System-Streber-Gene

 

Plötzlich mäkeln alle an Angela Merkel rum. Sogar an Erich Honecker fühlen sich ehemalige Fans im Westen erinnert. Dort reibt man sich die Augen – hier nicht. Eine DNA-Analyse.

 

Über meinem Schreibtisch hängt ein Bild der Kanzlerin. Nicht etwa, weil sie die Wand mehr schmücken würde als ein Porträt des schönsten Bundespräsidenten aller Zeiten oder mein Arbeitszimmer eine Art Amtsstube wäre wie bei vielen Kollegen im öffentlich-rechtlichen Staatsfunk. Das gerahmte Foto hat weder mit politischen noch mit sexuellen Vorlieben zu tun und schon gar nicht mit irgendeinem diffusen Stolz darauf, dass ein Ost-Broiler nun schon seit fünf Jahren – es kommt einem länger vor, oder? – ganz Deutschland regiert. Im Gegenteil: Es hängt dort zur Mahnung, was passieren kann, wenn man nicht schon in frühen Jahren ein wenig auf Charakterhygiene achtet.

Die junge Angela, auf dem Foto knapp 18 Jahre alt, lächelt gequält. Es ist der Tag ihrer Zeugnisausgabe, und weil sie die sozialistische Volksbildung mit lauter Einsen absolvierte, hat man ihr die Lessingmedaille verliehen. Dafür kann sie nichts. Die habe ich auch bekommen. Aber so, wie sie guckt, ahnt sie vielleicht doch schon, wie das eines Tages wirken könnte, wenn eine Pfarrerstochter dafür über ihren weißen Rollkragenpullover aus dem West-Paket extra noch ein FDJ-Hemd zieht. Die »kühle Strategin«, »Physikerin der Politik«, oder was ihr westdeutsche Bewunderer später noch andichten werden, fühlt sich offensichtlich nicht ganz wohl darin. Dennoch hat sie sich tapfer für die Uniform der SED-Kampfreserve entschieden.

Es mag nur ein Indiz sein, ein kleiner Schritt zu viel. Eine Lappalie für den modernen Opportunisten von heute. Und doch erklärt das blaue Hemd selbst auf dem alten Schwarz-Weiß-Foto immer noch mehr als alle ratlosen Kommentare über voreilige Bekenntnisse zu westdeutschen Lügenbaronen, vorauseilende Zugeständnisse an westdeutsche Energiekonzerne oder vorchristliche Schadenfreude, wenn der globale Westen einem kranken, unbewaffneten Opa in Pakistan ein Auge aus dem Kopf schießt.

Das FDJ-Hemd war an diesem Tag sicher gern gesehen, aber auch nicht unbedingt nötig. Mit den Zensuren im Sack gehörte nicht mal Mut dazu, etwas anderes, halbwegs Feierliches anzuziehen. Mein Konfirmationsanzug zum Beispiel war über den Schuhen schon ziemlich kurz. Trotzdem haben sie mir die blöde Medaille auch dort angesteckt – und heute bin ich froh, dass es von mir keine Fotos im FDJ-Hemd gibt.

Vermutlich werde ich deshalb auch nie Bundeskanzler, Chefredakteur oder Elternsprecher. Mir fehlen die nötigen System-Streber-Gene. Westdeutschen Gut-und-Böse-Fundamentalisten fehlen dafür oft die Antennen für Leute, die sich vor lauter Strategie und Berechnung eben auch mal strategisch verrechnen. Nach Jahren der vorauseilenden Verehrung schreiben sie nun plötzlich vorzeitige Nachrufe auf die Kanzlerin oder fühlen sich wie die Schriftstellerin und Merkel-Wählerin Cora Stephan gar an Honecker erinnert. Dem ist wenig zu entgegnen, außer: An wen denn sonst?

Funktionäre funktionieren in jedem System. Das spricht auch nicht gerade für dieses. In der DDR war der Balanceakt zwischen den Erwartungen der Lebenslaufverwalter und der persönlichen Schmerzgrenze dabei vielleicht noch etwas folgenreicher als heute, wenn ich meinem Chef aus dem Westen – da kommen sie leider alle her – ehrlich sage, was ich denke. Auf jeden Fall, aber das können Westdeutsche nicht wissen, musste eine über 30 Jahre alte Physikerin nach dem Studium nicht zwangsläufig immer noch Funktionen in der FDJ ausüben. Man musste überhaupt viel weniger, als wir alle damals glaubten – und heute gern als Ausrede benutzen.

Man konnte zum Beispiel auch ein guter Lehrer sein, ohne von Kollegen einen »festen Klassenstandpunkt« zu fordern, wie es der spätere Ministerpräsident von Thüringen tat, lange bevor er sich nach seinem Skiunfall einen besser bezahlten Job als Auto-Lobbyist suchte. Man musste auch nicht unbedingt Karriere beim Rat des Kreises machen wie der heutige Ministerpräsident von Sachsen, der dafür noch im Sommer 1989 Floskeln wie »zu Ehren des 12. Parteitages der SED« benutzte. Manchmal bin ich nicht mal sicher, ob das Motto dieser Kolumne deshalb auch einem Muster-Wendehals wie Stanislaw Tillich zusteht.

»Ich habe es satt, mir von Leuten aus dem Westen mein Leben erklären zu lassen«, polterte er, als in seinem Lebenslauf immer neue Schummeleien auftauchten. Dabei muss ihm das im Westen eigentlich nicht mal peinlich sein. Solange es nur um die Karriere ging, versteht das dort jeder. Von den eigenen Leuten allerdings, die mit seiner Biografie kurz nach dem – Achtung: böses altes Wort – Anschluss keinen Job als Pförtner in einem staatlichen Kindergarten bekommen hätten, muss er sich schon mal fragen lassen, ob er nicht seit Jahren unter extremen Nackenschmerzen leidet.

Wahrscheinlich nicht: Es sind schmerzfreie Menschen, die immer auf der richtigen Seite stehen oder schnell die Seite wechseln, wenn die Seiten wechseln. Seltsamerweise haben sie es auf jeder Seite leicht, auch und gerade in den letzten 20 Jahren. Oder muss man sagen: Bezeichnenderweise?

Immer noch fliegen ständig Stasi-Zuträger auf, die sich nach 1990 offenbar besonders gut als Präsidenten von Industrie- und Handelskammern eigneten. Etliche SED-Genossen traten in die CDU ein und sind heute Polizeipräsidenten, Innenminister oder Landräte. Aus den Strebern im alten System wurden so die Musterschüler des neuen. Sie lassen hier ein bisschen Vergangenheit weg, lügen sich dort ein bisschen Mut in die Tasche, weil sie 1989 auch mal bei einer Montagsdemo im Westfernsehen zugeschaut haben. Einmal deformiert passten sie sich wieder bis zur Selbstverleugnung an. Im Persil-Weiß-Westen war das egal. Dort galt ein neues CDU-Parteibuch schon einmal automatisch als Entnazifizierungs-Urkunde.

Ohne Ehrgeiz und Opportunismus dieser Art lässt sich offenbar kein Staat machen, und so ist es nur konsequent, dass Honeckers alter Protokollchef der Volkskammer heute von Politikern aller Parteien für seine geschmeidige Herzlichkeit geschätzt wird, mit der er sie im Berliner Café Einstein platziert. Dass der Futtermittel-Panscher aus dem letzten Eier-Skandal bis 1989 als IM Pluto den Osten mit seinen Berichten vergiftete, bevor er in Niedersachsen mit Dioxin weitermachte. Dass sich ein Stasi-Spitzel der Nachrichtenagentur ADN – nach Einschätzung seiner Führungsoffiziere »äußerst eifrig und initiativreich« – mit diesen Talenten auch nach 1990 als Chefredakteur und Verleger von Glamour-Zeitschriften bis zum »Medienmann des Jahres 2003« durchschlagen konnte …

Ich weiß: Sonst wird an dieser Stelle gern über westdeutsche Postenjäger geklagt, die sich hierzulande immer noch auf wundersame Weise reproduzieren. Aber gerade die haben mit ihren Pendants aus dem Osten kaum Probleme. Es scheint einen bestimmten Menschenschlag zu geben, der ausnahmsweise mal nichts mit Herkunft zu tun hat, und hier wie da – die Guttenberg-Blase zeigt es einmal mehr – offenbar kaum unbelastete Leute, die sich beruflich mit Politik beschäftigen mögen. In Brandenburg regieren Stasi-Spitzel sogar wieder mit, und das demokratische Geschrei darüber hat sich schnell gelegt.

Also bitte: Wieso müssen dann ihre ehemaligen Kollegen ihre Kompetenzen bei der Überwachung von Lidl-Mitarbeitern verschwenden? Kann die nicht der Innenminister  – ach so, inzwischen Kriegsminister – gebrauchen? Vater de Maizière – offenbar auch so eine System-Streber-Familie – bekam schließlich auch die Kurve vom Generalstab der Wehrmacht zur Bundeswehr. Können nicht ein paar schießwütige Grenztruppen-Offiziere auf Schnellbooten im Mittelmeer afrikanische Wirtschaftsflüchtlinge jagen? Und was ist mit Margot Honecker als Familienministerin? Hat die nicht mehr Erfahrung mit Kita-Plätzen und Vollbeschäftigung als die letzte Volksbildungs- und jetzige Arbeitsministerin? In Zensurfragen finden Margot, Angela und Ursula sicher auch schnell zueinander.

Als die Mutigsten 1989 noch verprügelt und vom Studium ausgeschlossen wurden, organisierte Angela Merkel das Kulturleben ihrer FDJ-Gruppe. Als die Mauer fiel, saß sie angeblich in der Sauna. Nur deshalb hatte sie gerade kein FDJ-Hemd an und darf sich nun neben der Lessingmedaille auch mit der »Freiheitsmedaille des US-Präsidenten« schmücken. Dabei sein, aber nicht so richtig; immer mal abtauchen, aber rechtzeitig wieder da sein, wenn der Wind dreht – das sind Begabungen, mit denen man jedes Regime überlebt und es in manchen sogar bis zum Regierungschef schafft. Frau Merkels Abschlussarbeit in Marxismus-Leninismus, die eigentlich zur Promotion gehörte, gilt seitdem als verschollen. Vermutlich hat sie die selbst geschrieben. Ihre Stasi-Akten darf auch niemand lesen. Dafür legt sie wert darauf, dass man ihren Vornamen nicht auf der zweiten Silbe betont, wie im Osten verbreitet, sondern auf der ersten wie bei Erika. Mir persönlich würde schon reichen, wenn sie noch mal zugibt, dass sie »gerne in der FDJ« war, so wie sie es Anfang der neunziger Jahre schon einmal Günter Gaus im Fernsehen anvertraute. Dann könnte man – unter feinsinniger Anspielung auf ihren Geburtsort Hamburg – endlich auch mal zur Bundeskanzlerin sagen: Schnauze, Wessi!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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