Liebe nahe Ossis

 

Bis 1989 waren wir noch der Feind. Seitdem lässt der globale Westler seine Neurosen an Euch aus. Eine Entschuldigung.

 

Liebe Araber, Nordafrikaner, Muslime – liebe nahe Ossis! Das schlechte Gewissen plagt mich schon länger, aber erst seit ahnungslose Westdeutsche die blutigen Unruhen in Ägypten, Libyen und Hamburg-Billstedt ständig mit unserer viel zu friedlichen Revolution vergleichen, ist mir vollends klar, was wir Euch damals angetan haben.

Mit dem Ostblock verlor der Westen 1989 seinen wichtigsten Feind. Heute tut er zwar so, als hätte er den kalten Krieg aus eigener Kraft gewonnen – so wie er die Opposition bei Euch schon immer heimlich unterstützt hat. Als hätte er die Mauer eingerissen und Geschäfte mit Diktatoren stets nur zum Schein getrieben. Aber letztlich, da können sie die Geschichte drehen, wie sie wollen, bleibt es unsere Schuld, dass Ihr seitdem an allem Schuld seid.

Das, sollt Ihr wissen, tut uns leid. Das wollten wir nicht! Wer konnte auch ahnen, dass Ihr die Nächsten seid? Dass die selbsternannte Erste Welt immer eine Zweite braucht, um sich wirtschaftlich und moralisch überlegen zu fühlen. Irgendeine Gefahr, Kommunisten oder Terroristen, Gurken oder Schurken. Als Abschreckung für die eigenen Leute, zur Selbstbestätigung und für die Grundversorgung des Abendlandes mit Angst.

Die ersten zehn Jahre danach wusste keiner mehr, vor wem man sich nun fürchten sollte. Gegen wen wettrüsten? Wohin klugscheißen? China war schon damals zu mächtig, um sich wegen ein paar verschwundenen Künstlern mit dem Reich der Mitte – wer ist dort eigentlich Osten? – anzulegen. Der russische Bär tanzt seitdem selbstvergessen zu American Boy. Irak und Jugoslawien boten sich lediglich als Übergangslösung an, bis 2001 endlich wieder ein ernstzunehmender Gegner auftrat: 19 Männer gegen die USA, ein paar Irre gegen den Westen an sich. Aber immerhin – wahrscheinlich, vermutlich, jedenfalls mutmaßlicher als mutig – Muslime.

Nach allem, was man weiß oder wissen soll, kannten sie sich mit Flugzeugen, im Koran und in Hamburg ganz gut aus und schreckten auch vor tausendfachem Mord nicht zurück. Spätestens danach nahm der schleichende Übergang vom Ost- zum Islam-Bashing offizielle Züge an. Der neue Feind war überall und nirgends, bedrohlich, aber gerade noch beherrschbar – nahezu perfekt für die paranoiden Bedürfnisse des Westens.

Uns müsst Ihr nicht erklären, wie sich das anfühlt: mit durchgeknallten Massenmördern in einem Topf. Wie schwer man da wieder rauskommt – vor allem, wenn man kein Musterschüler ist. Wir kennen das alles, den tadelnden Zeigefinger nach 1945. Sein überhebliches Wohlwollen 1989. Nicht zuletzt das Ende aller Träume, das der Westen selbstgefällig »im Westen ankommen« nennt. Und während sie bei Euch noch am Live-Ticker mitfiebern, mit vielen guten Ratschlägen und ein paar Bomben ihre so genannten »westlichen Werte« vermitteln, können wir nur unser Mitgefühl und einige nicht ganz so wertvolle Erfahrungen mit Euch teilen.

Auch wir wollten das Volk sein, aber der Westen braucht nur Verbraucher. Auch unsere Anführer trugen lange Bärte und Kutten und waren ihm nie ganz geheuer, bis man alle rasiert und auf traurigen Posten ruhiggestellt hatte. Auch wir haben dem Westen vor allem durch Massenflucht zugesetzt und dachten immer, sie hätten auch nur zwei Arme wie wir. Aber sie haben mindestens sechs: Sie können sie gleichzeitig ausbreiten, ablehnend verschränken und sich dabei noch hinterm Rücken die Hände reiben. Auch wir wollten einmal so leben wie sie. Aber sie wollten nur, dass wir so leben, wie sie es wollen. Vor allem nicht ganz so gut. Das nennen sie Integration.

Lasst Euch also nichts erzählen von Recht und Freiheit! Sie meinen nur ihr Recht auf Öl und Eure Freiheit, zwischen zwei Cola-Sorten zu wählen. Schwärmen sie vom »Arabischen Frühling«, fürchten sie allenfalls den eigenen Herbst. Bevor man Hilfe verspricht, beim Aufbau-Ost oder in Libyen, haut man erst mal alles klein. Der Westen exportiert alles, Waffen, Werte, ganz egal. Ob dabei der Ölpreis explodiert oder die Kosten der deutschen Einheit – einer gewinnt immer. Das nennt er Politik.

Eben noch rangelten westliche Konzerne um Bohrlizenzen in Libyen. Nun betanken sie die Bomber für die Flurbereinigung. Eben empfing man die Mubaraks und Honeckers dieser Welt noch mit militärischen Ehren, gewährte Milliardenkredite oder stattete Folterkollegen in Tunesien und Jordanien mit deutscher Polizei-Technik aus. Doch auf einmal werden resozialisierte Terroristen wie Gaddafi nicht mehr zu G-8-Gipfeln oder zum Camping nach Paris eingeladen. Eben hat man ihn noch mit Waffen ausgerüstet und entrüstet sich nun, wenn er die auch benutzt. Eben noch drückten »lupenreine Demokraten« wie Berlusconi oder Gerhard Schröder beide Augen zu; Guido Westerwelle richtete dem Revolutionsführer warme Grüße der Kanzlerin aus. Jetzt bringt er den neuen Revolutionsführern Medikamente mit. Meist sind es ehemalige Funktionäre, vielleicht sogar die künftigen Schurken – aber sicher haben die Wendehälse aus dem Westen auch etwas gegen steife Nacken dabei.

Es geht nicht um Menschenrechte, wenn sie sich irgendwo auf der Welt »engagieren«, sondern immer nur darum, was sonst noch zu holen ist. Deshalb seid Ihr im Jemen auf Euch allein gestellt, genau wie wir damals in der kleinen dreckigen DDR. Erst nachdem wir uns selbst befreit hatten, kamen die Besatzer. Und bei aller Zurückhaltung mit Nahost-Vergleichen, den Konflikten rund um Israel oder Kleinmachnow: Was Vertreibung, Zwei-Klassen-Gesellschaft und Fremdverwaltung heißt, kennen seitdem auch Deutsche nicht mehr nur aus der Täterperspektive. Dabei haben wir das Existenzrecht der alten Bundesrepublik nie in Frage gestellt, jedenfalls nicht laut. Leider!

Nun sind wir das Morgenland von Deutschland: Sandstürme toben sich hier aus, Missionare und allerhand abendländische Fundamentalisten. Anfang der neunziger Jahre haben sich nur ein paar Trottel von westdeutschen Nazi-Führern gegen Euch aufhetzen lassen. Inzwischen stellen wir die »ostdeutsche Unterschichten-Armee« praktisch allein. Afghanistan ist trotzdem nicht unser Krieg. Arbeitslose Dresdner haben dort so wenig verloren wie arbeitslose Afroamerikaner in Vietnam. Im Grunde verteidigen sie nur die westdeutschen Sozialsysteme »bis zur letzten Patrone« (Horst Seehofer), indem sie ihnen hier nicht zur Last fallen.

Deshalb können wir Euch neben der überfälligen Entschuldigung nur bitten: Lasst Euch nicht unterkriegen, sonst bricht im Westen alles zusammen. Nicht nur die Rüstungsindustrie. Lasst Euch vor allem nicht kaufen so wie wir – oder Eure Brüder und Schwestern hier! Denen geht es – wenn man das von Hassprediger zu Hassprediger mal so sagen darf – womöglich schon zu gut. Sie haben einen eigenen Zentralrat, eine eigene »Islam-Konferenz«. Wir dagegen trauen uns nicht mal, in der Schule nach einem Gebetsraum für unsere Kinder zu fragen. Seit der ersten Einheitsrede des schönsten Bundespräsidenten aller Zeiten habt Ihr es sogar mündlich: »Der Islam gehört zu Deutschland.« Wann hat ein westdeutscher Politiker zuletzt mit so viel Verve den Osten Deutschlands dazugezählt? Andererseits – wollen wir das? Wollt Ihr das wirklich? Ich weiß nicht, was »Schnauze, Wessi« auf Arabisch heißt – aber lasst ruhig mal dergleichen von Euch hören!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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