Wer zu spät kommt ...

 

Ob bei Kinderkrippen, im Schnapsverbrauch oder mit dem eigenen Tod – der Westen hinkt immer hinterher. Wie sollen uns solche Penner in Zukunft durchfüttern? Ein Kopfschütteln.

 

Manchmal jagt eine dramatische Meldung aus Wiesbaden die nächste, und dabei ist das – selbst für westdeutsche Verhältnisse – keine besonders aufregende Stadt. Schuld sind die Erbsenzähler vom Statistischen Bundesamt. Vielleicht auch an der Langeweile, sicher aber nicht am Babyboom, den sie gerade verkündet haben: Danach lag die deutsche Gebärleistung im vergangenen Jahr so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Im Gegensatz zu westdeutschen Frauen mit 1,39 Kindern stieg die Zahl im Osten sogar auf 1,46 Kinder pro Frau.

Dies nur mit mehr Spaß, Know-how und Effizienz in ostdeutschen Schlafzimmern (siehe Seite 46) zu erklären, solche Binsenweisheiten überhaupt zu erwähnen – oder durch einen zusätzlich eingeschobenen Halbsatz noch zu betonen –, wäre zu einfach, ja beinahe platt. Vermutlich hängt es auch damit zusammen, dass Westdeutsche zwar öfter heiraten, sich aber viel seltener trauen, auch mal in der Mittagspause eine Nummer mit der Kollegin zu schieben beziehungsweise überhaupt Hemmungen haben, ohne Trauschein zu vögeln. Denn wie das Statistische Bundesamt nur mit wenigen Tagen Abstand meldete, kommen Kinder im Osten auch mehr als doppelt so häufig unehelich zur Welt wie im Westen. Und da hat der Töpfchen-Professor Pfeiffer (siehe Seite 144) vom Kriminologischen Forschungsinstitut Hannover noch nicht mal alle Tiefkühltruhen mitgezählt. Sechs von zehn Neugeborenen im Osten sind demnach das, was man früher einen Bastard nannte. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt sogar 64 Prozent. Respekt! Ich kann mich an keine Statistik erinnern, in der diese beiden dünn besiedelten Bundesländer schon einmal vorn lagen. Außer vielleicht beim Schnapsverbrauch pro Kopf oder den wenigsten rechtsradikalen Straftaten pro Quadratmeter.

Es ist faszinierend und auch ein wenig traurig: Westdeutschland schafft sich ab. Fast scheint es, als wollte uns das Bundesamt mit solchen Meldungen von der größten Datenerfassung seit dem Sturm auf die Stasi-Zentralen 1989 ablenken, die derweil in aller Stille durchgezogen wird. Weil auch nach der Volkszählung dramatische Verschiebungen amtlich werden – so sollen etwa viel mehr Menschen aus dem Osten abgewandert sein, als sonst oft beklagt –, mache ich mir außerdem Sorgen, wen man in Zukunft noch als West-Arsch beschimpfen soll, wenn es dort kaum noch welche gibt. Und wer soll den ostdeutschen Rest durchfüttern? Etwa der Ex-Chemnitzer, der in München Müll fährt, oder die Erfurterin, die in Paderborn westfälische Nazi-Witwen füttert? Bei deren Löhnen kommt doch hier kaum noch was an! Da können wir auch gleich die Griechen nach einem Solidaritätszuschlag fragen.

Wie der Westen unsere gemeinsame Zukunft verspielt, erinnert fast an das berühmteste Zitat von Michail Gorbatschow, das in Wahrheit nie so gefallen ist. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, soll er angeblich gesagt haben, als er die DDR zu ihrem 40. und letzten Geburtstag besuchte. Wörtlich sagte Gorbatschow aber am 5.10.1989 auf dem Flughafen Schönefeld zu Honecker nur: »Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.«

Möglicherweise hat das ein West-Reporter etwas knackiger zurechtgefummelt oder ein heimlicher Dissident falsch übersetzt – Honecker machte jedenfalls noch ein paar Tage weiter wie bisher. Wenn ich aber lese, dass im Westen selbst 22 Jahre später nur jedes sechste Kleinkind einen Krippenplatz findet, nagen doch Zweifel am gesellschaftlichen Fortschritt der Hausfrauen-Diktatur. Selbst wenn sie wollten, tragen die Mütter dieser Kinder ohne eigenes Einkommen schließlich nichts zum Aufbau Ost bei. Dabei brauchen wir hier auch immer noch für jedes zweite Kind einen Krippenplatz. Und wie soll das erst werden, wenn im August 2013 der Rechtsanspruch darauf wirksam wird?

Wie soll der Westen das alles aufholen? Erst ein Jahr weniger bis zum Abitur, das straffe Bachelor-Studium, Pisa und so weiter. Eben erst hat Nordrhein-Westfalen nach jahrelangem Streit um die drei klassischen westdeutschen Schulformen eine vierte eingeführt. Die »Sekundarschule« wird dort wie eine Neuerfindung gefeiert, während Eltern von Kindern, die jetzt auch endlich nach zwölf Jahren das Abitur machen dürfen, wieder jammern …

Nach wie vor kommt es in Westdeutschland zu lokalen Epidemien der Masern, weil sich asoziale Impfgegner auf die anderen verlassen. Sie glauben an die Heilkraft von Kügelchen aus Milchzucker oder spielen bei Hausgeburten Russisches Roulette: Das ist Mittelalter dort! Aber feixen, weil Ostdeutschland schon 1988 beim Pro-Kopf-Verbrauch von Schnaps unangefochten Weltspitze war. Mit 16,1 Litern im Jahr, wie der Cottbuser Ethnologe Thomas Kochan für sein Buch Blauer Würger herausfand, noch vor Polen. Westdeutschland spielte nie in dieser Liga, und so setzt sich das überall fort: Ob wir über den ersten Deutschen im All reden oder die Abschaffung der Prügelstrafe an Schulen (DDR: 1949, BRD: 1973, Bayern: 1980). Ob es um die Abschaltung von Atomkraftwerken oder die so genannte Energiewende geht, die im Osten mit teilweise bis zur Hälfte des erzeugten Stroms aus Wind- und Bioenergie längst vollzogen ist. Oder bei der Ausbeutung von Billiglohn-oder Leiharbeitern – inzwischen liegt der Osten sogar vorn, was modernen Kapitalismus betrifft. Diesen ganzen altmodischen Mist mit Gewerkschaften, Mindestlöhnen und Arbeitnehmervertretung haben wir schon überwunden, während sich der westdeutsche Lohnsklave immer noch an die 37-Stunden-Woche klammert.

Schon jetzt baut Porsche in Leipzig mehr Autos als in Stuttgart, obwohl hier kein Einheimischer damit fährt. Schimpansen im Wuppertaler Zoo führen ein grausameres Leben als manche Menschen in Marzahn. Leipziger Affen dagegen leben in der weltgrößten Menschenaffenanlage außerhalb von München oder Berlin-Mitte.

Wohin es führt, wenn man heutzutage nicht flexibel auf das Leben reagiert, musste kurz nach Honecker schon der westdeutsche Sandmann schmerzlich spüren. Erinnert sich überhaupt noch jemand an den? Er sah mit seinem Bart aus wie der berühmte Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn und sollte den künftigen Kapitalmarkt-Opfern Sand in die Augen streuen. Genau eine Woche, bevor er 1959 auf Sendung ging, stattete das DDR-Fernsehen Unser Sandmännchen mit Sandsack und Ulbricht-Bart aus und schickte es an die Front des kalten Krieges gegen den SFB-Kollegen.

Danach kämpfte der arme Kerl in ständig wechselnden ARD-Anstalten um die Gunst der eigenen Kinder. Doch selbst die sahen lieber dem Ost-Sandmännchen zu, wie es Pionierferienlager besuchte oder als Kosmonaut seinen Kollegen auslachte, bis es ihn schließlich 1991 ganz in Rente schickte. Es blieb lange der einzige Fall unter diesen statistisch gewissermaßen umgekehrten Vorzeichen, aber auch für die wachsende Zahl abgewickelter Westler hat das zuständige Bundesamt einen Trost: Ost-Rentner sterben im Durchschnitt ein halbes Jahr eher. Und – von wegen, das wächst sich alles aus – dieser Abstand wächst sogar. Berechnungen des Bundesamtes gehen davon aus, dass ein Junge, der 2009 in den alten Ländern geboren wurde, fast eineinhalb Jahre länger zu leben hat als einer aus dem Osten. Weil sie weniger arbeiten? Seltener in Afghanistan den Kopf hinhalten? Weil Westdeutsche im Leben schon genug gestraft sind? Keine Ahnung – jedenfalls ein Grund mehr, die Schnauze zu halten.

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_001.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_002.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_003.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_004.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_005.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_006.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_007.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_008.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_009.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_010.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_011.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_012.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_013.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_014.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_015.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_016.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_017.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_018.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_019.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_020.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_021.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_022.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_023.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_024.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_025.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_026.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_027.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_028.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_029.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_030.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_031.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_032.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_033.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_034.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_035.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_036.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_037.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_038.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_039.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_040.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_041.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_042.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_043.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_044.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_045.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_046.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_047.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_048.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_049.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_050.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_051.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_052.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_053.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_054.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_055.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_056.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_057.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_058.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_059.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_060.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_061.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_062.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_063.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_064.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_065.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_066.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_067.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_068.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_069.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_070.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_071.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_072.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_073.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_074.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_075.html
CR!8S8ZCVBYX51JXFZV5W42KH9M65DX_split_076.html