Kinderarbeit und Aldi-Enten

 

Zu den vielen Gemeinheiten im Umgang mit Westdeutschen gehört der Quatsch, den sie sich allzu gern erzählen lassen. Ob Gruselgeschichten von früher oder Aufbau-Ost-Exzesse heute – sie glauben alles. Ein Geständnis.

 

Leider komme ich derzeit kaum zum Schreiben. Ich reiße Tag und Nacht Tüten mit gefrorenen Enten auf, von Aldi, Lidl – ganz egal. Damit bestücke ich parallel drei Mikrowellen, wickele die Viecher in Zeitungspapier und schäme mich auch ein wenig für den Preis, den mir Westdeutsche an geheimen Treffpunkten für die toten Vögel bezahlen.

Es ist kein schlechtes Geschäft – leider alles schwarz, aber die Gesetze der Marktwirtschaft zwingen mich dazu. Die Nachfrage reißt einfach nicht ab, seit eine Freundin von uns im Advent spontan ihre neue Kollegin vom MDR zu einem Essen bei uns zu Hause mitbrachte. Das ist in Ostdeutschland nach wie vor üblich, auch wenn sich schnell herausstellte, dass die fremde Mitesserin solche Gepflogenheiten gerade erst kennen lernte. Aus Mangel an Gesprächsstoff lobte sie unablässig unser geschmortes Kaninchen und brachte mich schließlich mit der Feststellung in Verlegenheit, dass man artgerechte Haltung eben doch schmecke. Unsere artgerechte Freundin verdrehte entschuldigend die Augen. Ich murmelte etwas vom Schwager auf dem Land und wich Nachfragen aus, was die neue Leipzigerin offenbar als Beleg für eine besonders wertvolle Nahrungsquelle nahm. Jedenfalls klingelte schon zwei Tage später das Telefon. Jemand hätte gehört … Ob es stimme … Man kenne sich noch nicht so aus … Die Dialekte waren eindeutig, ebenso die Bettelei, dazugehören zu wollen – wozu auch immer. Aber umso konspirativer ich versuchte, MDR-Redakteure und deren mitgebrachte Ehefrauen abzuwimmeln, desto mehr verbreitete sich das Gerücht in diesen Kreisen.

In meiner Not fragte ich einen Bauern auf dem Wochenmarkt, bei dem sie am Wochenende alle mit ihren Weidenkörbchen vorbeistolzieren. Der sah mich lange prüfend an, dann grinste er und nahm mich mit in seine Bude. Unter der Theke, dreister ging es kaum, lagen Kartoffelnetze aus dem Supermarkt, daneben eine Babywanne mit feuchter Erde. Er zeigte mir, wie man die Kartoffeln darin wendet, und verriet mir auch noch den Trick mit seinen Bio-Enten. Es ist nicht ganz fair, aber so ist das nun mal in der Betrüger-Marktwirtschaft: Seitdem hat der gutgläubige Ex-LPG-Bauer Konkurrenz. Und meine Kunden, nun ja, sind auch begeistert.

Dass Westdeutsche jeden Scheiß für bare Münze nehmen, gehört zu den erschütternden Erfahrungen nach der so genannten Wiedervereinigung. In den ersten Jahren konnte man sie noch mit halbwegs wahren Geschichten über das unmenschliche Leben in der DDR beeindrucken, traurig meistens, klar, manchmal auch lustig, FKK und so weiter. Schau mal an, die Zonis – staunten sie dann – hatten doch auch so was Ähnliches wie Alltag. Hörten Radio und schleuderten ihre Wäsche (beides elektrisch), ernährten sich zwar ausschließlich von sauren Gurken und süßem Sekt, aber putzten sich hinterher sogar die Zähne – mit Zahnpasta. Alle Achtung!

Bei einem Vorstellungsgespräch Anfang der neunziger Jahre fragte mich mal ein einschüchternd legendärer Chefredakteur in Hamburg, was ich von den Wahlergebnissen der PDS halte, die seinerzeit für seinesgleichen noch echt schockierend waren. Ich wusste damals schon, dass man im Westen nicht lange nachdenken und vor allem nicht stottern darf, wenn man keine Ahnung hat, und antwortete entschieden: Nichts. Alles nur Trotz, ein Strohfeuer, bald kein Thema mehr. Die Antwort gefiel ihm, vielleicht auch nur mein Stakkato. Aber seitdem war mir klar: Man kann Westdeutschen alles erzählen, es muss nur halbwegs in ihr Weltbild passen und zum Beispiel so teuer sein wie eine handgerupfte Bio-Ente, dann schmeckt sie auch so.

Irgendwann war über Kaffeeersatz und Schlangestehen dennoch alles erzählt. Allein die Geschichte vom Trabi, den jede Ost-Oma zur Geburt der Enkel bestellte, damit er rechtzeitig zum Führerschein lieferbar war, wollten sie immer wieder hören und protestierten, wenn man das mit ihren Bausparverträgen verglich. Es mangelte an neuen Mangellegenden. Wir mussten die Dosis erhöhen. Eine Zeitlang gefielen mir noch ihre großen Augen, wenn ich beiläufig die Kerben erwähnte, die wir für jeden Abschuss an der Grenze in den Stahlschaft der Kalaschnikow schnitzten. Auch nahm ich die Russen gern in Schutz, in deren Kaserne zwar jede Woche eine junge Frau abzuliefern war – aber nicht unbedingt Jungfrauen, schließlich seien das auch keine Unmenschen gewesen.

Wenn es nicht Tierquälerei wäre, könnte man ihnen immer neue Bären dieser Art aufbinden. Das Verheerende ist allerdings, dass sie das Meiste davon nicht nur glauben, sondern auch weitererzählen. Selbst wenn man hinterher »Spaß beiseite« sagt – eines Tages lernen den Quatsch unsere eigenen Kinder in der Schule. Denn natürlich sind auch die Lehrpläne und Schulbuchverlage für die besetzten Gebiete fest in ihrer Hand.

Dass wir mit unseren Schülerhänden Lampen für sie zusammenbauen mussten, steht da natürlich nicht drin. Weil dabei auch ab und zu eine verschwand, empfanden wir das als Privileg. So stand es immerhin auch auf den Lampen – und war doch nur Kinderarbeit für den Westen, Zwangsarbeit für den Quelle-Versand. Da fällt mir ein: Vielleicht gibt es ja für Kindersklaven der DDR noch irgendwo eine gesamtdeutsche Opferrente abzusahnen?

Das ist überhaupt der Trend beim Veralbern von Westdeutschen: Wie wir sie ausnutzen und gleichzeitig ihr schönes Gemeinwesen verachten. Man muss nur mal schreiben, die Urne sei der Sarg der Demokratie (siehe Seite 100), schon jaulen sie auf. Das ist fast so wirkungsvoll wie haarsträubende Geschichten über verschwendete Aufbau-Millionen, die zwar meistens zurück in den Westen sickern – aber das kann man ja weglassen.

Im letzten Urlaub, den wir uns gewissermaßen als Nebenerwerbsbauern verdienten, staunten ein paar zwanghaft redselige Handtuchnachbarn, wieso unsere schulpflichtigen Kinder im Februar zwei Wochen frei haben. So was wie Winterferien kannten sie nicht. Ich erklärte schnell, dass die neuen Bundesländer zwei Wochen schulfrei extra bekämen, seit sie regelmäßig Pisa-Spitzenreiter sind. Die fremden Landsleute nickten beflissen, als hätten sie eine ähnlich dumme Frage wie ihre Enkel in Nordrhein-Westfalen gestellt, und meine Frau setzte noch einen drauf: Mit Hartz IV sei das auch für die Eltern kein Problem – wir hätten ja ohnehin immer frei. Danach schwiegen sie mit offenen Mündern, und man konnte daher die Frage förmlich auf ihren Zungen liegen sehen, wie wir uns solche Reisen überhaupt leisten könnten? Dafür, erfuhren sie, gebe es doch diesen Sonderfonds im Solidarpakt Elf: »Kraft durch Ferien« für ostdeutsche Familien, jährlich 2000 Euro pro Person. Und bei der Gelegenheit bedankten wir uns selbstverständlich auch noch einmal persönlich dafür.

Zur Not gehen aber auch Stasigeschichten immer noch ganz gut, von Wanzen in Südfrüchten zum Beispiel, oder wie wir in der Schule über das Fernsehverhalten unserer Eltern ausgehorcht wurden, nämlich mit der heimtückischen Frage, ob die Uhr vor den Nachrichten Punkte oder Striche hat. Die Online-Überwachung steckte sozusagen noch in Kinderschuhen. Aber richtig laut lacht darüber seit der Schäuble-Doktrin auch im Westen niemand mehr.

Mit der ganzen Ambivalenz der DDR oder den Überlebensstrategien in einer Diktatur konnten sie ohnehin nie viel anfangen. Dabei hätten sie so viel lernen, wiedererkennen und selbst gebrauchen können. Lieber beömmeln sie sich weiter über Zonen-Gabi, die in Wahrheit auch nur eine Frau aus Worms war und noch vor kurzem der Süddeutschen Zeitung verriet, dass sie ihre Schnee-Jeansjacke immer noch trägt.

Mehr als die halbe Wahrheit vertragen Westdeutsche leider nicht. Deshalb lassen sie sich auch so gut und gerne foppen, schließlich sind sie das untereinander nicht anders gewöhnt. Die Rente ist sicher. Die Atomkraft ist sicher. Da glaubt man irgendwann auch, dass alte Ost-Turnschuhe cool sind. Bei Manufactum – das ist für meine besten Enten-Kunden etwa das, was für ihre Eltern der Quelle-Katalog war – gibt es gerade einen Nachbau der fiesen Treter für 236 Euro. So gesehen hole ich mit meinen Bio-Enten nur zurück, was mir für die Quelle-Lampen zusteht, und muss mich auch für die 50 Euro pro Stück nicht genieren. Gerade hat es wieder »Kling« gemacht. Ich muss die Mikrowellen füttern. Ein Stress! Soll noch mal einer sagen, Ostdeutsche hätten keinen Unternehmergeist. Dann sage ich – wie immer: Schnauze!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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