How does it feel

 

Vor 46 Jahren schrieb Bob Dylan mit Like A Rolling Stone seine Hymne zum sozialen Abstieg. Seit es auch mit dem Westen nur noch bergab geht, summt der Osten leise mit. Ein Ohrwurm.

 

Zu den niederträchtigsten Unterstellungen an DDR-Lebensläufe gehört die Legende, alle hätten dort Die Puhdys gehört, polnische Schlager vielleicht noch und ansonsten nur sowjetische Marschmusik. Dabei passte der Leiersound ostdeutscher Kassettenrekorder auch besonders gut zur Stimme von Bob Dylan. Lange dachte ich sogar, er und seine Mundharmonika klängen nur so, weil wir die Lieder zu oft überspielt hätten. Fast war ich 1990 ein wenig enttäuscht, dass sich der amerikanische Sänger auch im Original anhörte wie auf einem ORWO-Tonband der Konsumgüterproduktion. Aber während um mich herum viele ähnliche Träume zerplatzten – zum Beispiel der vom ewigen Leben einer BASF-Kassette  –, erschloss sich mir endlich auch eines seiner berühmtesten Lieder. Like a Rolling Stone kam mir vorher immer seltsam gehässig, ja vergleichsweise unpoetisch vor. Inzwischen klingt es mir häufig in den Ohren, wenn Westdeutsche jammern, dass bei ihnen früher alles besser war. Also ziemlich oft. Eigentlich ständig.

»How does it feel« summe ich, wenn in Stuttgart Polizeiknüppel tanzen und die Menschen offenbar erst nach 60 Jahren begreifen, dass Demokratie noch lange nicht »Wir sind das Volk« heißt. »But now you realize« – wir haben das anfangs auch verwechselt.

Wie fühlt sich das an, wenn ein System am Ende ist, aber sich von Halbjahr zu Halbjahr noch ein wenig Aufschub kauft – wie seinerzeit Honecker mit den Milliardenkrediten von Franz Josef Strauß? »How does it feel«, wenn alle wissen, dass es so eigentlich nicht mehr weitergeht, aber die Mehrheit in ihren Bauspar-Nischen trotzdem so tut, als ob?

»How does it feel«, wenn Google oder Facebook mehr über jeden Einzelnen wissen, als die Stasi je ahnte? Wenn die Politik das zwar ein bisschen bedenklich findet, aber Strafverfolger im Zweifel auf jeden Klick Zugriff haben oder mit ihren Spitzelprogrammen gleich selbst mitlesen?

Wie fühlt sich das an – zurück in der Zukunft, Ende der Achtziger, DDR?

Je öfter ich das Lied höre, desto mehr bewundere ich den prophetischen Songschreiber, der es extra für Westdeutsche geschrieben haben muss. Allein dieser fiese, märchenhafte Anfang: »Once upon a time you dressed so fine / You threw the bums a dime / In your prime, / Didn’t you?« Spielt er damit nicht eindeutig auf die fetten Jahre nach dem Krieg und die überheblichen Almosen für die armen Landsleute im Osten an? Auf den Zufall, eine Zeitlang auf der scheinbar besseren Seite gelebt zu haben, und die vielen guten Ratschläge, wie man richtig arbeitetet oder mit Geld umgeht?

»To be on your own / With no direction home / Like a complete unknown / Like a rolling stone.« So hat sich das vor 20 Jahren für Millionen Ostdeutsche angefühlt. Viele rollen immer noch, aber haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass bei ihnen kein Moos mehr ansetzt. Wozu auch? Für die Bank? Für die Katz? Die Leihsklavenfirma? Wenn sie jetzt mal leise zurückfragen, ist das keine reine Schadenfreude, im Gegenteil: »How does it feel« hat aus ihrem Mund auch etwas Tröstliches. Die Erfahrung zum Beispiel, dass man nicht nur auf die Straße gehen kann, um etwas zu ändern, sondern hinterher sogar auf ihr leben kann. Die Gelassenheit, dass man nicht nur ein System abwickeln kann, sondern vielleicht auch zwei. Die Gewissheit vor allem, dass nichts für die Ewigkeit ist, selbst wenn es sich so anfühlt.

»How does it feel«, wenn man ein Arbeitsleben lang bei Quelle oder Opel gearbeitet hat und das Werk plötzlich schließt? Wenn ganze Regionen vor Armut zittern und Politiker an die Verantwortung der Unternehmen appellieren. Die Leute in Bischofferode können ein Lied davon singen.

Wie fühlt sich das an, wenn das heilige Wachstum nicht mehr wächst und der Markt nicht mehr wirtschaftet, schon gar nicht sozial? Wenn das rosa Papier zwischen den Fingern nicht die Financial Times ist, sondern eine Wartenummer im Arbeitsamt? Wie fühlt sich das an, wenn die Globalisierung an die Tür klopft? In Cottbus war sie schon lange.

»How does it feel«, wenn Aktien und Lebensversicherungen schmelzen und irgendwelche »Märkte« Altersvorsorgen fressen? Wie bitte? Was für Sorgen? Zumindest solche hatten die meisten Menschen in Demmin noch nie: »When you ain’t got nothing, you got nothing to lose.«

Wie fühlt sich das an, wenn eine Krise die nächste jagt, knapp gefolgt von »historischen Entscheidungen«, eine zwangsläufiger als die nächste und immer »ohne Alternativen«. Bei der Atomkraft. In Afghanistan. Beim Euro. Mitgegangen. Mitgefangen. Deutschland kann nicht ohne ... Europa muss ... Der Rettungsschirm wird … Und die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. »How does it feel«, wenn dann doch alles ganz anders kommt?

Wie fühlt sich das an, mit einer Regierung zwischen Hebel und Nebel, zwischen Banken und Pöbel, zwischen Libyen und Bösien – je nachdem, wie es ausgeht? Die heute Laufzeiten verlängert und morgen alle Atomkraftwerke abschaltet, aber deren oberster FDJ-Funktionärin zwischendurch auch mal rausrutscht, dass man Politik nicht danach ausrichten könne, »wie viele Menschen gerade auf der Straße sind.«

Wie fühlt sich das an, wenn ein Hochstapler erst Kriegsminister wird und dann Hals über Kopf nach Übersee desertiert? Der oberste Dachdecker der DDR stand für zu seine Schießbefehle wenigstens einmal fast vor Gericht, bevor er sich nach Chile absetzte. Seinen Doktortitel der Nihon-Universität in Tokio trug er zwar nicht vor sich her, aber dafür ehrenhalber bis zuletzt.

»How does it feel« beim Camping gegen Banken? Mit Luftballons und fast so vielen Teilnehmern, wie auch manchmal gegen Kinderschänder demonstrieren? Wie hört sich das an, wenn die Bundesregierung auf einmal »Verständnis für die Proteste« auf der Straße hat. Etwa so wie Erich Mielkes Liebeserklärung an »alle Menschen«? Oder einfach nur »abstrus«, wie die Plagiatsvorwürfe gegen Guttenbergs »mühevollste Kleinarbeit«?

Es sind nur Fragen, wie gesagt – keine Häme. Hier lacht niemand, wenn plötzlich nur noch der zügellose »Finanz«-Kapitalismus Schuld ist, als könne man einen schwarzen Rappen leichter bändigen als einen weißen Schimmel. Macht Euch deshalb keine Gedanken! Mal eine Währungsreform, ein Systemwechsel, ein paar Jahre Hartz IV – alles halb so schlimm. In diesem Sinne interpretieren wir demnächst mal: Don’t Think Twice, It’s All Right. Zur Not vielleicht auch: It’s All Over Now, Baby Blue. Bis dahin lasst Euch von Dylan hinter die Ohren schreiben: »Now you don’t talk so loud. Now you don’t seem so proud ...« Ich übersetze das einfach mal so: Schnauze, Wessi!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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