Der Gipsbein-Effekt

 

Löw oder Ballack, Bündnis ohne Grüne, mein Gehalt gegen das meiner Hamburger Chefs: Der Graben im geteilten Land wird immer tiefer – wenn man den Blick dafür hat. Eine Paranoia.

 

Immer noch schreiben mir wildfremde Leute, ich solle endlich selbst die Schnauze halten. Das sei doch alles »retro«, Ost-West, kalter Kaffee, kalter Krieg … Sogar eine gewisse Obsession wird mir für dieses Thema unterstellt. Lächerlich! Und doch – alte Stalinisten wissen Bescheid – nehme ich Kritik selbstkritisch ernst und versuche hier und da, vor allem aber hier, etwas großzügiger auf westdeutsche Charakterdefizite zu reagieren.

Eben in der Kaufhalle zum Beispiel, keine zwei Stunden her, gab es Theater, weil einer Kundin zwei Sorten antibakterieller Mülltüten zu wenig Auswahl war. Wegen meiner guten Vorsätze möchte ich ihren Dialekt nicht unnötig denunzieren. Die Verkäuferin allerdings verdrehte die Augen. Ich drehte zurück. Wir waren uns einig – das hilft auch schon oft und zeigt: Man kann sich durchaus beherrschen. Wir jedenfalls. Doch dann, am Zeitungsstand, schlug die Allgegenwart des Themas schon wieder erbarmungslos zu:

Da erschießt ein Bayer drei harmlose Schrottsammler in Sachsen. Da stirbt »Sexy Cora«, ein Mecklenburger Porno-Mädchen, unter dem Messer Hamburger Schönheitschirurgen. Da rast ein niedersächsischer Lokführer für die Salzgitter AG durch Sachsen-Anhalt – und zehn Einheimische sind tot ...

Gut, mag man einwenden, Tote mahnen immer. Aber bin ich denn der einzige Überlebende, dem noch auffällt, wie oft die Zeitungen die Herkunft von Tätern und Opfern verschweigen? Warum wohl? Wieso waren unsere Pisa-Musterschüler schon wieder drei Wochen in der Schule, während sich Bayern und Baden-Württemberger noch am Strand sielten? An unseren Stränden womöglich – und bei Sonne! Wer einmal genauer hinsieht, erkennt überall den schwelenden Grundkonflikt. Viel zu lange haben wir ihn in Witzen verharmlost, schöngeredet, verdrängt. Sogar undurchschaubar scheinende Phänomene bekommen auf einmal klare Konturen.

Da soll sich Michael Ballack auch noch dafür entschuldigen, dass ihm erst ein West-Berliner Migranten-Rüpel den Fuß kaputt trampelt und ihm kurz darauf alle in den Hintern treten. »Eine Farce«, nennt er, was DFB und gleichgeschaltete Medien für einen »würdigen Abschied« halten. Sie erkennen nicht mal, dass da lieber einer aufrecht vom Platz geht, als zu kriechen. Ballack hätte auch »Schnauze, Wessi« sagen können oder »Arsch lecken«, aber bei Leuten wie Jogi Löw weiß man nie, wie das ankommt.

Vielleicht merkt man meine Zurückhaltung, was gewisse Beobachtungen und Vorurteile angeht. Ich möchte keinesfalls paranoid oder gar fremden-, schwulen- oder schwabenfeindlich wirken. Im Gegenteil: Bei so einem sensiblen Thema wie der inneren Einheit darf man nichts übertreiben und erliegt schnell dem Gipsbein-Effekt. Kaum läuft man selbst ein paar Tage an Krücken, sieht man überall Versehrte. Mir fällt das, ehrlich gesagt, auch erst massiv auf, seit ich nicht mehr viel in Hamburg oder der ehemaligen Hauptstadt der DDR verkehre, sondern wieder tief im Osten lebe. Andere Heimkehrer teilen diese Erfahrung: Im Westen fallen Westdeutsche kaum unangenehm auf. Das liegt in der Natur der Sache, so wie man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Auf der anderen Seite – also hier – muss man aufpassen, dass sich dieses Thema nicht verselbstständigt und jeden Blick für die schönen Dinge im Leben verstellt.

Schlimm genug, dass die Harzer Jodel-Meisterschaften von hässlichen Misstönen dieser Art gestört werden und der Streit – wie der NDR aufdeckt – schon seit Jahren von neidischen West-Jodlern ausgeht. Dass Fußballfans per Postleitzahl als Hooligans gelten, wenn sie aus Rostock, Cottbus oder Dresden anreisen. Dass der Osten Deutschlands wie jedes Jahr am 1. Juni Kindertag feierte  – der Westen hingegen am gleichen Tag »50 Jahre Anti-Baby-Pille«. Das ist doch kein Zufall! Das hängt doch alles zusammen! Wieso sonst leben hierzulande 25,7 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren von Hartz IV, aber im Westen nur halb so viele (13,2 Prozent)?

Es hat nichts mit Zeit zu tun, mit zehn oder 20 Jahren Gras über alten Narben: Wer mit offenen Augen durch das geteilte Land geht, kann gar nicht übersehen, dass sich westdeutsche »Eliten« – wie sie der Soziologe Raj Kollmorgen in seiner Studie dazu nicht ohne Ironie nennt – im Osten immer noch reproduzieren wie Kaninchen. Warum prominente Ost-West-Beziehungen nach scheinbar glücklichen Jahren plötzlich kriseln (Stefanie Hertel und Stefan Mross, Merkel und Westerwelle, Ballack und Löw ...). Warum meine Hamburger Chefs mehr verdienen als ich, obwohl ich mehr arbeite, nur eben in Leipzig. Sogar bizarre westdeutsche Eigenarten, die auf den ersten Blick nichts mit Auflagenschwund, Euro-Krise oder dem Untergang des Abendlandes zu tun haben, erschließen sich spätestens auf den zweiten.

Der Kroate Braco etwa scheint ein ganz normaler osteuropäischer Wunderheiler zu sein. In Stuttgart oder München stehen Tausende Menschen Schlange, um sich von ihm anstarren zu lassen. Er legt ihnen weder seine Hände auf, noch hat er Medizin studiert, sondern – nun ja – Betriebswirtschaft. Egal, könnte man denken, die Menschen dort glauben ja auch, die Grünen hätten noch etwas mit Bündnis 90 zu tun, an den Euro oder daran, dass sie ihre Kinder nicht impfen müssten, wenn es nur genug andere tun. Gleichzeitig liest man aber, dass sich solche Spinner massenhaft an ostdeutschen Universitäten einschleichen. Dass Beamte aus Stuttgart samt ihren antibakteriellen Ehefrauen erneut mit »Buschzulagen« angelockt werden, obwohl sie auf allen halbwegs wichtigen Posten in den besetzten Ländern schon unter sich sind. Als Opernintendanten, Superintendenten, Operettenbürgermeister. In Museen, Kasernen, Schulen. Arbeitsämtern, Bordellen, Kneipen. An allen Schaltstellen der Macht. Ist es wirklich eine Obsession, wenn einem das nach 22 Jahren komisch vorkommt? Oder pervers, dass es so ist? Oder doch nur: Ich sehe was, was Du nicht siehst?

Da denkt man, okay, EHEC – schlimm, die armen Menschen. Aber im Wesentlichen hat sich die Seuche ja im Westen ausgetobt. Erst Wochen später kommt raus, wie hart es auch unschuldige Gurken-Bauern aus dem Spreewald traf, und dass sogar eine junge Frau aus Sachsen daran starb, die in einer Bremer Seniorenresidenz arbeitete. »Ein fröhliches Mädchen«, so nahm die BILD-Zeitung vor Ort Anteil, »sportlich, hilfsbereit, gesund.«

Bis sie westdeutsche Bio-Sprossen aß.

Könnte sie vielleicht noch leben, wenn die westdeutschen Betreiber ostdeutscher Altenheime bei ihr zu Hause nicht solche Hungerlöhne zahlen würden? Wieso kommen stattdessen fast alle Kandidaten, die sich an diesem Wochenende für den Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg ins Abgeordnetenhaus wählen lassen wollen, aus Hamburg, Coesfeld oder Freiburg? Sogar die ehemalige PDS lässt ehemalige BRD-Bürger antreten. Hängt das vielleicht mit einer Meldung aus der Südwest-Presse zusammen, nach der die Freiburger Polizei seit Juli zwei Sexualstraftäter weniger bewachen muss? Zwei der Männer, die dort vor kurzem aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden, so heißt es, hätten eine neue Wohnung in Ostdeutschland gefunden. Wahrscheinlich mit Buschzulage.

Wie gesagt, vielleicht sehe ich überall Gipsbeine, so wie andere im Osten überall Fremdenfeindlichkeit sehen. Aber ganz alleine bin ich damit zum Glück nicht. Als sich an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst – unter dem Label Leipziger Schule seit Jahrzehnten für ihre gegenständliche Malereiausbildung berühmt – plötzlich lauter konzeptuell denkende Professoren aus Köln sammelten, tat der damalige Rektor, zufällig auch ein Rheinländer, alle Vorwürfe der »Günstlingswirtschaft« als reinen Zufall ab. Neo Rauch, der einheimische Star der Schule, erklärte uns das in der Leipziger Volkszeitung in gewohnt volkstümlichen Worten so:

»Es gibt ein psychologisches Phänomen, das ich salopp als transportable Xenophobie bezeichnen möchte. Man kommt irgendwohin und findet sehr spezifische Umstände vor, ist aber aus bestimmten Gründen gezwungen, sich dort zu etablieren, vielleicht weil man andernorts keine Chance dazu hatte. Man kommt dann nicht eher zur Ruhe, bis man die Verhältnisse vor Ort so zugerichtet hat, dass sie einem entsprechen ...«

»Transportable Xenophobie« – so »salopp« kann man das auch ausdrücken. Ich sag es mal etwas vornehmer: Schnauze, Wessi!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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