Mobbing in den Tod

 

Nicht nur Menschen leiden stumm unter den Besatzern. Auch in ostdeutschen Zoos spielen sich Dramen ab, die es in dieser Härte vor der Wiedervereinigung nicht gab. Eine Tierparabel.

 

Beim traditionellen Subbotnik am Ostersamstag – einem selbst unter ausgewiesenen westdeutschen Zonen-Experten bisher relativ unbekannten Ritual, das sich nicht schnöde mit Frühjahrsputz übersetzen lässt – fiel mir ein zwei Jahre alter Zeitungsausschnitt in die Hände. Es geht darin um die Elefantenkuh Rhani, die der Leipziger Zoo im Juni 2008 einschläfern ließ. Und man braucht vielleicht schon einen besonders sensiblen Rüssel, um das innerdeutsche Drama hinter Rhanis Schicksal zu erkennen.

Mich hatte die Todesnachricht zunächst auch nur aus persönlichen Gründen aufgewühlt. Immerhin sind wir zusammen aufgewachsen, Rhani und ich. Wir haben beide einen Großteil unseres Lebens hinter Mauern verbracht, die unglückliche Rhani sogar bis zuletzt, nachdem sie 1980 bei einem Fluchtversuch in den Graben der alten Elefantenanlage gestürzt war. Die Leipziger Volkszeitung würdigte sie in dem Artikel mit einer Art Nachruf als »ältesten Bewohner« des Zoos und zeichnete ihre 55 Lebensjahre grob nach.

Rhani war der letzte indische Elefant in Leipzig, der Indien noch mit eigenen Augen kannte. Sie kam 1956 – wie die Zeitung schrieb – »als Wildfang« in die DDR. Möglicherweise spekulierte die junge indische Regierung mit dem Geschenk auf billige Werkzeugmaschinen, aber das ist jetzt reine Spekulation. Im Gegensatz zu mir war Rhani in den siebziger Jahren jedenfalls schon ausgewachsen und ich weiß noch, dass man sie stets an ihrem dicken Rüssel von den anderen Elefanten unterscheiden konnte. Wie bei vielen von uns kam mit den Jahren etwas Übergewicht dazu, ein typisches DDR-Syndrom, wo es zwar meist genug zu fressen, aber nie genug Auslauf gab. Rhani lebte gewissermaßen in einem Zoo innerhalb eines Zoos und wenn das alte Adorno-Zitat nicht schon zu oft missbraucht worden wäre, könnte man bei ihr wirklich von einem »richtigen Leben im falschen« sprechen: Über Jahrzehnte war sie unangefochten die Leitkuh der Leipziger Herde und zeichnete sich dabei, so der Zeitungs-Nachruf, »durch einen sehr geduldigen Charakter« aus. Mit eigenen Kälbern nicht gesegnet, kümmerte sie sich umso liebevoller um die der anderen, bis sie im Herbst ihres Lebens sogar noch eine kleine Fernsehkarriere als Komparsin bei Elefant, Tiger & Co. machte, der Mutter aller Zoo-Doku-Soaps – oder wie man in Leipzig gern betont: dem Original.

Der Star an ihrer Seite war das 2002 geborene Elefantenbaby Voi Nam. Dessen Eltern Trinh und Mekong hatte Rhani auch schon großgezogen. Sie war eine typische Patchwork-Oma und ließ die Stänkereien des kleinen Bullen lange mit der gleichen Elefantengeduld über sich ergehen, mit der sie jeden Zickenkrieg unter den erwachsenen Kühen schlichtete. Als Voi Nam zu aufsässig wurde, brach ihm die Leitkuh in einer dramatischen Fernseh-Folge mehrmals die Stosszähne. Das kostete die superschwere Nanny zwar Zuschauer-Sympathie, gilt aber unter Elefanten als durchaus übliche Erziehungsmethode und hatte nichts mit Rhanis DDR-Sozialisation zu tun.

Dann kam 2006, der Umzug in das neue Elefantenhaus, und alles war anders: Auf einmal gab es einen beheizten Innen-Pool, ungewohnt viel Freiheit, sogar einen Futterautomaten für nächtliche Zwischenmahlzeiten. Blühende Landschaften, wenn man so will, etliche Millionen investiert in Sand, Neid und Missgunst – kennt man alles. Und wie üblich widersprechen sich danach auch die zeithistorischen Quellen: Rhani habe die Umgewöhnung im neuen Elefantentempel »schneller als manches jüngere Tier bewältigt«, hieß es in einer Pressemitteilung des Zoos. Ele-Wiki dagegen, das Internet»Lexikon der Elefanten« behauptet, Rhani habe danach ihre Position als Leitkuh abgegeben. Gesichert ist nur, dass knapp drei Wochen nach Eröffnung der neuen Anlage zwei Elefantenkühe aus Hamburg in Leipzig eintrafen: Saida, 32, und ihre Tochter Salvana, 9, die den Namen eines Futtermittelherstellers aus Schleswig-Holstein trägt. Vermutlich würden Hamburger, wenn genug Geld im Spiel ist, ihre Kinder auch Ferrero oder Katjes nennen – doch wir wollen zum Andenken an Rhani einmal sachlich bleiben.

Salvana, so hieß es damals, komme nur kurz auf »Hochzeitsreise« und kehre, sobald sie ein Kalb von Rhanis Ziehsohn Mekong erwarte, wieder nach Hamburg zurück. Aber das sagen alle und bleiben dann doch. Andere Quellen sprechen offen und gleichzeitig verlogen davon, dass die beiden Elefantendamen aus Hamburg »zu einer ausgewogenen Sozialstruktur beitragen« sollten, sobald Rhani als Leitkuh in den Hintergrund treten würde. Sobald, wohlgemerkt – bis sie kamen, war Rhani es noch.

Dank Elefant, Tiger & Co. konnten Millionen Zuschauer bei der deutsch-deutschen Zwangsvereinigung im Elefantengehege zusehen. Sie wurden Zeugen, wie sich die Hamburger Kühe vom ersten Tag an aufspielten. Wie Saida dem äußeren Schein nach die Führung über-und Rhani eine halbe Tonne abnahm. Schon seit Jahren litt sie unter Abszessen an den Füßen. Nun bewegte sie sich kaum noch und wagte es bald nicht einmal mehr, sich zum Schlafen hinzulegen. Von wegen »ausgewogene Sozialstruktur«: Anders als die natürliche Autorität aus über 50 Jahren Lebenserfahrung bekam die neue Chefin nicht mal die Attacken der anderen Kühe gegen die kleine, bucklige Hoa in den Griff. Sie sah tatenlos zu, wie ihre Vorgängerin unter dem halbstarken Rüpel Voi Nam zu leiden hatte, der sich plötzlich wie ein Skinhead aus Hoyerswerda aufführte. Oft lehnte Rhani nur noch traurig in einer Ecke, um die entzündeten Beine zu entlasten, und sah noch zwei Jahre lang zu, wie andere ihr Lebenswerk zertrampelten. Trotz starker Schmerzmittel muss es eine einzige Quälerei gewesen sein, bis Tierärzte am Morgen des 13. Juni 2008 ihr Herz per Infusion für immer zum Stillstand brachten.

Und wofür das alles? Rhanis Ziehsohn Mekong interessierte sich auch danach nicht für die Hamburger Kühe. An ihm lag es nicht: Seine Favoritin Trinh, die wie er seit DDR-Zeiten in Leipzig lebt, bestieg er regelmäßig und – wie es sein Pfleger Michael Tempelhoff in seinem unverwechselbaren Fernseh-Sächsisch ausdrückt – »mit Inbrunst«. Ein halbes Jahr lang holte man deshalb sogar noch einen Bullen aus Niedersachsen, der dem vietnamesischen Ossi Mekong mal zeigen sollte, wo es langgeht. Calvin war bekannt dafür, dass er keine Verwandten kennt. In Wahrheit hatte man ihn aus dem Zoo Hannover sogar abgeschoben, um weitere Inzucht mit den eigenen Töchtern zu unterbinden. Doch bis auf heiße Luft kam auch von diesem West-Import nicht viel. In Ostrava dagegen, einer Art zoologischem Billig-Puff hinter der deutsch-tschechischen Grenze, deckte er wenig später gleich zwei Kühe, pikanterweise auch dort Mutter und Tochter.

Vor ein paar Monaten nun, das war die vorletzte Nachricht aus Rhanis trauriger Familie, wurde Mekong, Vater des kleinen Fernseh-Stars Voi Nam und treuer Gefährte von Trinh, ebenfalls nach Tschechien deportiert. Zum Tausch gegen den stattlichen Bullen schickte der Prager Zoo einen kleinen verwachsenen Freier für die Futtermittel-Werbe-Kuh. Trinh konnte darüber anfangs noch lächeln: Wie sich herausstellte, trug sie ein Abschiedsgeschenk von Mekong unter ihrem Elefantenherzen. Wäre es nach den Eltern gegangen, hätte ein Mädchen bestimmt Rhani geheißen. Das Kleine war allerdings schon tot, als man die Nachricht stolz der Presse verkündete. Trinh verscharrte es nachts im Sand – das letzte Andenken an Rhani und ein beengtes, aber überschaubares Leben hinter Mauern, ein winziger Embryo mit Rüssel, kaum zu unterscheiden vom Dung der West-Kühe.

 

P.S. Aus Pietät bitte ich diesmal von respektlosen Kommentaren abzusehen. Und bitte, liebe Besserwisser, gar nicht erst googeln, die Magdeburger Verwandten mit dusseligen Fragen belästigen oder ein neues Doktoranden-Thema am Heidelberger Lehrstuhl für Ost-Zonen-Folklore einreichen: Anders als die Lebensgeschichte der unvergessenen Rhani war der traditionelle Oster-Subbotnik ausnahmsweise nur Quatsch (siehe Seite 106).

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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