Kapitel 14

 

Wir warteten, damit Camille und Morio etwas essen konnten, bevor wir wieder zur Straße der Tempel aufbrachen. Ich hockte auf einem der Betten und sah den beiden zu, die am Tisch saßen. Als ich mich endlich von meinen eigenen Gedanken losreißen konnte, die von rasender Angst erfüllt waren, bemerkte ich ein seltsames Licht, das von der Aura der beiden ausging. Es sah aus wie eine silbrig grüne Schnur, die beide verband. Was zum Teufel hatten sie im Park getrieben? Camille war mit Morio ganz ähnlich verbunden wie mit Trillian, aber hier schien es mehr zu sein als Sex...

»Menolly«, sagte Morio, riss ein Stück Brot in zwei Teile und reichte die Hälfte Camille, »ich wollte dich schon immer mal etwas fragen. Du kannst kein Essen mehr zu dir nehmen, richtig?«

Ich nickte. »Stimmt, das kann ich nicht. Ich kann auch nichts anderes trinken als Blut. Mir wird entsetzlich übel, wenn ich irgendetwas anderes zu mir nehme. Essen wird mich nicht umbringen, aber die Folgen sind alles andere als schön. Warum?«

»Ich habe nachgedacht. Meine Fähigkeit, Illusionen zu schaffen, ist extrem gut ausgebildet. Ich dachte, vielleicht könnten wir ein bisschen damit herumspielen. Ich könnte versuchen, eine Illusion auf das Blut zu legen, das du trinkst, wenn du zu Hause bist. Vielleicht kriege ich es hin, dass das Blut nach etwas anderem riecht und schmeckt... zum Beispiel nach irgendeinem Lieblingsgericht, das du vermisst.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Niemand hatte je daran gedacht, mir so etwas vorzuschlagen. »Das ist das Netteste, was ich seit langem gehört habe. Aber würden wir damit nicht nur deine Energie verschwenden?«

»Wieso verschwenden? Ich werfe nicht den lieben langen Tag mit gewaltigen Zaubern um mich, und so etwas dürfte nicht allzu viel Mühe kosten, denke ich. Es wäre einen Versuch wert, falls du Interesse hast.« Er zuckte mit den Schultern. Camille zog die Nase kraus und lächelte.

Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte, stammelte nur »Danke schön« und dachte mir dann: Warum nicht? Was konnte es schon schaden?

»Ich würde es gern mal probieren«, sagte ich. »Vielleicht wenn wir diesen Alptraum mit dem Elwing-Clan hinter uns haben. Ich vermisse... es gibt so vieles, was ich vermisse.«

»Zum Beispiel Mutters Buttercreme-Plätzchen?«, bemerkte Camille.

Da musste ich lachen. Was für ein Thema für einen Abend, an dem ich mich anschickte, mich einem Schamanen zu überlassen, der meine Seele in Stücke reißen würde. »An die habe ich schon lange nicht mehr gedacht, aber ja, Mutters ButtercremePlätzchen. Hast du das Rezept?«

Sie nickte. »Ich habe alle ihre Rezepte aufbewahrt. Ich kriege die Sachen nicht halb so gut hin wie sie, aber Iris vielleicht. Ich habe einfach nie daran gedacht, sie darum zu bitten.«

Das löste ein lebhaftes Gespräch über die köstlichen Gerichte aus, die Mutter früher gekocht hatte, und wie sie sich bemüht hatte, das Essen der Erdwelt nachzuahmen, um uns auch mit dem Geschmack von Dingen wie Hamburgern und Pommes vertraut zu machen, als wir noch klein waren. Ich vermied es, in Richtung der Uhr zu blicken, die auf einem Wandbord stand, aber als Camille und Morio aufgegessen hatten, wusste ich, dass wir es nicht länger hinausschieben durften. Zumindest hatte die Unterhaltung über so Alltägliches wie Essen mich von dem abgelenkt, was mir bevorstand.

»Wir sollten allmählich gehen. Seid ihr beiden gut genug abgeschirmt, um die Tempelstraße auszuhalten?«

Morio nickte. »Ich denke, jetzt müsste es gehen. Wir haben eine ziemlich starke Barriere gegen alle möglichen magischen Energien aufgebaut, das sollte reichen. Bist du bereit?«

Ich holte tief Luft, hielt sie lange an und stieß sie dann langsam wieder aus. »Nein, aber es muss sein, und zwar jetzt. Dann wollen wir mal sehen, was Jareth mit mir vorhat.«

 

Der Marsch zurück zur Tempelstraße dauerte nur eine halbe Stunde, denn jetzt kannten wir den Weg. Morio und Camille sahen entschieden unwohl aus, sobald wir die andere Seite des Parks erreichten, aber ihr Zauber hielt, und als wir die Tür zum Tempel des Gerichts erreichten, schienen sie ganz fit zu sein.

Jareth erwartete uns in der großen Halle. »Ich wusste, dass Ihr zurückkehren würdet«, sagte er und nickte Camille und Morio zu. »Ihr seid selbstverständlich willkommen, aber es wird alles andere als angenehm. Seid Ihr sicher, dass Ihr dabei zusehen wollt? Es ist möglich, dass Ihr mehr darüber erfahren werdet, was Eurer Schwester geschehen ist, als Euch lieb ist, Camille.«

Camille sah mich an. »Ich habe dir versprochen, dir beizustehen, und das werde ich auch tun, wenn du mich dabeihaben willst. Du solltest das nicht allein auf dich nehmen müssen. Wir sind eine Familie, und was immer dir geschehen ist, ist uns allen geschehen.«

Ich rieb mir den Nasenrücken. »Ich habe so hart daran gearbeitet, vor allen zu verbergen, was Dredge mir angetan hat, um dich und Delilah und Vater zu schützen. Ich denke... es ist an der Zeit, meine Geheimnisse preiszugeben.«

Jareth nickte. »Dann folgt mir. Ihr alle. Wir werden außerhalb der Zeit arbeiten. Ihr werdet kurz vor dem Morgengrauen wieder zu Hause sein.« Er führte uns durch eine andere Tür als die, durch die ich bei meinem ersten Besuch hier gegangen war. Wir eilten einen Flur nach dem anderen entlang, bis wir einen dunklen Raum erreichten, der so groß war, dass ich das andere Ende nicht sehen konnte. Decke und Wände waren schwarz, und das einzige Möbelstück stand in der Mitte – ein langes, schmales Podest wie eine Bahre, mit einem indigoblauen Tuch bedeckt und Kissen auf dem Boden darum herum.

Er bedeutete mir, mich vor das Podest zu stellen. Camille und Morio setzten sich ein wenig abseits. »Wir haben keine Zeit für die üblichen Rituale und Reinigungszeremonien, die vor einer solchen Erweckung stattfinden sollten, aber ich muss Euch zwei Fragen stellen. Kommt Ihr aus freiem Willen hierher, um die Beherrschung Eurer eigenen Kraft zu erlernen und die Ketten zu sprengen, die Euch an den Willen Eures Meisters fesseln?«

Ich schluckte die aufsteigende Angst herunter. »Das tue ich.«

»Werdet Ihr Euch ganz und gar in meine Hände begeben, im Wissen, dass ich Euch in die Dunkelheit führen werde?«

Die Worte lagen mir schwer auf der Zunge. Ich wollte sie nicht aussprechen, doch sie schlüpften mir wie von selbst über die Lippen. »Ich unterwerfe mich Eurer Führung.«

»Dann nimm deinen Platz auf dem Podium ein, Menolly.« Jareth bedeutete mir, mich auf den Rücken zu legen. Als ich lag, holte er silberne Handschellen hervor, die mit Samt ausgekleidet waren. »Sie werden deine Haut nicht berühren, dir also keine Schmerzen bereiten, aber du wirst sie nicht sprengen können.«

Entsetzt starrte ich auf die Fesseln. Silber, ein Segen für Feen, war ein Fluch für Vampire. Ich verzog das Gesicht, streckte aber trotzdem die Arme aus, und er schloss sie um meine Handgelenke. Nichts. Sie waren gut gepolstert, genau wie er gesagt hatte. Er holte ein zweites Paar Schellen hervor, schloss sie um meine Fußgelenke und half mir dann, mich hinzulegen, so dass mein Kopf auf einem kleinen Kissen zu liegen kam. Als ich richtig lag, hielt Jareth eine Augenbinde in die Höhe und bedeckte meine Augen.

Ich konnte hören, wie Camille und Morio leise mit ihm sprachen.

»Seid Ihr sicher, dass ihr nichts geschehen wird?«, fragte Morio.

»Ich kann nichts garantieren, aber ich glaube, dass Menolly stark genug ist, den Ritus zu überstehen. Sie kann nicht hoffen, ihren Meister zu besiegen, wenn sie nicht zuvor ihre Furcht überwunden hat. Sie muss sich von den Ketten lösen, die er zwischen sich und ihr geschmiedet hat. Versteht Ihr das?«

Camilles Stimme erklang. »Das klingt vernünftig, aber hört mir gut zu, Mönch. Wenn Ihr sie in irgendeiner Weise leiden lasst, die für das Ritual nicht notwendig ist, wenn Ihr ihr übel mitspielt oder sie quält, dann reiße ich Euch das Herz heraus und verfüttere es an die nächste Leichenzunge. Habt Ihr auch mich verstanden?«

Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ihr habt Euch unmissverständlich ausgedrückt, Tochter des Mondes.« Jareth kramte mit irgendetwas herum. Das Geräusch von Blut, das in einen Kelch tropfte, drang an meine Ohren. Der Duft erfüllte den Raum, metallisch und klar und köstlich. Dann erklang dreimal eine Glocke, und ich spürte, wie er um das Podium herumging, gegen den Uhrzeigersinn, gegen den Lauf der Sonne.

»Wenn ich den Ritus erst begonnen habe, müssen wir ihn beenden. Verstehst du das? Wir können nicht aufhören, denn sonst könnte die Energie sich gegen uns wenden.« Jareth stand in der Nähe meines Kopfs.

Ich konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Dieser Besuch bei Euch läuft ohnehin nicht so, wie ich es erwartet hatte. Also, nur zu.«

Prachtvoller Engel, Engel des Blutes,
erhebe dich und begegne deinem Schöpfer.
Prachtvoller Engel, Engel des Blutes,
erhebe dich und fordere deinen Meister.
Prachtvoller Engel, Engel des Blutes,
erhebe dich und verlange, was dein ist.
Prachtvoller Engel, Engel des Blutes,

kehre zurück zu deiner Geburt.

Er umkreiste den Tisch, und seine Stimme drang mit einer steifen Brise zu mir, die plötzlich durch den Raum fegte. Die Energien schlugen um, und ich spürte, wie ich tiefer hinabtrieb, wie mein Bewusstsein vom Tonfall seiner Worte, vom Rhythmus seines Herzschlags eingelullt wurde.

Deine Erwartungen – gib sie auf.
Deine Zweifel – gib sie auf.
Deine Ängste – gib sie auf.
Deine Stärke – gib sie auf.
Deine Wut – gib sie auf.
Deine Beherrschung – gib sie auf.

Drei Tropfen Blut klatschten auf meine Stirn, und der verlockende Duft drang mir in die Nase. Obwohl ich erst vor ein paar Stunden getrunken hatte, stieg der Durst in mir auf, und meine Gier erwachte. Ich zerrte an den Fesseln, wollte frei sein und jagen. Ich kann nicht, dachte ich. Ich kann nicht gehen. Ich kann nicht einfach loslaufen und auf den Straßen der Stadt nach frischem Blut suchen.

Geschöpf der Nacht, Dämon des Blutes,
Drehe die Uhr zurück, zurück durch die
Minuten und Stunden und Jahre.
Kehre zurück zu der Nacht, in der du neugeboren wurdest.
Kehre zurück zu der Nacht, da du verwandelt wurdest.

 

Drei weitere Tropfen, doch diesmal ließ er sie auf meine Lippen fallen und verrieb sie sacht mit den Fingern. Ich zwang mich, nicht in sein warmes Fleisch zu beißen, als er die Hand zurückzog. Meine Zunge zuckte hervor, und ehe ich mich daran hindern konnte, hatte ich mir das Blut von den Lippen geleckt.

»Heilige Scheiße!« Eine sengende Flamme verschlang mich von innen, und ich bäumte mich gegen die Fesseln auf. Einen Augenblick lang glaubte ich, er hätte mir einen Pflock durch die Brust gestoßen, doch als der Schmerz nachließ, merkte ich, dass es Magie war, die das bewirkt hatte, Magie in dem Blut, das ich eben gekostet hatte. Diesen Gedanken hatte ich noch kaum verdaut, als ich zu fallen begann, mich rasend schnell von meinem Körper wegbewegte, aus dem Raum geschleudert wurde, fort von dem Tisch, Jareth, meiner Schwester und Morio.

»Was zur... ?«

Ich verstummte, als ich auf einer harten Fläche landete. Ich schlug die Augen auf und erkannte, dass ich wieder in der Höhle war, in die Dredge mich geschleppt hatte, nachdem er mich erwischt hatte. Und er war da, ragte über mir auf, einen grausigen Ausdruck auf dem Gesicht, während er meine Haut mit seinen Fingernägeln aufritzte.

 

Schmerz rollte in Wogen über mich hinweg. Es kam mir vor, als könnte ich schon seit Stunden nicht einmal mehr schreien. Ich lag nackt auf einem flachen Felsen tief in dem Höhlensystem.

Wenn ich doch nur das Bewusstsein verlieren könnte, bis alles vorbei war und ich mich meinen Ahnen anschließen würde. Ich versuchte, durch schiere Willenskraft in Ohnmacht zu fallen, den Nebel des Vergessens hervorzulocken. Aber mein Geist war zu stark, meine Präsenz in der Gegenwart zu solide. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich die Kante des seligen Nichts beinahe ertasten, aber jedes Mal, wenn ich in diesen himmlischen Abgrund abzurutschen begann, grub Dredge die Nägel ein wenig fester ein, verzerrte meine Haut ein wenig grausamer, um mich zurückzuholen.

»Gib noch nicht auf, Liebes«, sagte er. Seine Stimme war wie kühler Balsam, sie beruhigte mich für einen Sekundenbruchteil, so dass ich mich entspannte, ehe er mein Fleisch erneut zerfetzte. »Betrachte es nicht als Bestrafung«, flüsterte er. »Du hast im Grunde gar nichts damit zu tun – ich schicke eine Botschaft. Und du bist zufällig mein Pergament.«

Während ich blutete, Tropfen um Tropfen, konnte ich rauhe Zungen auf dem Boden hören, die die Tränen meines Körpers gierig aufschleckten. Es drehte mir den Magen um. Dredge bemerkte es, hielt inne und kippte mich zur Seite, als ich mein Frühstück von mir gab.

»Wir wollen doch nicht, dass du an deiner eigenen Kotze erstickst, nicht wahr?«, bemerkte er.

»Fick dich, du Bastard«, sagte ich und spuckte den widerlichen Schleim aus, der in meinem Mund zurückgeblieben war. »Wenn du mich töten willst, tu es einfach. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod.« Bis zu dem Augenblick, da er mich erwischt hatte, wäre das eine Lüge gewesen, aber die Qualen, die ich in den letzten Stunden erlitten hatte, ließen mir den Tod wie eine gemächliche Kreuzfahrt in die Unterwelt erscheinen – dort wäre alles vorbei, und ich würde frei sein.

»Das weiß ich. Deshalb lassen wir es ja hübsch langsam angehen«, sagte er und trat dann zurück. »Und jetzt, da du fertig dekoriert bist, können wir mit dem eigentlichen Vergnügen beginnen.«

Ich blinzelte. Was konnte er mir denn sonst noch antun? Und dann fing er an, sich auszuziehen.

»Nein – nein... Du bist zu erbärmlich, um mir die Stiefel zu lecken, du Drecksack... « Der Schmerz und die Angst vor dem, was mir jetzt bevorstand, fachten meine Wut von neuem an, und ich riss an den schweren Ketten, die mich an den Stein fesselten.

Er lachte. »Immer noch so temperamentvoll. Das gefällt mir.« Er beugte sich über mich, und sein lockiges Haar kitzelte mich im Gesicht und an den Schultern und tat mir weh, weil es an den blutigen Schnitten kleben blieb, die sich in einem feinen Muster kreuz und quer über meinen Körper zogen. Dredges Augen waren Stahl und Eis, Rohdiamanten, und seine Lippen so üppig und einladend, dass ich beinahe weinen musste. Wie konnte jemand, der so schön war, so grausam sein? Ich schauderte, als er auf den Steintisch stieg, erregt, steif und gierig in der Nacht.

»Du willst mich, nicht wahr? Du willst es so sehr, dass du schon tropfnass bist. Ja, Baby, du hast mich ganz für dich«, sagte er und drang tief in mich ein. Sein Schaft war aus eisig kaltem Fleisch, und er drängte sich gegen meine Hüften. Die zahllosen Schnitte an meinem Körper brannten und folterten jeden meiner Nerven, während er sich auf mir bewegte und die Schnitte immer weiter aufriss. Ich fühlte mich wie ein Stück Fleisch unter einem Fleischklopfer.

Zähle bis hundert. Denk an nichts als die Zahlen. Wenn ich es schaffe, bis hundert zu zählen, ist es vorbei.

Also konzentrierte ich mich, zählte leise vor mich hin und machte jede einzelne Zahl zur ganzen Summe meiner Existenz. Ich zählte bis hundert, fünfhundert, zweitausend. Endlich begann die Welt zu verblassen. Immer noch tief in mir, richtete Dredge sich ein wenig auf und rüttelte mich damit aus der herrlichen Betäubung auf. Als ich ihn mit glasigen Augen anstarrte, hob er die Hand und schlug mir ins Gesicht.

»Wag es nicht, mir jetzt schon wegzusterben«, sagte er und schlitzte sich knurrend mit einem seiner rasiermesserscharfen Fingernägel das linke Handgelenk auf. Ich starrte auf das schillernde Blut, das an seinem Arm hinabrann. Ohne Vorwarnung drückte er mir das Handgelenk an den Mund und presste mir die Schnittwunde an die Lippen. Ich schnappte nach Luft und versuchte, den Kopf wegzudrehen, aber das Blut floss in meinen Mund und ich glaubte zu ertrinken. Ich konnte nichts anderes tun als schlucken.

»Braves Mädchen«, sagte er. »Braves Mädchen. Trink schön. Stille deinen Durst.«

Und plötzlich merkte ich, dass mein Mund und meine Kehle vom vielen Schreien ganz ausgedörrt waren. Ohne einen weiteren Gedanken saugte ich an seinem Handgelenk, nahm die kostbare Flüssigkeit in mich auf, die den unerträglichen Schmerz linderte.

»So ist es richtig, schön saugen. Trink, kleines Mädchen. Nimm einen tiefen Schluck.« Dredge hielt meinen Kopf mit einer Hand. Er bewegte sich sanft in mir, und seine Augen leuchteten triumphierend. Als der Schmerz nachließ, wehrte ich mich dagegen, dass meine Erregung wuchs. Nein. Ich wollte das hier nicht genießen. Bitte nicht, bitte lass mich nicht kommen, betete ich, aber dann, ehe ich mich davon abhalten konnte, verlor ich die Kontrolle und fiel in einen Orgasmus, der die Sterne erbeben ließ.

Als die gewaltige Energie sich wieder legte, merkte ich, dass mir nichts mehr weh tat. Ich blickte mich um und sah meinen Körper auf dem Stein, und Dredge, der mit triumphierender Miene neben mir stand. Was weißt du schon, dachte ich. Ich bin tot, und ich bin frei. Ganz gleich, was er jetzt mit meinem Körper macht, er kann mir nicht mehr weh tun.

Ich setzte mich in Bewegung und fand mich in einer Eishöhle wieder, hell wie Gletscherwasser, schillernd, rein und klar. Nun würde ich also meinen Ahnen begegnen. Ein Licht am Ende des Eistunnels lockte, und ich rannte darauf zu. Ich fühlte mich frei und glücklich und war bereit, das Land der Silbernen Wasserfälle zu betreten – dorthin ging das Volk meines Vaters nach dem Tod. Plötzlich erschien eine Gestalt, als bilde sie sich aus Nebel und Schatten. Meine Mutter, die auf der anderen Seite auf mich wartete.

»Mutter!« Ich rannte auf sie zu. Sie hatte also doch zu den Ahnen meines Vaters gehen dürfen, obwohl sie ein Mensch war. Jetzt würden wir gemeinsam wandeln.

»Menolly, komm zu mir, meine Kleine!« Ihr Gesichtsausdruck war so schön, so beglückt, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Sie würde mich schützen, mich läutern, meine Seele heilen.

Aber in diesem Augenblick spürte ich ein Zupfen im Nacken. Ich blickte über die Schulter zurück und sah einen silbernen Faden, der mich mit meinem Körper verband. Verflucht, was zur Hölle ist das? Ich bin doch tot. Was würde ich denn noch tun müssen, um diesem Monster zu entkommen?

Das Band veränderte die Farbe. Es wurde blutrot, und die Farbe bewegte sich von meinem Körper her auf mich zu. Was zum Teufel... ? Was auch immer das war, die Energie fühlte sich verdorben an, und ich wollte damit nichts zu tun haben. Ich versuchte das Ende des Tunnels zu erreichen, aber das Band zog mich immer stärker zurück. Als die blutrote Spur, die daran entlangkroch, meinen Geist erreichte, spürte ich, wie ich von meinem Körper wieder eingesaugt wurde.

Nein! »Ich will nicht zurück!« Wieder in diesen vernarbten, von Schmerzen erfüllten Körper zurückkehren? Dredge wieder hilflos ausgeliefert sein? Niemals!

Ich wehrte mich dagegen. Mutter sah erstarrt und mit entsetztem Gesicht zu, wie ich mich gegen den Sog stemmte. »Menolly! Mein Baby... Lass sie gehen, verflucht sollst du sein!« Tränen rannen ihr übers Gesicht, sie fiel auf die Knie und streckte die Arme aus. Eine warme Wolke aus glitzerndem Licht bewegte sich auf mich zu.

»Mutter!« Ich kreischte verzweifelt und kämpfte weiter. Wenn ich nur ihr Licht erreichen könnte, wäre ich in Sicherheit... aber die Kraft des Bandes wurde immer stärker. »Ich will nicht zurück. Mutter – rette mich, bitte hilf mir.«

Und dann begann das Licht zu verblassen. Ich hörte sie meinen Namen schreien, aber sie verschwand in der Dunkelheit, als ich aus der Eishöhle gezerrt wurde, zurück in meinen Körper, der sich so kalt anfühlte wie Stein. Ich fiel durch Schicht um Schicht meiner Haut, spürte den fehlenden Puls, den fehlenden Atem, als ich mich in der stillen Hülle ausstreckte, die all die Jahre lang mein Zuhause gewesen war.

Während ich verzweifelt darauf wartete, meinen Herzschlag zu spüren, geriet ich in Panik. Ich würde ersticken. Ich wand mich, warf mich nach links und rechts. Dredges Lachen drang in meine Ohren, ich öffnete die Augen, richtete mich ruckartig zum Sitzen auf und riss dabei die Ketten aus dem Stein.

»Sie ist stark, Meister«, sagte einer der Schatten in einer Ecke der Höhle.

»Ja«, sagte Dredge. »Das ist sie. Sie wird uns sehr nützlich sein.« Während er sprach, streckte er die Hand aus, und ich sah eine winzige Figur auf seiner Handfläche stehen. Es war ein Schatten von mir. Er drückte zu, und meine Rippen wurden zusammengepresst. Ich jaulte auf. Dann ließ er los, und ich konnte mich wieder entspannen.

»Tanze, mein Püppchen«, sagte er.

Meine Beine schwangen sich von selbst über den Rand des steinernen Tisches, und ich konnte mich nicht davon abhalten. Ich stand auf und begann zu tanzen. »Nein – du kannst mich nicht kontrollieren. Das lasse ich nicht zu.«

Wieder lachte er. »Hast du Durst, Neugeborene? Geh nach Hause. Trinke, so viel du willst. Geh nach Hause zu deiner Familie, reiße ihnen die Herzen heraus, und dann werde zu einer Geißel der Welt. Vernichte alle, die sich dir in den Weg stellen.«

Mit seinen Worten traf mich der Durst wie ein schwerer Vorschlaghammer. Blut. Ich brauchte Blut. Ich musste trinken. Alles, was ich sehen konnte, war ein roter Nebel aus Schmerz und Begehren, und ich riss mir die Fesseln von Hand- und Fußgelenken. Dredge trat zurück, und sein Lachen hallte von der Höhlendecke wider, als ich in die späte Nacht hinausrannte. Ich musste nach Hause und trinken. Und dann wurde die Welt schwarz... »

 

Menolly, kannst du mich hören?«

Eine Männerstimme drang durch den Schleier aus Schmerz, der sich um meinen Geist geschlungen hatte. Wo war ich? War ich noch in der Höhle? Und dann fiel es mir wieder ein – ich war sicher, in einem Tempel, gefesselt, aber geführt und beschützt von jemandem, der mir helfen wollte.

Ich leckte mir die Lippen und erwartete, dass meine Stimme vom vielen Schreien heiser klingen würde, doch sie drang klar und ruhig aus meiner Kehle. »Ja... ja, ich kann Euch hören.«

»Wir haben mit angesehen, was dir widerfahren ist. Nun, da wir alles wissen, können wir versuchen, das Band zu kappen, das dich an Dredge fesselt. Verstehst du, was ich dir sage?«

Die Worte trieben durch meine Gedanken, und plötzlich stand mir der Moment vor Augen, als Dredge mir befohlen hatte, zu tanzen. Ein Püppchen. Er hatte mich als seine Marionette bezeichnet. »Was soll ich tun?«

»Du musst zu diesem Augenblick zurückkehren und den Energiefluss finden, der euch beide verbindet. Es ist nicht nur sein Blut, das ihn zu deinem Meister macht.«

Zurückkehren? Hatte er zurückkehren gesagt? Das Letzte, was ich wollte, war, noch einmal in diesen Sumpf aus Schmerz und Wut einzutauchen. Aber dann baumelte der Gedanke daran, endlich frei zu sein, vor meinem geistigen Auge wie die Karotte vor einem Pferd.

»Was muss ich tun? Wie soll ich das machen?«

»Es ist ganz einfach. Du gehst zurück, und ich werde dabei sein und dich stützen. Konzentriere dich darauf, das eine Band zu finden, das dich an ihn kettet. Wir müssen genau wissen, wo in deiner Aura es befestigt ist, damit wir es abtrennen können. Bevor wir diese Trennung vollziehen, müssen wir herausfinden, wo er ist. Dazu musst du von der Gegenwart aus durch dieses Band Verbindung zu ihm aufnehmen und seine Seele berühren.«

Jareth strich mir eine Strähne aus der Stirn, und diese einfache Geste der Freundlichkeit brachte mich fast zum Weinen. Die Vergangenheit noch einmal zu durchleben, war anstrengend, schmerzhaft. Aber wenn es schon so schlimm ist, sie sich anzusehen, dann stell dir nur vor, was sie jeden Tag, jede Stunde, jede Minute bei dir anrichtet, solange du diese Last mit dir herumschleppst. Die Worte hallten durch meinen Kopf, und ich blinzelte hinter der Augenbinde. All mein Zorn und Kummer konnten nicht weggewischt werden, als sei das alles nie geschehen, aber vielleicht konnte ich diese Last abwerfen? Einfach aufhören, sie weiter zu tragen, und sie loslassen?

»Also schön«, sagte ich. »Tun wir’s. Wie kann ich verhindern, dass ich von den Erinnerungen verschluckt werde?«

»Ich werde an deiner Seite sein, nun da ich weiß, was geschieht«, sagte er. »Lehn dich an mich. Verlass dich auf meine Kraft.«

Als der Geruch von Blut näher kam, sagte ich: »Dredge hat das auch versucht, nicht wahr? Ihr habt ihn zu dem Augenblick seiner Verwandlung zurückgeführt.«

Jareth seufzte tief. »Ja, das habe ich getan. Ich wusste nicht, dass er zuvor im Leben ein Priester des Jakaris gewesen war – ich wusste nichts von den Jahren der Perversion, die seine Seele verstümmelt haben. Deshalb ist das Ritual furchtbar fehlgeschlagen. Er war nicht bereit, seinen Zorn loszulassen, sondern er suchte nach einer Möglichkeit, die Macht seines Meisters in sich aufzunehmen. Und es hat funktioniert.«

Ich nahm mir einen Moment Zeit, darüber nachzudenken. Dredge hatte seine Macht vermehren wollen und Jareth zu diesem Zweck hereingelegt. Er hatte sich der Seele des Bösen verschrieben. Ich würde nicht in die Fußstapfen meines Meisters treten, koste es, was es wolle. »Ich bin bereit.«

Nach einer kurzen Pause begann Jareth erneut mit seiner Litanei, und drei weitere Tropfen landeten auf meiner Stirn.

Deine Erwartungen – gib sie auf.
Deine Zweifel – gib sie auf.
Deine Ängste – gib sie auf.
Deine Stärke – gib sie auf.
Deine Wut – gib sie auf.
Deine Beherrschung – gib sie auf.

Dann kamen die drei Tropfen auf meine Lippen, meine Zunge schnellte hervor und leckte sie auf, und ich wappnete mich für das, was mir bevorstand.

Geschöpf der Nacht, Dämon des Blutes,
Drehe die Uhr zurück, zurück durch die
Minuten und Stunden und Jahre.
Kehre zurück zu der Nacht, in der du neugeboren wurdest.
Kehre zurück zu der Nacht, da du verwandelt wurdest.

Ich war wieder in der Höhle, in meinem kürzlich verstorbenen Körper. Aber diesmal spürte ich einen goldenen Schein, der meinen Kopf barg, während ich verzweifelt versuchte, mich zurechtzufinden. Ich war tot – ich war tot, und Dredge hatte mich in einen Vampir verwandelt. Nein, warte – das war ein Traum, eine Vision, durch die ich nur hindurchging.

So ist es, dachte ich und durchbrach die Angst. Mein Name ist Menolly, und ich bin seit zwölf Erdwelt-Jahren ein Vampir, und in Wirklichkeit liege ich auf einem Podium im Tempel des Gerichts. Dies sind nur Schatten der Vergangenheit.

Ich versuchte, mich zu konzentrieren und Jareth zu finden. Dann erkannte ich, dass er der goldene Schimmer war, der meinen Kopf barg. Er war hier und wachte über mich. Instinktiv versuchte ich, tief Luft zu holen, aber meine Lunge wollte mir nicht gehorchen.

Moment – ich bin tot.

Meine Gedanken sortierten sich wie von selbst, als die Erinnerung mir zu Hilfe kam. Ach ja, dachte ich. Ich hatte über ein Jahr gebraucht, um zu lernen, Atem zu holen. Währenddessen hatte ich viel zu viele Tage lang geträumt, ich müsste ersticken.

Jareths Hände strichen über meine Schultern und erinnerten mich daran, dass ich nicht dort mit Dredge gefangen war. Ich würde dieses Jahr des Wahnsinns nicht noch einmal durchmachen müssen, wie ein Tier in einen Silberkäfig gesperrt, während der AND versuchte, meine Seele aus der völligen Zerstörung zu retten, die Dredge angerichtet hatte.

Jetzt... wurde es Zeit, dieses Band zu finden. Ich zwang mich, mich zu entspannen, und erkundete die verschiedenen Energien, die durch meinen Körper strömten. Blut und Vergewaltigung und Folter hatten Bolde erschaffen – spirituelle Parasiten, die aus intensiven Emotionen entstanden. Zum ersten Mal sah ich jetzt, dass sie sich in meiner Aura festgesetzt hatten und nach all den Jahren vermutlich immer noch da waren. Schaudernd versuchte ich sie zu verscheuchen, doch Jareth tätschelte mir die Schulter, und ich ließ sie vorerst in Ruhe.

Ich erforschte meinen Körper genau und suchte nach dem Band, das mich fesselte. Mein Körper war zermartert und vernarbt. Als ich gestorben war, waren die Wunden noch frisch gewesen. Wenn ich in meinem neuen Daseinszustand erwachte, würden sie verblassen, nicht länger blutig und frisch, aber die Narben würden für immer bleiben, vom Hals bis zu den Fußknöcheln, und mich als eines seiner Geschöpfe brandmarken.

Plötzlich hielt ich inne. Da war etwas – es trat aus meinem Nacken hervor. Ich blinzelte. Warum hatte ich das noch nie bemerkt? Vermutlich, weil du dir noch nie die Mühe gemacht hast nachzuschauen. Aber da war das Band, wie eine Schnur, die zu Dredge führte und in seinem niedersten Chakra verankert war, dem Energiewirbel des Überlebens.

Ich widerstand dem Drang, etwas Dummes zu versuchen – zum Beispiel, das Band selbst herauszureißen –, und bemühte mich stattdessen, Jareth wissen zu lassen, dass ich gefunden hatte, was wir suchten.

Im nächsten Augenblick schoss ich aus der Höhle heraus und zurück in die Gegenwart. Als ich die Augen aufschlug, war die Augenbinde weg, und die Silberschellen waren von meinen Hand- und Fußgelenken entfernt worden. Jareth half mir, mich aufzusetzen, und lächelte mich an.

»Es führt von meinem Nacken zu Dredges niederstem Chakra«, sagte ich.

»Menolly!« Camille eilte an meine Seite, und ihr Gesicht glänzte vor Nässe. Ein Glück, dass sie wasserfeste Wimperntusche trug. Morio hielt sich zurück.

Ich sah Jareth an. »Wie viel wissen sie?«

Camille antwortete. »Wir haben alles gesehen. Es war, als würden wir uns einen Film anschauen. Wir haben auch alles gehört.« Sie sank auf die Knie und knetete ihren Rocksaum, während ihr neue Tränen übers Gesicht liefen. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm war. Es tut mir so leid – ich wusste es einfach nicht. Ich wusste nicht, dass... bitte verzeih mir... «

Ich glitt von der Plattform und merkte, dass ich mich wie seekrank fühlte, aber sonst ganz normal. Ich kniete mich neben sie und zog sie an mich. »Ich wollte nicht, dass du es weißt. Oder Delilah. Ich will auch jetzt nicht, dass sie es erfährt. Sie ist nicht stark genug, um damit fertig zu werden.«

Camille presste die Lippen an mein Gesicht, küsste meine Wangen, meine Augen, meine Stirn. »Meine tapfere Menolly. Mutter hat versucht... sie hat versucht, dir zu helfen.«

»Ich weiß«, sagte ich und starrte zu Boden. »Und ich habe immer irgendwie geglaubt, sie sei schuld daran. Ich dachte, sie wäre nicht stark genug gewesen, mir zu helfen, weil sie ein Mensch war. Jetzt verstehe ich es. Sie wollte mir helfen, aber gegen Dredges Macht über mich konnte sie nichts ausrichten.«

»Du bist in einen Vampir verwandelt worden. Menolly, kein sterblicher Geist kann diese Verwandlung verhindern, weder in der physischen Welt noch auf der Astralebene. Aber sie hat es versucht – sie liebt dich.«

Ich fragte mich, wie sehr meine Mutter wohl das lieben konnte, wozu ich geworden war, schob den Gedanken aber rasch beiseite. »Das Wichtigste ist, dass wir den Ansatzpunkt von Dredges Fessel gefunden haben.«

»Und dass ich weiß, was du durchgemacht hast«, sagte Camille. »Jetzt... kann ich dich ein bisschen besser verstehen.«

»Das auch«, sagte ich leise. Vielleicht war es besser so. Vielleicht würde Camille mir helfen können, wenn die Raserei und der Hunger mich zu überwältigen drohten. Ich blickte zu Morio auf, der mich mit ernstem Gesichtsausdruck ansah.

»Menolly, du solltest Delilah nicht unterschätzen«, sagte er. »Eines Tages muss sie diese Dinge vielleicht wissen, um ihrer eigenen Sicherheit willen. Schreib sie nicht als einen Schwächling ab.«

 

Ich blinzelte. Trillian hatte etwas ganz Ähnliches zu mir gesagt. Vielleicht sollte ich auf die beiden hören. »Daran werde ich denken.« Ich ließ mir von Jareth aufhelfen. »Was tun wir jetzt? Wie viel Zeit bleibt uns bis zum Morgengrauen?«

Er holte tief Luft. »Ich hatte dir ja gesagt, dass wir heute Nacht außerhalb der Zeit operieren. Du wirst vor Sonnenaufgang zu Hause sein. Folgt mir.« Er führte uns in einen Raum zur Linken. In den Marmorboden war ein Pentagramm aus Hematit eingelassen. Selbst ich konnte die erdende Kraft des polierten Metalls spüren, das die Magie im Boden verankerte.

Ansonsten war der Raum leer, bis auf vier Podeste, eines für jedes Viertel des Kreises um das Pentagramm. Gezinkte Ständer darauf hielten Edelsteine, so groß wie meine Faust. Camille starrte die Juwelen mit großen Augen an. Im Norden war ein Smaragd. Im Osten ein Diamant. Im Süden – ein Rubin. Und im Westen ein Saphir.

Ich tippte ihr auf die Schulter. »Dein Edelstein-Tick hängt raus.«

Sie warf mir ein Lächeln zu. »Sind sie nicht prächtig? Ich wusste gar nicht, dass ein paar von diesen Edelstein-Kristallen so groß werden können.«

»Sie müssen ein Vermögen wert sein.« Ich wandte mich zu Jareth um. »Wie schützt Ihr sie gegen Diebe?«

Jareth starrte mich an, offensichtlich belustigt. »Glaubst du wirklich, irgendjemand könnte sich nicht nur unbemerkt in die Stadt der Seher einschleichen, sondern auch noch trotz all unserer Banne und Bindezauber durch unseren Tempel bis hierher vordringen? Zunächst einmal befinden wir uns außerhalb der normalen Zeit. Innerhalb dieses Raums haben wir ein Parallelreich betreten, und es gibt nur einen Weg herein oder hinaus. Die Tür, durch die ihr eingetreten seid, ist nur sichtbar, wenn wir es wünschen.«

Morio und Camille umrundeten das Pentagramm. Morio schnupperte. »Die Magie ist hier sehr dicht.«

»Ja, und hier werden wir Dredges Aufenthaltsort feststellen und seine Verbindung zu Menolly kappen.« Jareth gab Morio einen Wink. »Übernehmt das Element der Luft, wenn Ihr so freundlich wärt.« Morio blickte überrascht drein, gehorchte aber, und Jareth wandte sich an Camille. »Wenn Ihr im Westen wachen würdet.« Sie ging zu dem Saphir hinüber und stellte sich daneben auf.

»Wo soll ich hingehen?«, fragte ich, bereit, die Sache ins Rollen zu bringen.

»In die Mitte, aber jetzt noch nicht.« Er klatschte in die Hände, und die Tür öffnete sich erneut. Zwei verhüllte Gestalten glitten herein. Ich konnte nicht einmal ansatzweise ihre Gesichter unter den Kapuzen erkennen. »Sobald die Steine aktiviert sind, gehst du in die Mitte. Ich folge dir und schließe dann den Kreis.«

Die Lichtkugeln unter der Decke dämpften ihren Schein. Jareth gab der Gestalt an dem Saphir einen Wink. »Tut es ihr einfach gleich«, wies er Camille und Morio an.

Die verhüllte Frau – auf so engem Raum konnte ich ihren köstlichen Duft riechen – hob beide Hände und umfasste den Smaragd. Der Stein begann zu leuchten, erst nur ein Glimmen ganz im Zentrum, das sich dann ausdehnte. Ein Lichtstrahl schoss aus dem Kristall hervor, direkt in die Mitte des Diamanten.

»Bei Erde und Laub, heilige und schütze diesen Ort«, hallte das Flüstern der Frau durch die Kammer.

Morio warf Jareth einen Blick zu, und dieser bedeutete ihm, dass er nun an der Reihe war. Morio packte den Diamanten mit beiden Händen und sog scharf die Luft ein. Auch dieser Kristall begann zu glühen und schimmerte gleich darauf so gleißend weiß, dass es mir fast die Augen versengte. Der Strahl schoss hervor und küsste den Rubin.

»Bei Wind und Sturm, heilige und schütze diesen Ort«, sagte Morio, und seine Stimme zitterte ein wenig.

Jareth nickte dem verhüllten Mann hinter dem Rubin zu. Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor, aber ich konnte es nicht recht fassen. Er hob die Hände, und wieder schoss ein Lichtstrahl durch den Raum, diesmal so tiefrot wie Blut.

»Bei Sonne und Feuer, heilige und schütze diesen Ort.«

»Einen Augenblick«, sagte Jareth und hob die Hand, um Camille zurückzuhalten. »Komm, Menolly.« Er führte mich durch die Öffnung zwischen den westlichen und nördlichen Podesten hindurch in die Mitte des Pentagramms und wandte sich dann zu Camille um. »Schließt die Banne«, sagte er.

Camille ergriff mit beiden Händen den Saphir, und der Strahl schoss hervor und berührte den Smaragd. »Bei Eis und Wasser, heilige und schütze diesen Ort.« Noch während sie sprach, war ein Grollen aus dem Boden zu hören, das aus dem Mittelpunkt des Pentagramms kam, und ein Podest erhob sich aus den Marmorfliesen, auf dem eine riesige Kristallkugel ruhte.

»Und jetzt«, sagte Jareth und sah mich an, »ist es an der Zeit, dass wir herausfinden, wo Dredge ist. Und deine Verbindung zu ihm aufheben.«

Ich kniete mich vor das Podest und legte die Hände an die Kristallkugel. Das war der entscheidende Augenblick. Ich hoffte nur, dass Dredge nicht bemerkte, was geschah, und ein Blutbad anrichtete, ehe wir es nach Hause schaffen konnten.