Die Urne ist der Sarg der Demokratie

 

Wahlen im Osten galten für Politik und Medien schon immer als Lotterie. Nun setzt sich langsam auch im Westen die einzig wählbare Partei durch, die nie enttäuscht: Keine. Eine Wahlanalyse.

 

Da rätseln sie wieder: Sind knapp 53 Prozent Wahlbeteiligung in Sachsen-Anhalt nun gut, weil besser als zuletzt 44, oder immer noch schlecht? Gingen am Ende doch mehr Leute aus Angst vor Erdbeben in Japan wählen oder nur davor, der globale Westen könnte bei demokratischem Fehlverhalten nach Tripolis auch wieder mal Magdeburg bombardieren? Wollten sie wirklich den Einzug der NPD in den Landtag verhindern oder eher den der FDP? Es ist doch immer wieder eine Freude, wenn westdeutsche Wahlforscher, Wahrsager und andere Sterndeuter ihre Mutmaßungen über den mutmaßlichen Willen der mutmaßlichen Brüder und Schwestern im Osten anstellen.

Politiker und Journalisten tun dann so, als sei es eine Art Staats- oder Wahlgeheimnis, dass die Mehrheit mit dem parlamentarischen Getue ihrer Besatzer noch nie viel anfangen konnte. Ein paar westdeutsche Ost-Experten wie etwa Klaus Schröder vom Forschungsverbund SED-Staat fürchten sogar völlig zu Recht eine »Demokratieentfremdung«, die auch unter marktwirtschaftlich geborenen Erstwählern wächst. Manche Ältere gehen trotzdem noch hin, weil der Kandidat ihr Nachbar ist oder niemand den zugezogenen Gegenkandidaten leiden kann. Und sicher können sich auch ein paar ewig Gestrige dem heimlichen Zwang nicht entziehen, der heute im Westen fast so verbreitet ist wie seinerzeit unter Honecker: Dem so genannten Urnengang als Bürgerpflicht. Im Osten gilt das sonst höchstens noch für Beerdigungen, weil sich kaum noch jemand einen Sarg leisten kann.

Seit 20 Jahren nehmen aufgeklärte Ostdeutsche weder an »Super-Wahljahren« teil, noch teilen sie die inszenierte Spannung von »Wahlkämpfen«, mit der sich Westdeutsche alle paar Jahre vom Klassenkampf ablenken lassen. Lange wurden sie dafür als Demokratieverächter verachtet. Läppische Prozentzahlen galten als Gradmesser ihrer Assimilation. Verwählten sich doch mal ein paar, hätte man die falsche Partei am liebsten gleich verboten. Und natürlich vergaßen die neuen Staatsbürgerkunde-Lehrer aus dem Westen in ihrer Empörung gern, dass die NPD lange vor ihren lächerlichen Auftritten in Dresden und Schwerin auch schon in den Landtagen von Hessen, Bayern, Bremen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein saß. Statt alle Ergebnisse im Osten ehrlicherweise zu halbieren und den vielen Nichtwählern zu danken, die sich anders entschieden haben, sollten die sich auch noch dafür schämen. Demokratie: Note sechs. Nachsitzen!

In Wahrheit war der Osten nur einmal mehr Vorreiter einer Bewegung, als sich im Westen noch niemand vor selbstgerechten »Wutbürgern« oder »Piraten« gruselte und Politikredakteure »Ansichten eines Nichtwählers« als bürgerlichen Ungehorsam ausgaben. Das stille Nein hat hierzulande Tradition. Die reicht bis vor 1989 zurück, zumindest bei etwa einem Prozent, wenn man mal die gefälschten Statistiken der DDR zu Grunde legt. Und damals wurden renitente Leute noch von Wahlhelfern zu Hause besucht oder schon schief angeschaut, wenn sie nur die Wahlkabine benutzten.

Heute fühlen sich die gleichen Menschen von westdeutschen Medien zur Wahl gegängelt. Auch deshalb sagen sie in Umfragen lieber einmal zu viel Nein als noch einmal zu wenig. Das wirkt dann, als würden sie sich inzwischen mehr mit der DDR identifizieren als damals. Dabei wehren sie sich nur auf ihre Art gegen jeden neuen Versuch, wieder zu den einzig richtigen Antworten erzogen zu werden. Sobald ein Bekenntnis verlangt wird wie früher von der SED-Propaganda, werden sie misstrauisch. Was soll ein voll arbeitender Leiharbeiter auch über seine materielle Zufriedenheit sagen, wenn er nicht davon leben kann? Oder auf die dümmlichste Formulierung von allen, ob jemand »im Westen angekommen« sei – je nachdem, wie sehr er sich inzwischen wieder in Anpassung übt? Wir wollten das Volk sein, nicht mehr folgsam. Warum also wählen – und vor allem wen?

Die meisten Ostdeutschen sind alt genug, um noch zu wissen, wer hinter der Linken steckt, aber auch mit 80 noch zu jung für die CDU. Sie sind weder reich noch blöd genug für die FDP, denn wer keine Steuern zahlt, braucht auch keine leeren Steuerversprechen. Niemand hat vergessen, welche Parteien zuerst damit anfingen, wieder in zweifelhafte Kriege zu ziehen, und gleichzeitig die passende Rekrutierungskampagne »Hartz IV« für die »ostdeutsche Unterschichten«-Armee (Michael Wolffsohn) ausriefen. Und wer oder was soll eigentlich heute noch Bündnis 90 an den Grünen sein?

Also bitte, Ihr gutgläubigen Menschen in Rheinland-Württemberg oder wie das heißt: Dies ist kein Wahlaufruf  – es sei denn, Ihr wolltet hingehen. Nehmt Euch ausnahmsweise mal ein Beispiel an uns! Es gibt nicht nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen großer Koalition und kleinstem gemeinsamen Nenner, Urne oder Sarg. Man kann an diesem Sonntag auch einfach zu Hause bleiben, etwas im Garten machen oder mit den Kindern. Dann ärgert Ihr Euch hinterher wenigstens nicht. Wahlen – das lehrt die Erfahrung bis 1933 ebenso wie vor und nach ’89 – ändern, bedeuten oder verhindern gar nichts. Die Urne ist der Sarg der Demokratie.

War nicht eine klare Mehrheit seit Jahren für den Atomausstieg, als Eure verstrahlte Regierung die Laufzeiten verlängerte, bis die eigenen Maßstäbe in atemberaubender Halbwertszeit zerfielen? Waren nicht 80 Prozent gegen eine Rechtschreibreform, bis sich alle genauso schnell daran gewöhnten wie an tote Soldaten eines Krieges, den die Mehrheit auch nie wollte? Habt Ihr das Märchen vom Euro wirklich geglaubt? Oder das von irgendwelchen »Märkten«, die Billionen davon in Luft auflösen? Hat man Euch überhaupt mal gefragt, ob Ihr mit uns wiedervereinigt werden wolltet? Hingegangen, mitgehangen. Verwählt. Hinterher könnt Ihr ja Facebook-Gruppen gründen und ein wenig demonstrieren? Meine Güte, Stuttgart 21 – wir haben einen ganzen Polizeistaat ohne Wahl abgewählt!

Leider reicht auch unsere Kraft nur für einen Umsturz alle 50 Jahre, und so regt sich hier niemand mehr groß auf, wenn ein sinnloser Eisenbahn-Tunnel unter Leipzig gegraben wird. Wir dulden sogar einen Oberbürgermeister, der bei einer Wahlbeteiligung von 31,7 Prozent mit 51,6 Prozent gewählt wurde. Wer aus dem Siegerland stammt, fühlt sich auch so, wenn ihn eigentlich nur 16 Prozent wollten. In Baden-Württemberg reicht die gleiche Quote sogar, um Ministerpräsident zu werden. Das heißt aber auch: 84 von 100 Wahlberechtigten wollten weder unseren Bürgermeister noch den Regierungschef in Stuttgart. Ist das die Demokratie, die Ihr meint? Mehr echte Anhänger hatten auch Honecker oder Gaddafi nie. Aber egal: Selbst wenn unser Tunnel nun mit einer Milliarde das Doppelte kostet als geplant – solange das meiste Geld dafür aus dem Westen kommt …

Was ich damit sagen will: Ostdeutsche wissen Demokratie und Freiheit sehr wohl zu schätzen – oder was diese Begriffe bedeuten könnten. Anfangs fühlte sich das sogar richtig wertvoll an, weil wir nichts vom geografischen Zufall oder den Siegern des Weltkrieges geschenkt bekamen. Auch deshalb gehen wir nicht so leichtfertig mit unseren Stimmen um – und behalten sie lieber für uns. Ein bisschen ist das wie mit der Meinungsfreiheit. Vielleicht solltet Ihr das auch mal probieren? In diesem Sinne: Schnauze, Wessi!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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