Vier Panzersoldaten und ein Hund

 

Wenn einer schon Ludger heißt und aus dem Münsterland stammt, kann er sich noch so sehr bemühen: Westdeutsche werden das nie los. Warum versuchen sie es trotzdem? Ein Rätsel.

 

Mein zweitbester bester Freund heißt Ludger und ist – das gebe ich hier weitgehend schamlos zu – auch einer von ihnen. Er kann nichts dafür, müht sich seit 19 Jahren redlich um Assimilation und doch fehlt uns beiden zum Beispiel die überwältigende Erfahrung, Seite an Seite auf einem Topf gesessen und mit aller Kraft den Plan der sozialistischen Sauberkeitserziehung erfüllt, ja übererfüllt zu haben, wie ich sie mit meinem erstbesten besten Freund seit der gemeinsamen Zeit in einem Kinderkrippenkollektiv teile.

Laut empirischer Windelforschung brauchen Kinder im Westen bis heute länger dafür. Der lange Weg aufs Klo ist sicher vergleichbar mit den altmodischen 13 Jahren bis zum West-Abitur, vielleicht aber auch nur ein Werbeerfolg der Pampers-Industrie. Den werktätigen Müttern der DDR gaukelte niemand vor, ein Kinderhintern müsse nicht vor der Konfirmation trocken sein, sondern sich lediglich so anfühlen. Diesbezüglich ist sogar Ludger, 44, indessen aus dem Gröbsten raus. Sein – unser – Problem ist ein anderes.

Seit er 1991 mit etlichen anderen Journalisten zu ersten Feldstudien in den besetzten Gebieten einfiel, will er unbedingt so werden wie die Leute dort. Anfangs fand ich das noch rührend, etwas befremdlich vielleicht, aber wir haben so auch viel voneinander gelernt. Ich half ihm, nicht sofort überall unangenehm aufzufallen. Im Gegenzug erklärte mir Ludger, ein studierter Volkswirt, komplizierte Dinge aus seiner Welt, den seltsamen Kreislauf der Mehrwertsteuer zum Beispiel, oder wie die so genannte Gewaltenteilung eigentlich funktionieren sollte. Heute glaubt er daran selbst nicht mehr.

Anders als ich wählt er die linke Stasipartei, hat sich von der Allmacht des freien Marktes emanzipiert und versucht sich sogar so anzuziehen, wie er glaubt, dass sich Ostdeutsche anziehen. Er liest Bücher über DDR-Kinder-Fernsehserien, kennt jeden Star dieser Pittiplatsch-Republik und erwartet bei jeder Gelegenheit Prüfungsfragen wie zum Einbürgerungstest. Na los, verlangt er dann, frag mich ab: Wie heißt der Hund aus Vier Panzersoldaten und ein Hund? Wie viel PS hat ein Trabi? Wer war noch mal IM Notar?

Ludger aus Telgte im Münsterland ist bestimmt der größte DDR-Nostalgiker, den ich kenne, und vermutlich der Einzige, bei dem diese Macke nicht auf Selbsterfahrung beruht. Er sammelt alles, was aus der volkseigenen Konsumgüterproduktion an Eierbechern und anderem Schnulli noch zu haben ist. Will immer noch alles über das Leben in der Zone wissen, als wüsste er dann Bescheid. Versucht jeden Alltags-Pups zu ethnologischen Erkenntnissen über die mentalen Unterschiede aufzublasen, die er so gern überwinden würde. Oft geht das selbst mir zu weit – und zunehmend auf die Nerven.

Zuletzt will Ludger herausgefunden haben, warum wir angeblich immer so schnell jämmerlich wirken, auch wenn wir gar nicht jammern. Und weil es immer wieder schön ist, wenn uns einer von ihnen erklärt, wie wir wirklich sind, gebe ich den Unsinn hier mal wieder: Nach Ludgers Beobachtung entscheidet sich das in der ersten Minute einer deutsch-deutschen Begegnung – oft schon nach der harmlosen Frage, wie es geht. Seine Leute würden auf diese Floskel stets mit einem übertriebenen »blendend« antworten oder platzen sogar ungefragt damit heraus, was ihnen gerade Glückliches widerfahren ist: Im Job, privat »alles super« – auch und erst recht dann, wenn es ihnen gerade nicht besonders gut geht, denn dann geht das niemanden etwas an. Wir dagegen, behauptet Ludger, würden sogar stöhnen, wenn es uns gar nicht besser gehen könnte …

Wir – und daran merkt man mal wieder, wie viel Ludger noch lernen muss – wollen vor allem wissen, wie es einem geht, wenn wir fragen, wie es einem geht. Es ist eben nicht nur eine Floskel. Und wenn wir in eigener Sache stöhnen – muss ja, wird schon, könnte schlechter sein –, dann lediglich aus Zurückhaltung: Könnte ja sein, dass es Westdeutschen doch nicht so gut geht, wie sie immer tun. Gerade hat er das ja selbst zugegeben.

Ludger widerspricht dem nicht, schlimmer noch: Er findet das »interessant«. Ein Rätsel. Kein Wunder, dass wir seit Jahren aneinander vorbeireden.

Rätsel und Wunder – so ein Quatsch! Die einen lügen, die anderen antworten halbwegs ehrlich. Das ist alles. Aber was will man erwarten, wenn einer Ludger heißt, mit Nutella und Bild-Zeitung aufwuchs und immer noch hofft, man könne ihm das eines Tages nicht mehr anmerken. Allein dieser Ehrgeiz, mit dem er vermeintliche Eigenarten sammelt, imitiert und sich einverleibt, spricht für sich, aber nicht für einen Möchtegern-Ossi. Wie anmaßend das ist, wie herablassend, was der sich überhaupt einbildet! Entschuldige bitte, Ludger, wenn ich es Dir nun auch mal öffentlich sage: Du wirst es nie ganz begreifen! Eigentlich geht es Dich auch nichts an. Und wenn es Dich tröstet: Ich mag Dich auch so. Du musst nicht neidisch sein auf eine Jugend zwischen IMs und Panzersoldaten, höchstens darauf, wie viel einfacher es ist, mit einem deinesgleichen verwechselt zu werden als umgekehrt, in ganz bitteren Momenten sogar von den eigenen Landsleuten.

Im Westen passiert mir das ständig. Da reicht schon eine große Klappe, ein Mietwagen oder mit Messer und Gabel essen zu können, schon staunen sie: Ach, von drüben? Merkt man gar nicht mehr … Sie meinen das vermutlich als Kompliment. Sie wissen nicht, dass Anpassung eines der Hauptfächer in der sozialistischen Schule war. Dass es sogar Besteck gab in der DDR. Und gewöhnlich stellen sie dann sofort Fragen wie Ludger vor 20 Jahren: Wie, wollte neulich in Hamburg jemand bei einer Grillparty von mir wissen, habt ihr eigentlich damals gegrillt? Leider ist nicht immer sofort klar, ob solcherlei Interesse nur geheuchelt oder Verlegenheit ist, reine Dummheit oder Frechheit. Vorsichtshalber antwortete ich wahrheitsgemäß: Wir haben Holzkohle angezündet, durchbrennen lassen und dann Fleisch oder Würste auf den Rost gelegt. Wie bei uns, stellte der Kollege verblüfft fest, und weil sie betretenes Schweigen nicht lange ertragen können, sprang schnell ein anderer Gast mit ein paar alten Horrorgeschichten von seinen Transitreisen nach West-Berlin ein. Das scheint überhaupt das Schlimmste für sie zu sein: Bei irgendetwas mal nicht mitreden zu können.

Ludger sagt in solchen Momenten unvermittelt »Scharik«. Und ich fürchte einmal mehr, wir sprechen vielleicht sogar immer noch verschiedene Sprachen: Wer? Was? Wie bitte? »Na Scharik, so heißt der Hund aus Vier Panzersoldaten und ein Hund!« Dazu strahlt er. Ich nicke großmütig: Eins, setzen. Manchmal würde ich aber auch gern sagen: Schnauze, Ludger!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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