Kapitel 13
Als ich durch das Feuer ging, drang mir der eindeutige Geruch von versengter Seele in die Nase. War dies das Ende? Im nächsten Augenblick setzte mein Fuß auf dem Boden auf, und ich hatte die Tür hinter mir. Ich stand nun im Foyer des Tempels, relativ unversehrt. Verflucht, ich fühlte mich, als hätte man mich auf links gedreht, ausgewrungen und zum Trocknen aufgehängt, aber als ich rasch an mir hinabschaute, schien alles noch an seinem Platz zu sein.
Der Tempel ähnelte einer altägyptischen Ruine, nur ohne den Schutt. Riesige Statuen einer Frau ragten zu beiden Seiten des gekachelten Gangs vor mir auf, als bewachten sie den Eingang zu etwas, das offenbar eine große Halle war. Die Statuen reckten die Arme aufeinander zu und bildeten einen Bogengang, den alle Besucher des Tempels durchschreiten mussten.
Zuerst hielt ich die Statuen für Bildnisse der Ma’at, der Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit, doch als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass sie es nicht war. Wer war das dann?
Der Vorraum war groß, ungeheuer weitläufig, die Öffnung zwischen den Statuen hingegen schmal. Es schien keinen anderen Weg in die große Halle zu geben als diesen beengten Bogengang. Ich trat vor und rechnete halb damit, dass die Statuen sich bewegen würden. Aber nichts geschah, also trat ich einen weiteren Schritt vor und dann noch einen, und schließlich rannte ich zwischen den hoch aufragenden Steinfiguren hindurch.
Sobald ich den Bogengang hinter mich gebracht hatte, drehte ich mich um, um nachzusehen, ob die Statuen sich bewegt hatten – aber nein, sie standen immer noch stumm da und bewachten die Tür. Erleichtert wandte ich mich dem Saal zu. Seltsam. Es war keine Glocke erklungen, als ich eingetreten war, und niemand erschien, um mich zu fragen, was zum Teufel ich hier zu suchen hatte. Ziemlich lahme Sicherheitsvorkehrungen, fand ich.
Der Saal war größer als alles, was ich je gesehen hatte, und zu Hause in Y’Elestrial hatten wir schon ein paar ziemlich prahlerische Hallen. Staunend und ehrfürchtig sah ich mich in dem wunderschönen Tempel um.
Zwei Wände und der Boden waren mit Marmor gefliest, und der Saal schimmerte im Glanz von tausend Lichtkugeln, die unter der Decke tanzten. Die Wände waren mit polierten Messingskulpturen geschmückt, Darstellungen von Göttern und Sterblichen in den Hallen der Toten. Ein Wandbehang aus elfenbeinfarbenem Leinen, kunstvoll mit goldenen und schwarzen Fäden bestickt, hing an der dritten Wand. Die gestickten Piktogramme der einzelnen Stoffstücke erzählten die Geschichte der Toten, die sich in einer langen Reihe aufstellten, um das Königreich des Lebens nach dem Tod zu betreten.
Wenn dies kein ägyptischer Tempel war, zu welcher Kultur gehörte er dann? Ich kannte nur sehr wenige Feen, die die ägyptischen Götter verehrten. Delilah bildete eine Ausnahme, mit ihrer Treue zu Bast. Für gewöhnlich hielten die Feen sich eher an die keltischen und europäischen Gottheiten, ein wenig auch an die griechischen und römischen. Allerdings stand nirgends geschrieben, dass die Seher von Aladril Feen waren. Sie sahen zwar menschlich aus, aber es war offensichtlich, dass sie keine gewöhnlichen VBM waren.
Ich blickte mich nach irgendeinem Anzeichen von Leben um. Nichts.
Es gab eine ganze Reihe von Türen. Ich würde wohl aufs Geratewohl herumprobieren müssen. Ich beschloss, mit der Tür zu beginnen, die dem Eingang direkt gegenüberlag. Als ich darauf zuging, legte ich mir zurecht, was ich sagen könnte, damit sie mich nicht umbrachten, ehe ich dazu kam, ihnen zu erklären, wer ich war und was ich hier wollte.
Die Tür war nicht verschlossen, und ich schob sie vorsichtig auf. Ein Geräusch wie Wind pfiff durch den dunklen Flur dahinter. Achselzuckend beschloss ich, es zu versuchen.
Der Flur erstreckte sich weiter, als ich sehen konnte. Ich erhaschte einen Hauch von Blutgeruch im Wind, aber es hing keine Furcht daran. Ich entschied, einfach der Nase nach zu gehen, wandte mich in den nächsten Flur links und folgte dem fast bis zum Ende, wo der Geruch herkam – er trieb unter einer Tür auf der linken Seite heraus.
Vielleicht bereiteten sie gerade das Abendessen zu, und es gab Fleisch, dachte ich. Oder vielleicht hatte eine Frau vor kurzem ein Kind geboren? Schließlich gab ich das Ratespielchen auf und öffnete die Tür.
Als ich den Raum betrat, fiel mir als Erstes ein nackter Mann auf, der auf einem erhöhten Podest saß. Er hatte die Beine im Lotussitz unter sich gezogen und hielt den Rücken sehr gerade. Etwas wie ein halbkreisförmiger Rahmen aus Bronze breitete sich von der Mitte seines Rückens aus. Die Arme hatte er seitlich ausgestreckt, parallel zum Boden, und er hielt den dünnen Metallstreifen fest, auf dem der Halbkreis ruhte.
Nadelspitze Stäbe waren gleichmäßig über den Halbkreis verteilt, wie Speichen eines Fahrrads. Ganz unten bogen sie sich auf seinen Rücken zu und durchbohrten nicht den Metallrahmen, sondern gruben sich in sein Fleisch. Ich sah kein Blut, obwohl ich es irgendwo riechen konnte. Und seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er ausgesprochen lebendig und fühlte kaum Schmerzen. Er musste irgendwelche richtig guten Drogen genommen haben. Entweder das, oder er war in tiefer Trance.
Er öffnete die Augen, starrte mich direkt an, machte aber keine Anstalten, sich zu bewegen. Langsam ging ich auf ihn zu, eher neugierig als um meine Sicherheit besorgt. Obwohl der Blutgeruch rein und stark war, hatte er keinerlei Wirkung auf mich. Fasziniert blieb ich einen knappen Meter vor dem Podest stehen, neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn.
Der Mann saß auf einem türkisfarbenen Kissen mit goldenen Quasten. Obwohl er mit untergeschlagenen Beinen dasaß, erkannte ich, dass er größer sein musste als jeder Mann, den ich je gesehen hatte. Er hatte dunkelbraunes Haar und so schwarze Augen, dass ich mich leicht darin hätte verlieren können. Er sah nicht im klassischen Sinne gut aus, aber er hatte etwas Fesselndes an sich, und ich stand stumm da, beobachtete ihn und konnte den Blick nicht mehr von ihm losreißen.
Fünf Minuten vergingen, vielleicht zehn... vielleicht auch zwanzig. Schließlich ging die Tür am anderen Ende des ansonsten völlig leeren Raums auf, und ein weiterer Mann trat ein. Er war kleiner als diese lebende Statue, sah aber genauso exotisch aus; er trug eine einfache, weite Leinenhose und eine leichte Jacke, mit einer goldenen Schärpe gegürtet.
»Ihr seid gekommen, um das Orakel der Dayinye zu befragen?«, erkundigte er sich.
Er war so gelassen. Wusste er denn nicht, dass ich ein Vampir war?
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich langsam. »Ich suche einen Mann namens Jareth. Mir wurde gesagt, ich könnte ihn hier im Tempel finden. Würdet Ihr mich bitte zu ihm bringen?«
Der Mann erwiderte meinen Blick, bis mir plötzlich schwindlig wurde und ich wegschauen musste. Wer war das? Kaum jemand konnte meinem Lächeln widerstehen, wenn ich meinen Vampir-Charme aufdrehte, aber er schien davon nicht im mindesten beeindruckt zu sein.
»Warum fragt Ihr nicht das Orakel?«, entgegnete er nach kurzer Pause.
Ich hatte die Spielchen satt, aber mir war klar, dass ich mich hier auf seinem Spielplatz befand und mich deshalb an seine Regeln halten musste. Seufzend wandte ich mich dem Mann auf dem Podest zu. »Was soll ich ihn fragen?«
»Das liegt allein bei Euch.«
Ich sammelte mich. Das könnte ein Trick sein – wie bei den Wünschen, die manche Dschinns so erfüllten, dass sie furchtbar schiefgingen, weil sie das Chaos liebten und die Bedeutung von Worten gern verdrehten. Vorsichtig sagte ich: »Ich suche Jareth. Ist er hier in diesem Tempel, und wird er mir helfen?« So, das schien mir ganz klar und einfach zu sein.
Das Orakel blinzelte und schloss dann die Augen. Ich konnte von keinem der beiden Männer mehr Atemzüge hören, und ihre Herzen schlugen auch nicht in dem Rhythmus, an den ich gewöhnt war. Das ist unmöglich, dachte ich. Sie waren beide lebendig – aber offenbar setzten alle meine Sinne aus.
Einen Augenblick später erfüllte eine donnernde Stimme den Raum, die verstummte, sobald die Worte an mein Ohr gedrungen waren, als hätte es die Stimme nie gegeben.
»Der Mann, den du suchst, ist hier, und er wird dir helfen. Die eigentliche Frage lautet: Was für Hilfe brauchst du wirklich? Der Pfad ist lang und qualvoll und führt nach innen. Dämonen sind nur Dämonen, wenn sie sich dafür entscheiden, im Feuer zu leben.« Danach schwieg er und sackte kurz in sich zusammen, ehe er die Augen wieder aufriss, sich aufrichtete und starr geradeaus blickte. Stumm und reglos wie ein Standbild.
Ich wandte mich dem anderen Mann zu. »Würdet Ihr mich jetzt zu Jareth bringen?«
Er neigte den Kopf und wies auf eine Tür im hinteren Teil des Raums. Ich folgte ihm, wobei ich um das Podest herumgehen musste.
»Ist er... sitzt er immer da mit diesem Ding auf dem Rücken?«, fragte ich und bemühte mich, einen respektvollen Tonfall anzuschlagen.
Mein Führer blickte sich nicht nach mir um, sondern sagte nur: »Ja, Tag und Nacht, jahrein, jahraus. Er ist das Orakel der Dayinye. Er wird Fragen beantworten bis zu dem Tag, an dem er stirbt, und dann wird seine Seele in das Paradies der Großen Mutter Dayinye einziehen.«
Wir gingen durch die Tür in einen weiteren Flur, der tiefer in den Tempel hineinführte. Dies schien der Wohntrakt zu sein, denn hier spürte ich mehr Bewegung, und hinter ein paar Türen hörte ich leises Schnarchen. Offenbar schliefen einige Bewohner des Tempels gerade.
»Wie lange ist er schon ein Orakel?«
»Seit zweihundertsiebenundfünfzig Jahren. Die Orakel dienen nur kurz – fünfhundert Jahre lang, dann sterben sie. Im vierhundertsten Jahr des alten Orakels wird ein neues ausgewählt. Dieses wird hundert Jahre lang dafür ausgebildet, die Position zu übernehmen, bevor es den Orakelthron besteigt.« Er wirkte recht liebenswürdig und schien gern bereit zu sein, meine Fragen zu beantworten. Ich beschloss, noch ein paar mehr zu riskieren.
»Und wer ist Mutter Dayinye? Es tut mir leid, ich bin mit dem Pfad Eures Tempels ebenso wenig vertraut wie mit dieser Stadt.« Ich blickte mich um, als wir einen Speisesaal betraten. Mein Begleiter bedeutete mir, an einem der Tische Platz zu nehmen, und ich setzte mich auf die Bank.
»Wartet«, sagte er und verschwand durch einen Bogengang. Gleich darauf kehrte er zurück, mit einem Kelch Wein und einem – holla! – einem Kelch Blut. Er wusste sehr wohl, was ich war.
Ich nahm den Kristallkelch entgegen und schnupperte. Menschlich – mehr oder weniger, mit einem magischen Aroma. Ich wollte nicht unhöflich erscheinen, also trank ich einen winzigen Schluck und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Das Blut war köstlich und glitt wie Nektar über meine Zunge. Einen Moment lang hätte ich schwören können, dass ich einen feinen Merlot oder Burgunder trank oder ein Glas Elfenelixier. Noch ein Schluck, und ich schmeckte Apfelsaft, Honig und Zimt.
»Bei allen Göttern, was ist das? Es ist köstlich.« Ich starrte den Kelch an und dachte, wenn ich ein-, zweimal pro Woche ein Glas davon haben könnte, wäre ich nicht halb so kratzbürstig.
»Das Blut unseres Orakels. Wir lassen ihn zweimal pro Woche zur Ader und bewahren das Blut für besondere Gelegenheiten und Rituale auf. Und für besondere Gäste.« Er lächelte mich verständnisvoll an und nippte an seinem Wein.
Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Anscheinend schadete es dem Orakel nicht, und auch wenn der Kerl da schon seit ein paar hundert Jahren saß – ich war wohl kaum in der Position, anzumerken, dass ich das ziemlich unschön für ihn fand. Außerdem ließ ich selbst eine Menge Leute für mich bluten, also beschloss ich, lieber den Mund zu halten.
»Ich bin Jareth«, sagte mein Gegenüber und streckte die Hand aus.
Ich starrte ihn an. Warum zum Teufel hatte er das nicht gleich gesagt? Oder hatte er mich mit dem Orakel irgendwie auf die Probe stellen wollen? Wieder einmal verkniff ich mir eine Erwiderung und nahm seine Hand. »Wie geht es Euch? Königin Asteria schickt mich zu Euch.«
»Die Elfenkönigin schickt Euch? Seltsame Zeiten sind das, wenn Elfen und Svartaner sich zusammentun und Asteria mir eine Vampirin schickt, damit ich ihr helfe. Sagt mir, was Ihr glaubt, von mir zu brauchen.« Dabei zuckte er nicht mit der Wimper.
Ich strich mit dem Zeigefinger über den Rand des Kristallkelchs und starrte auf das magische Blut, bevor ich noch einen Schluck trank. Schließlich stellte ich den Kelch ab und wischte mir unauffällig den Mund.
»Ich bin nicht freiwillig zum Vampir geworden. Der ElwingBlutclan hat mich verwandelt. Im Augenblick bin ich Erdseits postiert, und ich musste feststellen, dass der Elwing-Clan die Barrieren dorthin überwunden hat. Dredge, ihr Anführer und mein Meister, ist hinter mir her. Er könnte mit einer Floreade unter einer Decke stecken, die sich mit Dämonen aus den Unterirdischen Reichen verbündet hat. Ich muss herausfinden, wie ich Dredge finden und töten kann.«
Jareth lehnte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Und Ihr glaubt, ich wüsste es?«
»Königin Asteria ist offenbar der Meinung«, erwiderte ich und versuchte, in seiner Miene zu lesen. Er war undurchschaubar, dieser Mönch.
»Ihr glaubt, Ihr hättet in diesem Augenblick nicht die Macht, ihn zu besiegen?«
Ich sah ihm in die Augen und entdeckte dort etwas, das ich schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Verständnis. Reines, kristallklares Verständnis. Ich hätte weinen können, schüttelte aber nur langsam den Kopf. »Nein. Ich weiß, dass ich das nicht kann.«
»Ihr könnt Euren Meister finden. Alle Vampire können ihren Meister finden, sofern er noch nicht den endgültigen Tod gestorben ist.« Während er mich weiterhin anstarrte, bekam ich das äußerst merkwürdige Gefühl, dass er tief in meine Seele blickte, vorbei an meinem Zorn und den Erinnerungen, tief hinein in das Ich, das einmal gewesen war.
»Ihr wisst eine Menge über Vampire, nicht wahr?« Ich versuchte immer noch, seinen Gesichtsausdruck einzuschätzen. Irgendetwas an ihm faszinierte mich. Offensichtlich besaß er große Macht, aber er verbarg sie hinter einer stillen Maske.
»Genug für Eure Zwecke«, sagte er. »Ich habe einigen Vampiren geholfen, Kontrolle über ihre Impulse zu erlangen. Und ich habe auch ein paar verloren.«
Ein Schauer lief mir über den Rücken, kälter als meine Haut, kälter als der Tod. »Ein paar verloren?«
»Eine Handvoll von denen, die mich aufgesucht haben. Ich konnte ihnen nicht helfen. Entweder wollten sie sich dem Dämon in ihrem Inneren nicht stellen, oder sie waren zu begeistert davon. Sie haben nicht nach innerer Balance gesucht und sind zu Ungeheuern geworden.« Als er meinen Blick auffing und festhielt, wusste ich es – ich wusste, warum Königin Asteria mich angewiesen hatte, ihn aufzusuchen.
»Ihr habt versucht, Dredge zu helfen, nicht wahr?«
Jareth schlug die Augen nieder. »Manchmal verliert man das Spiel, ganz gleich, wie sehr man sich bemüht. Dredge war mein erster – und schwerster – Misserfolg.«
Ich dachte scharf nach. Wenn Jareth Dredge ganz zu Anfang kennengelernt hatte, musste er unglaublich alt sein. Und er wusste, wie Dredge tickte. Er hatte unschätzbar wertvolle Informationen darüber, wie ich meinen Alptraum besiegen konnte.
»Werdet Ihr mit mir arbeiten?« Ich trank meinen Kelch aus und stellte ihn beiseite. »Dredge hat eine Freundin von uns entführt. Ich mache mir keine großen Hoffnungen mehr, aber vielleicht... vielleicht können wir sie retten. Er hat das getan, um mich zu verletzen. Ich glaube nicht, dass er sie sofort getötet hat.«
Jareth beugte sich über den Tisch. »Wenn Ihr um meine Hilfe bittet, werde ich Euch zwingen, dunkle Pfade zu beschreiten, Menolly. Ihr müsst Euch mit Euren Erinnerungen anfreunden, bevor ich Euch zu Dredge führen kann. Er ist Euer Meister. Wenn Ihr es jetzt mit ihm aufnehmt, ohne meine Hilfe, garantiere ich Euch, dass er Euch am Ende vollkommen beherrschen wird. Dredge ist anders als die meisten Vampire. Wisst Ihr, was er vor seiner Verwandlung war? Hat er Euch seine Geschichte erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir gar nichts gesagt, außer was er mit mir machen würde. Und er hat jedes Versprechen gehalten, das er mir in dieser Nacht gegeben hat.« Ich kniff die Augen zu und versuchte, die Bilder zu verscheuchen, die plötzlich in mir aufblitzten.
»Solange Ihr Eure Erinnerungen fürchtet, seid Ihr ihm ausgeliefert. Ich muss Euch zu diesem Schmerz zurückbringen, in jene Nacht, um Euch von den Ketten befreien zu können, die Euch an Dredge fesseln.« Er stand auf. »Seid Ihr stark genug, diese Reise durchzustehen? Könnt Ihr Euch mir hingeben und zulassen, dass ich Euch in Stücke breche, damit wir die Teile wieder zusammenfügen können?«
»Ich dachte, das hätte der AND schon getan, als ich es endlich nach Hause geschafft hatte«, sagte ich, weil ich irgendeinen Ausweg suchte. »Sie haben ein Jahr lang daran gearbeitet, meine geistige Gesundheit wiederherzustellen. Könnt Ihr mir denn nicht einfach sagen, was Ihr über Dredge wisst?«
Jareth bedeutete mir, ihn zu begleiten. Wir gingen durch einen verwinkelten Korridor zurück in den großen Saal. »Der AND hat lediglich die schlimmsten Wunden verbunden. Sie haben Euch beigebracht, wie Ihr die Erinnerungen aushalten könnt, aber nicht, wie Ihr sie überwindet. Ich bin Schamane. Ich kann Euch lehren, Euch über alles zu erheben und die Kontrolle über das zu erlangen, was Euch geschehen ist. Erst dann werdet Ihr eine Chance haben zu siegen, wenn Ihr Dredge zum Kampf stellt.«
Er zögerte und fuhr dann fort: »Was glaubt Ihr, was geschehen würde, wenn Ihr und Eure Schwestern gegen ihn vorgeht und Ihr plötzlich auf seine Seite überlauft? Sosehr Ihr ihn auch hasst, er kann Euch ohne weiteres zu seiner Marionette machen.«
Ich blieb stehen wie erstarrt. »Wollt Ihr damit sagen, dass er mich beherrschen kann, gegen meinen Willen?«
»Ihr seid in der Lage, andere zu hypnotisieren, wollt aber nicht glauben, dass es hier um viel mehr geht? Dredge ist achthundert Jahre alt, Menolly. Er ist ein höherer Vampir, und zuvor, im Leben, war er ein Hohepriester des Jakaris, obwohl er gar kein Svartaner ist. Man hätte ihn schon vor Jahrhunderten in die Unterirdischen Reiche verbannen sollen, doch es ist ihm stets gelungen, seine Verfolger auszutricksen.«
Ein Hohepriester des Jakaris. Ein Priester des svartanischen Gottes des Lasters und der Folter. Kein Wunder, dass er es so sehr genoss, anderen Schmerzen zuzufügen. Das war sein Lebensweg gewesen, und er hatte ihn auch im Tod nicht aufgegeben. Ich drückte eine Hand auf den Magen, weil mir plötzlich schlecht war. »Daneben sieht Dracula aus wie ein Chorknabe, nicht?«
»So könnte man es ausdrücken«, erwiderte Jareth. »Aber Vlad hat noch eine gewisse Moral, so skrupellos er nach außen hin scheinen mag. Dredge hat keinerlei Gewissen. Wenn er es wirklich auf Euch abgesehen hat, wird er systematisch alle vernichten, die Euch etwas bedeuten, und zwar auf möglichst grauenhafte Weise, ehe er sich Euch vornimmt. Er will nicht töten, er will Schrecken und Schmerz auf seine Feinde herabregnen lassen.«
Scheiße. Mir blieb keine andere Wahl. »Kennt Ihr einen Incubus namens Rozurial? Er ist auch hinter Dredge her.«
Jareth nickte. »Er wollte sich von mir unterweisen lassen, aber ich unterrichte keine Incubi, und außerdem wurde ihm der Zutritt zur Stadt verweigert. Er ist also in die Erdwelt gegangen, um Dredge aufzuspüren?«
Ich nickte. »Er hat mir sehr geholfen.«
»Schön, schön. Ihr könnt ihm vertrauen, zumindest was diese Sache angeht. Wie viele andere hegt er einen sehr alten Groll gegen den Elwing-Blutclan. Nun, wir haben keine Zeit zu verlieren. Werdet Ihr Euch in meine Hände begeben? Königin Asteria hat Euch geschickt. Ich kann Euch helfen, aber Ihr müsst mir vollkommen vertrauen.«
Die Vorstellung, die Kontrolle über mich selbst an jemanden abzugeben, war furchterregend. Mein Instinkt, niemandem zu vertrauen, kreischte, als hätte ich ihn in Brand gesteckt. »Gewährt Ihr mir eine Stunde, um darüber nachzudenken? Ich würde vorher gern mit meiner Schwester sprechen.«
»Selbstverständlich. Ich werde warten. Aber denkt daran, wenn Ihr Euch weigert, könnt Ihr nicht in diesen Tempel zurückkehren. Niemals. Dieses Angebot mache ich Euch nur ein einziges Mal, und zwar jetzt.« Er führte mich durch die überlebensgroßen Statuen hindurch zur Tür.
»Darf ich fragen... wer sie ist? Ihr habt vorhin Mutter Dayinye erwähnt. Sind das Statuen von ihr?« Ich wies mit einem Nicken auf die steinernen Figuren.
»Sie ist unsere Göttin. Die Große Mutter Dayinye ist die Wächterin der Seelen, die Hüterin des Gewissens. Durch sie suchen wir die Wahrheit. Sie erkennt den Pfad unseres Schicksals. Weichen wir davon ab, ermahnt sie uns sanft – beim ersten Mal. Beim zweiten Mal ist der Tadel barscher. Wer zum dritten Mal abweicht, den zerstört sie durch das tosende Feuer ihres Gerichts.«
Er wandte sich ab, als ich die Tür öffnete, rief mir aber noch über die Schulter zu: »Ich werde Euch nicht weh tun, Menolly. Nicht mehr, als nötig ist, um Euch in die Lage zu versetzen, Eurem Feind entgegenzutreten – und ihn zu vernichten.«
Ich fand Camille und Morio im Park, wo sie sich unter der Mondmutter, die langsam dem dunkelsten Punkt ihres Kreislaufs entgegenstrebte, an den Händen hielten. Sie wirkten irgendeine Art von Magie, vermutlich einen Abschirmungszauber. Lautlos glitt ich von hinten an sie heran.
Ohne aufzublicken, sagte Camille: »Ich weiß, dass du da bist. Komm ins Licht, Menolly.«
Sie wurde immer besser, dachte ich. Delilah und ich konnten es spüren, wenn sich jemand an uns heranschlich. Camille war nicht ganz so gut, aber sie hatte geübt. Ich setzte mich neben sie.
»Wir müssen reden. Können wir uns ein Gasthaus suchen?« Ich hatte gelernt, sie nicht zu berühren, wenn sie gerade einen Zauber gewirkt hatte – manchmal löste der Kontakt unserer Energien mehr aus, als uns lieb war.
Sie erschauerte. »Hört sich gut an. Ich würde zur Abwechslung gern auf etwas Weichem sitzen statt auf dem Boden. Hast du Jareth gefunden? Wer ist er? Und wie ist er?«
Ich warf Morio einen Blick zu. »Ich möchte nicht hier draußen darüber sprechen. Schutzvorrichtungen hin oder her, ich würde mich hinter geschlossenen Türen sicherer fühlen.«
Er streckte Camille die Hand hin und half ihr auf. Als er auch mir die Hand reichen wollte, schnaubte ich. »Du weißt genau, dass ich keine Hilfe brauche... aber trotzdem danke. Ich weiß das Angebot zu schätzen.«
Wir verließen den Park auf demselben Weg, auf dem wir gekommen waren. Tavernen und Gasthäuser befanden sich im Zentrum der Stadt. Wir waren kaum zehn Minuten gelaufen, als wir auf ein Wirtshaus namens Muscheln und Bier stießen.
»Sieht doch ganz vielversprechend aus«, sagte Camille und öffnete die Tür. Sie sollte recht behalten. Bis auf die Unterschiede in Deko und Beleuchtung hätte das hier irgendein gutes Hotel in der Erdwelt sein können. Die Wände waren in sattem Blaugrün und Rosé gehalten. Am Empfang stand ein Elf. Ich blinzelte. Wir hatten hier noch nicht viele andere Rassen gesehen, außer den Sehern, was auch immer die für eine Abstammung haben mochten.
»Womit kann ich dienen?«, fragte der Elf höflich, aber wie alle anderen hier sehr reserviert.
»Wir brauchen ein Zimmer«, sagte Camille und zog eine Börse zwischen ihren Brüsten hervor. Ich lächelte. Man konnte sich darauf verlassen, dass meine Schwester ein praktisches Versteck für ihr Geld fand.
»Wie viele Betten?«, fragte der Empfangself.
»Zwei. Wir möchten uns nur ausruhen und etwas essen. Wir möchten eine Mahlzeit für zwei, bitte aufs Zimmer. Etwas mit reichlich Eiweiß.« Camille legte ihm drei Münzen auf die Handfläche.
Elqaneve-Münzen – klug. Die wurden fast überall in der Anderwelt angenommen. Wir bewahrten einen hübschen Vorrat an Geld aus diversen Stadtstaaten zu Hause in einem Wandsafe auf, nur für den Fall, dass wir schnell hierher zurückkehren mussten. Und Trillian schien es auch nie an Geld zu fehlen, jedenfalls von der Sorte, die er hier ausgeben konnte. Erdseits war er ständig pleite.
Nachdem wir dem Empfangself unsere Kettenpässe gezeigt hatten, gingen wir nach oben. Die Treppe war mit handgewebten Teppichen belegt. Unser Zimmer war die erste Tür rechts im zweiten Stock. Camille öffnete sie und schob uns hinein.
Der Raum war drei mal vier Meter groß und enthielt zwei Betten, einen kleinen Tisch und zwei Stühle und einen Badezuber. Bäder in Hotels waren eine schwierige Sache, jedenfalls in den meisten Städten hier. Zimmermädchen mussten sie Kanne für Kanne von Hand füllen, außer es gab irgendeine magische – oder primitive mechanische – Vorrichtung dafür. Sie kosteten ziemlich viel extra, wegen der Arbeit und dem Holz, das man brauchte, um das Badewasser zu erhitzen. Camille ließ sich auf eines der Betten sinken und zog sich die Decke über die Schultern. Es war nicht kalt im Zimmer, aber kühler als in den Gärten.
Morio setzte sich rittlings auf einen der Stühle und stellte seine Tasche neben sich auf den Boden. »Also, wie ist es gelaufen?«
Ich runzelte die Stirn. »Ich bin nicht ganz sicher, um ehrlich zu sein. Ich habe Jareth gefunden. Er ist ein sehr mächtiger Seher, das steht fest. Oder Schamane. Ich weiß nicht genau.«
»Ein Schamane, hm? Wie könnte der dir helfen?« Camille zog ihre Stiefel aus, und Morio setzte sich vors Bett, nahm ihre Füße und rieb sie sacht. »Danke, Süßer«, sagte sie und beugte sich vor, um ihn zärtlich zu küssen.
»Er kann mir helfen, Dredge zu finden und ihn zu vernichten«, sagte ich. »Aber die Sache hat einen Haken.« Ich erklärte ihnen alles.
»Bist du sicher... «, begann Morio, doch Camille unterbrach ihn.
»Er will dich dafür trainieren, dem Schmerz zu widerstehen. Ich habe mich mit Venus Mondkind über solche Techniken unterhalten. Man lernt, den Schmerz erneut zu durchleben, ihn zu läutern, und dann kann man ihn endlich loslassen. Ein gut ausgebildeter Schamane kann den Schmerz, der ihm zugefügt wird, benutzen und auf seinen Feind zurücklenken.« Sie sah mir fest in die Augen. »Was willst du tun?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, mir bleibt gar keine andere Wahl. Dredge wird sich durch alles und jeden, der mir etwas bedeutet, voranarbeiten, bis er schließlich bei mir ankommt.« Ich sah Camille an. »Du weißt, dass er Erin foltern wird – wenn er es nicht schon getan hat. Er wird sie eine Weile am Leben erhalten, denn er will, dass ich sehe, was er vollbracht hat. Aber letztendlich wird er sie in Stücke reißen. Sie wird sich niemals ganz davon erholen, was er ihr angetan hat. Ich kann ihn vielleicht nicht daran hindern, sie zu töten, aber ich kann ihn davon abhalten, sich weitere Opfer zu nehmen.«
»Er schart eine Armee um sich«, unterbrach Morio mich.
»Wie bitte?« Camille und ich starrten ihn an.
»Er baut sich eine hübsche kleine Armee auf. Ich glaube, er will sich eine Truppe Vampire zulegen, die groß genug ist, um ein wahres Blutbad in der Stadt anzurichten.« Morio rutschte ein Stück und nahm sich Camilles anderen Fuß vor.
»Denkt doch mal darüber nach«, fuhr er fort. »Der Kerl ist irre, das wissen wir. Aber er ist außerdem machtgierig. Du bist es, auf die er es abgesehen hat, ja, aber überleg mal, was es für ihn bedeutet, in der Erdwelt zu sein. Er hat eine frische Leinwand, auf der er malen kann. Eine Menge Leute Erdseits wissen noch nicht viel über Vampire. Bis sich seine Taten herumsprechen, hat er schon einen großen Schritt dahin getan, die Unterwelt von Seattle zu beherrschen.«
Das Bild, das er da zeichnete, nahm vor meinem inneren Auge grausige Gestalt an. Der Elwing-Blutclan, nur viel größer. Mit womöglich Hunderten neugeborener Vampire unter Dredges Kontrolle. Sie würden jagen, und sie würden jeden ausschalten, der sich ihnen in den Weg stellte. Wade, Sassy und ich konnten nicht einmal hoffen, diesem neuen Vampirbild eine Delle zu verpassen – keine Chance. Und bald würden wegen Dredges Marionetten alle Übernatürlichen zur Zielscheibe von Racheaktionen werden.
»Heilige Scheiße«, sagte ich. »Du hast recht. Dredge baut sich eine Armee auf, in einer Welt, die sich nicht gegen ihn schützen kann. Ich muss Jareths Angebot annehmen. Ich kann es mit Dredge aufnehmen, wenn ich gut vorbereitet bin. Andernfalls... habe ich keine Chance.«
Camille glitt vom Bett, trat zu mir und legte mir einen Arm um die Schultern. »Menolly, du schaffst das. Du hast Dredge überlebt, du bist aus dem Abgrund zurückgekehrt... du kannst alles überleben, womit Jareth dich auch konfrontieren mag.«
»Aber das ist ja das Problem«, sagte ich mit zitternden Knien. »Ich werde zu jener Nacht zurückkehren müssen, in die Dunkelheit, als er versucht hat, meine Seele zu vernichten.« Meine Stimme klang gepresst und schrill wie die einer Banshee, und ich fiel auf die Knie. »Ich will das nicht noch einmal durchleben! Ich begegne schon zu vielen Erinnerungen in meinen Träumen.«
Meine Schwester kniete sich neben mich und nahm meine Hand. »Es ist nicht fair, und das war es nie. Aber, Menolly, du musst das tun. Du weißt es, und ich weiß es. Und wenn es vorbei ist, kannst du Dredge aufspüren und seine Seele auslöschen. Die Götter werden auf dich herablächeln.«
»Die Götter können von mir aus zur Hölle fahren«, erwiderte ich heiser und griff nach ihrer Hand. »Ich bin so dankbar, dass du da bist. Würdest du mir helfen und auf mich aufpassen? Würdest du mitkommen, wenn Jareth damit einverstanden ist? Ich brauche dich.«
Sie nickte. »Auf mich kannst du dich verlassen. Du kannst dich immer und überall auf mich verlassen.«
Und damit war es in Ordnung. Camille würde dabei sein. Meine große Schwester, die nach Mutters Tod deren Rolle übernommen hatte, die unser Fels in der Brandung geworden war, die einen kühlen Kopf bewahrt hatte, als ich rasend vor Blutdurst ins Haus geplatzt war, die uns im Kampf gegen Bad Ass Luke und das erste Degath-Kommando angeführt hatte... Sie würde da sein und auf mich aufpassen, wie immer. Plötzlich wurde mir klar, dass ich trotz Folter und Verwandlung immer noch meine Familie brauchte. Ich brauchte ihre Liebe. Ich brauchte jemanden, zu dem ich gehören konnte.