Friede, Freude, Einheitskuchen

 

Am 20. Jahrestag des Mauerfalls lief das Fass der Tränen über. Und mir die Galle. Auf einmal will der Westen die Mauer sogar noch von seiner Seite eingerissen haben. Ein Wutanfall.

 

Was war das für eine Orgie 71 Jahre nach der Reichspogromnacht: Statt SA-Trupps knatterten wochenlang nur Trabis über den Bildschirm. Auf allen Kanälen flossen Tränen der Freude statt der ewigen Scham. Wenigstens im Kurzzeit-Gedächtnis durften wir noch einmal ein mutiges Volk gewesen sein – das Volk sogar zum Teil. Und beinahe wäre die größte Sensation im Freudentaumel über den Mauerfall ganz untergegangen: Wurde sie doch vor 20 Jahren nicht etwa von den Scorpions eingerissen, die so lange Wind of Change pfiffen, bis es kein Grenzer mehr auf seinem Wachturm aushielt, sondern eigentlich vom Westfernsehen eingedrückt!

Irgend so ein Besserwisser behauptete in irgend so einer Nacht-der-Nächte-Dokumentation allen Ernstes, Hanns Joachim Friedrichs von den Tagesthemen sei es gewesen. Die Nachrichten über die offene Mauer hätten diese gewissermaßen erst geöffnet. Vermutlich nennt man die wichtigsten Meldungen sogar erst seit diesem Tag »Aufmacher« und wir wissen nun endlich auch, dass nicht das Ei vor der Henne da war, sondern zuerst das Gegacker. Von den Leipziger Broilern, die sich für mehr Freilauf im Hühnerstall verprügeln und einsperren ließen, gar nicht zu reden. Am Ende – man hätte es wissen müssen – war es also das Westfernsehen, der mutige Onkel Hajo aus Hamburg. Das ist zwar weder logisch noch belegt, aber typisch.

Das halten sie bis heute nicht aus, dass sie damals nur staunen und zuschauen konnten. Dass es sie kalt erwischt hat, wo sie doch sonst immer alles wissen. Dass ein dusseliger Funktionär in zehn Minuten erledigte, was sie selbst mit Milliardenkrediten seit Jahren mühsam hinausgezögert hatten. Und auch daran werden sie nicht gern erinnert: Wie sie das kleine schmuddelige Land und seinen Diktator bis zum Schluss hofierten, wie Erich Honecker 1987 beim Ehrenempfang in Bonn den größten Triumph seiner verkorksten Antifaschisten-Karriere noch zwei Jahre vor dem Kanzler der Einheit auskosten durfte, aber immerhin Schulter an Schulter mit ihm. Diese peinlichen Bilder werden zugunsten von Dauersendungen mit Heulkrämpfen (»Dass ich das noch erleben darf!«) gern unterschlagen. Dabei hat Honecker damals bestimmt genau das Gleiche gedacht, heimlich jedenfalls, und dafür sogar ein paar Wochen lang keine Menschen an der Mauer erschießen lassen.

Der rote Teppich von Bonn ist im Rückblick nicht nur ein schönes Symbol für die Verlogenheit der innerdeutschen Beziehungen, sondern auch dafür, was nach den vielen Judasküssen zwei Jahre später kam: Wie die einen strahlten, dass sie endlich mal offiziell in den Westen durften, und die anderen reserviert die Zähne zusammenbissen. Wie der kleine, dürre Mann mit dem altmodischen Hut schon damals, beim Abschreiten der Ehrenformation, permanent Gefahr lief, von seinem großen dicken Stiefbruder von der Teppichkante geschubst zu werden. Wie sich das alle eigentlich ganz anders vorgestellt hatten. Und wie es dann doch genau so kam.

Kaum hatte sich der Wind gedreht (und jetzt bitte nicht wieder dieses schreckliche Lied pfeifen), steckten sie den ehemaligen Staatsgast ins Gefängnis und sich den Rest seines Landes in die Tasche. Aus Volkseigentum wurde genau so schnell ihr Privateigentum wie aus militärischen Ehren Schimpf und Schande. Und damit das nicht so auffiel, ließ man Honecker dann doch noch rechtzeitig ins Ausland fliehen. Wie hätte das auch ausgesehen, wenn der Rechthaber-Rechtsstaat neben ihm womöglich auch einige eigene Politiker wegen Hehlerei oder Beihilfe zu Menschenhandel hätte anklagen müssen. Die gute Laune war jedenfalls schnell im Eimer.

Vielleicht – so viel sei zugegeben – haben sich damals tatsächlich ein paar West-Berliner ehrlichen Herzens gefreut (bevor ihnen der Verlust ihrer Berlin-Zulage und der Regierungsumzug schwante), vielleicht gab es auch ein paar Westdeutsche, die immer mal ein Päckchen schickten (und von der Steuer absetzten). Die meisten Menschen aber zwischen Nord- und Tegernsee ging das Jahr 1989 nichts an: Ob in China ein Sack Reis umfällt oder auf halbem Weg dahin eine Mauer – na und? Was sollte sich für sie groß ändern? Wenn sie ehrlich sind, was leider nicht ihre Stärke ist, geben sie das sogar zu. Auch dass es ein Irrtum beider Seiten war, dass sich dieses Thema in fünf, zehn oder spätestens 20 Jahren erledigt hätte.

In Wahrheit kann von der so genannten inneren Einheit bis heute keine Rede sein. Dafür sind wir viel zu verschieden. Zum Glück. Immer noch. Vielleicht haben uns die Jahre nach dem kalten Krieg sogar mehr entfremdet als die Zeit davor. Dieser Graben lässt sich nicht leichtfertig zuschütten, wie das seit 1990 vergeblich versucht und in diesen Tagen wieder in allen Festreden beschworen wird, gern auch mit dem berühmten Satz vom Zusammenwachsen (»Nun wächst zusammen, was zusammengehört«), den Willy Brandt tatsächlich nie so gesagt hat, schon gar nicht am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus. Er wurde ihm nachträglich untergejubelt, verstümmelt und verkürzt. Erst ein Jahr später, als man die Wiedervereinigung noch für einen Grund zum Feiern hielt, sagte Brandt etwas, das dem falschen Zitat zwar nahe kam, aber ein wenig nach dem richtigen Umgang mit geistig Behinderten klang. Im Zusammenhang mit der »wirtschaftlichen Aufforstung« des Ostens warnte Brandt eindringlich vor den »geistigkulturellen Hemmschwellen und seelischen Barrieren« zwischen den Deutschen und fügte an: »Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört.”

Es kam anders. Takt gehörte ohnehin nie zu westdeutschen Stärken. Und so blieb jeder, was er war. Oder um es ungefähr mit Walter Ulbricht zu sagen, dem wir – neben Hitler und anderen gemeinsamen Vorfahren – das alles zu verdanken haben: Niemand hat die Absicht, eine Mauer einzureißen. Bitte nicht auch noch die in den Köpfen! Schon im Interesse der kulturellen und menschlichen Artenvielfalt wäre es schade darum. Wer soll uns sonst in Zukunft erklären, wie das damals mit dem Mauerfall und dem Westfernsehen wirklich war? Wer soll uns die Demokratie erklären, das Arbeiten beibringen oder die »seelischen Barrieren« heilen? Und wer soll diesen Klugscheißern sagen, dass sie vielleicht auch mal lernen müssen, was ihnen von Natur aus so schwerfällt?

Na gut, ich mach’s und sag es mal so: Schnauze, Wessi!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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