzte tief.
»Ja. Er kam in das Wäldchen, mit einem Mädchen am Arm, das nicht älter als sechzehn gewesen sein kann. Ich glaube, sie wusste nicht, was er war, aber sobald sie Wisteria und die andere Frau entdeckt hat, wollte sie weglaufen. Wisteria hat sie sich gepackt und sie festgehalten, damit der hübsche Junge sie auf der Stelle aussaugen konnte.«
»Hat er es geschafft?« Ich warf Roz einen scharfen Blick zu.
Roz neigte den Kopf zur Seite. »Hältst du mich für einen Amateur? Natürlich habe ich mich dafür entschieden, ihre kleine Party zu stören. Das Mädchen ist entkommen, mit nichts weiter als einem bösen Schrecken. Der Junge ist erledigt, und der andere Vampir ebenfalls. Aber diese Wisteria ist durchgedreht. Das Miststück hat mich mit den Fingernägeln böse erwischt.« Er zuckte zusammen. »Autsch! Was zum Teufel tust du da?«
»Halt still«, mahnte Camille und tupfte geschickt eine antibakterielle Salbe und eine fungizide Tinktur auf seinen Hals. »Wenn man nicht aufpasst, können Wunden von einer Floreade eine böse Pilzinfektion hervorrufen. Nur noch zwei Minuten, dann bin ich fertig. Eine von diesen Schnittwunden sieht so böse aus, dass ich sie werde nähen müssen.«
»O Gott«, sagte Chase und wandte sich mit angewidertem Gesicht ab. »Du hast vor, den Hals dieses Mannes zusammenzunähen? Hier? Ich kann es immer noch nicht fassen, was für eine Scheiße man mit euch Mädels dauernd erlebt. Als Nächstes werdet ihr mir wohl Frankenstein vorstellen, oder... o verflucht, Dracula gibt es ja wirklich.« Er seufzte so laut, dass ich vor Lachen schnaubte.
Shamas lachte ebenfalls. »Sind sie zu viel für dich, Mann?«
»Die sind zu viel für jeden Mann«, erwiderte Chase mit einem Lächeln. »Aber ich würde sie nicht anders haben wollen. Glaube ich.«
Delilah ging hinüber und sah zu, wie Camille geschickt eine Nadel durch die aufgeschlitzte Haut führte und die schlimmsten Schnitte zusammenflickte. »Mann, sie hat dich viel übler erwischt als mich«, sagte Delilah und zeigte Roz die Narbe an ihrem Hals. »Offenbar hat Wisteria ein Faible für Hälse. Vielleicht wäre sie auch gern ein Vampir.«
»Ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie schlichtweg jedes bisschen Verstand verloren hat, das sie je hatte. Die ist völlig durchgeknallt, wie ein tollwütiger Hund.« Roz schauderte, als Camille sich tief hinabbeugte und dicht an seinem Hals den Faden abbiss. »Süße, du riechst nach Sex«, flüsterte er, schlang einen Arm um ihre Taille und sprach laut genug, dass alle im Raum ihn hören konnten.
»Was habe ich dir gesagt... «, hob ich an, aber Camille schnippte ihm den Zeigefinger gegen die Stirn und hüpfte aus seiner Reichweite.
»Und du riechst nach Ärger.« Sie grinste ihn an. »Hände weg. Ich bin schon vergeben. Dreimal, um genau zu sein.«
»Touché.« Roz blickte sich um. »Okay, schnell noch einen Verband drum, und es kann losgehen. Ich nehme an, ihr wolltet gerade aufbrechen?«
»Wir wissen, wo Dredge ist... «
»Und ich weiß, wo eure Freundin ist«, unterbrach mich Roz. »Deshalb bin ich hierhergekommen – und weil ich ein bisschen Salbe und Streicheleinheiten brauchte.«
»Du weißt, wo Erin ist?« Camille sprang auf und schlüpfte in ihr kurzes Cape. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Weil ich medizinischer Versorgung bedurfte, Weib. Jedenfalls habe ich Erin gerochen. Die Neulinge haben sie in ihrem privaten kleinen Nest. Ich weiß nicht genau, wo das ist, aber ich bin ziemlich sicher, dass wir sie ganz in der Nähe dieses Krautkopfs finden werden.«
»Dann ist sie also nicht bei Dredge?« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Wenn er sie nicht hatte, war es möglich, dass sie noch nicht durch den Fleischwolf gedreht worden war. Andererseits bedeutete das, dass wir sie würden suchen müssen.
Camille unterbrach meine Gedanken. »Dredge wird in ein paar Stunden noch da sein, aber Erin womöglich nicht. Vor allem, wenn Wisteria sauer ist. Denk daran, was sie mit Delilah gemacht hat, und mit Roz... stell dir vor, was sie erst bei einem VBM anrichten könnte, Menolly. Und du weißt ja, was sie von Menschen hält.«
Ich starrte sie an. »Du hast recht. Erin ist in einem Nest von Neulingen, mit einer durchgeknallten Floreade, die glaubt, mit der Menschheit an sich ein Hühnchen rupfen zu müssen. Ja, wir müssen uns als Erstes um sie kümmern. Roz, zeig uns, wo du sie gefunden hast. Das Nest kann nicht weit sein.«
Er schlüpfte wieder in seinen langen Mantel. »Kein Problem. Wer kommt noch mit, außer dir und mir?«
»Delilah, Camille, Chase und Morio.« Ich blickte mich um. »Shamas, bleib bei Iris.«
»Ich sorge schon dafür, dass er sich anständig benimmt«, sagte Iris. »Er kann Anna-Linda und mir helfen, Kekse zu backen.« Damit schob sie unseren Cousin aus dem Zimmer, ehe er noch ein Wort sagen konnte.
Ich deutete auf die Tür. »Los geht’s.« Ich war nicht sicher, wie Roz hier herausgekommen war, aber ganz sicher nicht in einem Auto. »Roz, du fährst mit mir.«
Delilah wurde natürlich von Chase begleitet, und Morio und Camille gingen zu ihrem Lexus. Eines stand fest, dachte ich: Wir würden dringend Urlaub brauchen, wenn das hier vorbei war, denn der Spielplatz, zu dem wir jetzt unterwegs waren, stand ganz gewiss nicht auf der Top-Ten-Liste der Orte, die man unbedingt gesehen haben musste, bevor man starb.