Arme Helden

 

Erst Heldenstadt, dann »Boomtown« – inzwischen ist Leipzig nur noch Hauptstadt der Armut. Aus der friedlichen Revolution ist ein Opernball für Zugezogene geworden. Ein Trauerspiel.

 

Jedes Jahr im Oktober ehrt Leipzig seine Helden: Die etwa 70.000 alles entscheidenden Montagsdemonstranten von 1989, die 90.000 Toten der Völkerschlacht – und die 2.000 Gäste des Opernballs kann man ruhig auch dazuzählen. Sie stammen zwar mehrheitlich aus dem Westen und geben sich im wahrsten Sinne der Floskel nur selbst die Ehre, aber letztlich haben auch sie zu dem beigetragen, was diese Stadt heute ist. Nur die Leipziger selbst tun sich traditionell etwas schwer mit Feierlichkeiten in eigener Sache.

Als es hier vor knapp 200 Jahren gegen Napoleon ging, standen die Sachsen viel zu lange auf der falschen Seite. Bis sie am 9. Oktober 1989 endlich den Mutigsten unter ihnen beistanden, die schon seit Jahren Haft und Schikanen in Kauf nahmen, sahen die meisten nur ängstlich zu, wenn die Volkspolizisten fast genauso herzhaft zuschlugen wie ihre Stuttgarter Kollegen in diesen Tagen. Und weil die Erinnerung an die kurze Zeit danach, als das Volk ein paar Monate wirklich das Volk war, im Rückblick auch ein wenig wehmütig macht, feiern das Westdeutsche auf dem Opernball lieber unter sich.

Kaum hatten die Leipziger das ungewohnte Gefühl der Freiheit gegen das trügerische der freien Marktwirtschaft getauscht, riefen Westmedien – ich fürchte, es war sogar zuerst der Stern – die »Heldenstadt« zur »Boomtown« aus, was leider auch besonders viele Spekulanten und Schaumschläger anlockte. Ihre Kräne und Steuersparmodelle prägten die Stadt in den neunziger Jahren. Und heute, weitere zehn Jahre später, ist sie tatsächlich ganz oben angekommen: In einer aktuellen Vergleichsstudie des Statistischen Bundesamtes hat Leipzig sogar Berlin von Platz 1 verdrängt und kann sich seit Juni ganz offiziell die ärmste Großstadt Deutschlands nennen.

Das haben die »Helden« nun davon: 27 Prozent müssen mit weniger als 60 Prozent des bundesweiten Durchschnitts-Einkommens auskommen. Vor dem ersten Weltkrieg nach Pro-Kopf-Einkommen noch die reichste Stadt im Reich, ist 20 Jahre nach der so genannten Wiedervereinigung jeder vierte Leipziger das, was Statistiker hierzulande als arm oder »von Armut bedroht« bezeichnen. Angesichts solcher Zahlen kann man den Leipziger Oberbürgermeister und seine Marketingmitbringsel aus dem Westen nur bewundern, wenn sie den Einheimischen und sich selbst immer noch einreden, wie stolz man trotzdem auf das Erreichte sein könne, und ihnen sogar zeigen, wie man das richtig feiert. Notfalls auch ohne Leipziger.

Schon im vergangenen Jahr, zur großen 20-Jahrfeier der Friedlichen Revolution, hatten nur wenige echte Helden Lust auf einen gemeinsamen Festakt mit Muster-Wendehälsen wie Angela Merkel oder dem sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, die 1989 noch brav an ihren DDR-Karrieren feilten. Viele den Bürgerrechtlern zugedachte Plätze im Gewandhaus blieben leer. Weil sich aber stattdessen sogar noch mehr mutige Menschen mit Kerzen auf den Ring um die Innenstadt wagten als vor 20 Jahren, soll dieses »Licht-Fest« nun jedes Jahr stattfinden.

Die Leipziger Oktoberrevolution ist ein »Event« geworden, veranstaltet von der Tourismus und Marketing GmbH. »Ab 105,- EUR pro Person im Doppelzimmer« gibt es Wochenendarrangements samt Stadtrundgang »Auf den Spuren der Friedlichen Revolution«. Wenn schon die verarmten Leipziger in den letzten 20 Jahren nicht viel daraus gemacht haben, haben so wenigstens westdeutsche Hotelketten etwas davon. Und wenn die heutigen Marketing-Revoluzzer damals nicht helfen konnten, so holen sie es jetzt eben nach und schmücken sich gern mit den Indianerfedern der Ureinwohner.

Für den Oberbürgermeister, seinerzeit noch Lehrer für Deutsch und Religion im Siegerland, sind es immer wieder »Gänsehaut-Momente«, wenn er mit Landsleuten den unerwarteten Karrieresprung feiert. Vermutlich wäre er zu gern ein »echter Leipziger«, wie es auf den gelben T-Shirts steht, die er gemeinsam mit seinem Tourismuschef aus Verden in Niedersachsen neulich vorstellte. »Echte Leipziger« sollen damit künftig Werbung für »ihre Stadt« machen – als wäre es noch ihre, oder als hätte jemand 14,95 Euro für ein lächerliches T-Shirt übrig! Gar nicht zu reden von der jährlichen Gedenkshow der westdeutschen Selbstdarsteller.

40.000 Besucher zählten sie dieses Jahr. Und wer wirklich dort war, fragte sich, ob vielleicht noch dieselben Demonstranten-Zähler im Dienst sind, die früher die Teilnehmer der Paraden zum 1. Mai hochgerechnet haben. Möglicherweise steckt aber auch nur die Lobby der westdeutschen Wachskerzen-Industrie hinter diesen Wunschzahlen. Und selbst wenn es 5.000 waren, gingen die schnell wieder heim, als die kaum erträgliche LiveÜbertragung der Nikolaikirchenorgel auf dem Augustusplatz begann.

Der Nikolaikirchenkantor stammt aus Bad Mergentheim, der »Künstlerische Leiter« des Lichtfestes aus Essen. Die Festrede hielt Nobert Lammert aus Bochum und beklagte, dass »vor die Hunde zu gehen scheint, was wir zum Funktionieren einer demokratischen und modernen Gesellschaft brauchen.« Aber wieso eigentlich? Etwa weil ein Bundestagspräsident Ermittlungen gegen Journalisten vorantreibt? Oder weil die Fiege-Bierkutschermütze »für besondere Verdienste um das Ruhrgebiet« einen wie Lammert schon dafür prädestiniert, Leipzigern zu erklären, dass die Proteste in Stuttgart nichts mit denen von 1989 zu tun haben? Spielte er damit womöglich auf den sinnlosen Milliardentunnel an, der auch unter Leipzigs Innenstadt gerade gebohrt wird? Wollte er uns loben oder verhöhnen, weil wir uns seit 20 Jahren alles gefallen lassen? Ganz schön unfair  – haben die Stuttgarter doch mehr als 60 Jahre gebraucht, um das zu begreifen!

Ein Sänger namens Rolf Stahlofen recycelte dann noch ein sieben Jahre altes Lied mit dem Titel Zeit was zu ändern. Die Lichtfestspielleitung wollte damit so etwas wie eine neue Freiheitshymne in der Bach-Stadt etablieren und hielt den Musiker aus Süddeutschland wohl für den geeigneten Mann, nachdem er bereits den Uhu in Peter Maffays Tabaluga gesungen hat. Aber vielleicht muss man schon froh sein, wenn einem nicht auch noch der Wind of Change aus der Partnerstadt Hannover um die Ohren pfeift.

Weil das Opernhaus am selben Tag mit Wagners Meistersingern  – immerhin das Werk eines echten Leipzigers – seinen 50. Geburtstag feierte, kam es zuvor noch zu einem niedlichen Eklat zwischen den westdeutschen Kultur- und Gedenkverwaltern der Stadt. Die Pressesprecherin der Oper hatte sich öffentlich über »so ein Bohei« geärgert, das um den 9. Oktober vor 21 Jahren gemacht werde. Noch schlimmer als die fehlende Absprache der Feierlichkeiten war offenbar dieses treffende, aber leider viel zu rheinische Wort, für das man ihr prompt einen unsensiblen Umgang mit der heiligen Friedlichen Revolution bescheinigte. Am Ende wurde die aus Westdeutschland stammende Pressesprecherin von ihren aus Westdeutschland stammenden Chefs nach Protesten von aus Westdeutschland stammenden Zeitungsredakteuren gegen eine neue Pressesprecherin aus West-Berlin getauscht. Wie zur Strafe kündigte der westdeutsche Oberbürgermeister kurz darauf an, dass die Oper aus Kostengründen bald nur noch sechs Monate im Jahr spielen könne.

Den Leipziger Opernball, auf dem er mit seinesgleichen dieses Wochenende feierte, wird es wohl nicht treffen, auch wenn das echte Leipziger kaum schmerzen würde. Ein paar einheimische Schauspieler und Sportler waren zwar als Hofnarren auch noch dabei, aber sonst war alles wie immer: Draußen demonstrierten Nazis, angeführt von westdeutschen Funktionären. Die Polizei, angeführt vom westdeutschen Polizeipräsidenten der Stadt, versuchte, die aus Westdeutschland angereisten Gegendemonstranten von der Oper fernzuhalten, damit deren Eltern dort in Ruhe ihr Crépinette vom Milchkalb genießen konnten. »Leipziger Freiheit« nennen das westdeutsche Marketingstrategen. Davor hieß es: »Leipzig kommt«, doch mehr als den besten Sex in Deutschland hielt dieses Versprechen nie. Der neueste Slogan lautet deshalb – immerhin halbwegs ehrlich, weil nach unten offen: »Leipzig. The city with no limits.« Ein anderer träfe es auch: »Schnauze, Wessi!«

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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