Das Pfeiffer’sche Drüben-Fieber

 

Alles Nazis, Schläger, Babymörder. Meist wissen westdeutsche Experten auch gleich, warum Ostdeutsche so sind – einer vor allem: der Top-Kriminologe Pfeiffer (mit verstecktem viertem f). Eine Diagnose.

 

Wenigstens können wir nichts dafür. Schon 1999 hat der viel gefragte Kriminologe Christian Pfeiffer herausgefunden, dass die typisch ostdeutsche Neigung zu fremdenfeindlicher Gewalt mit der frühen Sauberkeitserziehung in den Kinderkrippen zusammenhängt. Seitdem ist der Professor mein westdeutscher Lieblings-Ost-Experte. Wer schon als Kleinkind in Reih und Glied auf dem Topf saß, kann praktisch nicht anders, als braunen Gedanken nachzuhängen: Fäkale Verlustängste in der analen Phase, später Probleme mit dem Über-Ich – so weit, so logisch und seit Freud bekannt. Aber kein Kriminologe kann das so einfach erklären wie Pfeiffer. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob es überhaupt andere Kriminologen gibt. Auf jeden Fall sparen Talkshows und Ministerien seitdem viel Geld für echte Fachleute.

Im Jahr 2000 sorgte nicht zuletzt seine Expertise dafür, dass alle Bewohner der sächsischen Kleinstadt Sebnitz unter Verdacht gerieten, einen kleinen Jungen ertränkt oder wenigstens der analen Elite ihrer Stadt dabei zugesehen zu haben. Der Kriminologe – diesmal offenbar als psychiatrischer Sachverständiger gefragt – hatte eine Mutter für glaubwürdig erklärt, die den Schmerz über den Badeunfall ihres Sohnes nie verwunden hatte. Danach berichteten fast alle westdeutschen Medien tagelang über den unvorstellbar grausamen »Fall Sebnitz«, bis Stern-Reporter – nach einigen schlechten Erfahrungen mit Nazi-Sensationen stets besonders gründlich – die Wahrheit herausfanden: Es war alles Käse, ein Reflex der Lichterketten-Empörung, aber im Ergebnis – vermutlich kriminologische Weitsicht – viel nachhaltiger: Jeder Dorfbürgermeister beruft sich seitdem lächelnd auf Sebnitz, wenn er echte Nazis in seiner Gemeinde nicht wahrhaben will.

Vor kurzem hat Pfeiffers Institut in Hannover – um das Wort auch mal zu benutzen – »nachgewiesen«, dass vor allem Kinder von freikirchlichen Eltern immer noch mit Schlägen gezüchtigt werden, härter und häufiger jedenfalls als das in muslimischen oder gar katholischen Familien Alltag ist. Und langsam mache ich mir echte Sorgen – nicht mal so sehr um den Professor, sondern um mich.

Immerhin habe ich nicht nur die halbe Kindheit auf einem ostdeutschen Krippen-Topf verbracht, sondern wurde auch noch in einer Freikirche getauft. Meine Eltern sind Methodisten, so rutscht man da rein. Und wenn ich heute meinen eigenen Kindern nach drei Stunden ihren Gameboy wegnehme – Computerspiele sind laut Pfeiffer nämlich genau so ein Grundübel –, drohen sie prompt mit einer Anzeige wegen seelischer Körperverletzung. Sie kennen ihre Rechte. Das macht die christliche Erziehung nicht einfacher. Zudem ist ihre Mutter Katholikin. Ich darf also nur selten mal ordentlich zuschlagen. Umso wichtiger ist der Kriminologe für mich und meine Resozialisierung.

Unter Kollegen mögen seine Thesen umstritten sein. Angeblich hütet er Quellen und Daten wie der freikirchliche Zonen-Nazi seinen Baseballschläger. Wir Ostdeutschen aber lechzen danach: Wer sonst erteilt uns wissenschaftlich Absolution für Jahrzehnte falschen Lebens?! Also bitte, verehrter Professor, lassen Sie sich nicht von anderen Schwätzern entmutigen! Es gibt noch so viele offene Fragen:

Nach wie vor sind etwa die Wechselwirkungen zwischen Hooliganismus und Sozialismus weitgehend unerforscht. Gibt es da vielleicht Schnittmengen mit protestantischen Prügeleltern oder warum fuchtelt die Pfarrerstochter Angela Merkel bei Fußballspielen immer so wild mit ihren Fäustchen?

Könnten Sie nicht mal – vielleicht zusammen mit Guido Knopp – die letzten Zeitzeugen über das Töpfchen-Training im Dritten Reich befragen? Welche Ego-Shooter haben zum Beispiel SS-Schergen als Kind bevorzugt? Diese Spiele würde ich meinen Kindern sofort verbieten. Notfalls mit Gewalt.

Vielleicht lässt sich eines Tages sogar die Ursache für dieses – der Professor entschuldige bitte die laienhafte Diagnose  – Pfeiffer’sche Drüben-Fieber finden und ähnlich einfach erklären, wie das sonst keiner kann. Als Kind, so viel verrät Wikipedia über ihn, musste er – wahrscheinlich ungefragt oder sogar gegen seinen Willen – von Frankfurt an der Oder nach Kirchweidach in Oberbayern umziehen. Er stammt also ursprünglich selbst aus der Töpfchen-Zone. Und wo liegt Kirchweidach? Nur eine Stunde von Aßling, wo westdeutsche Neonazis – dass es so was dort überhaupt gibt! – erst neulich ein Hakenkreuz in ein Maisfeld trampelten. Kann das ein Zufall sein? Was für eine Konfession hatten eigentlich Pfeiffers Eltern?

Als man 2005 bei einer Mutter aus – Achtung ! – Frankfurt/Oder neun Babyleichen fand, zum Teil in Blumentöpfen verscharrt, erklärte das der damalige Innenminister von Brandenburg, Jörg Schönbohm, mit der »erzwungenen Proletarisierung« im Osten. Er erntete dafür heftig Kritik, aber Pfeiffer sprang ihm sofort bei: Die Wahrscheinlichkeit, als Baby umgebracht zu werden, sei inzwischen in den neuen Ländern drei- bis viermal höher als im Westen. Seine Statistik ließ zwar außer Acht, dass selbst eine durchproletarisierte Kindsmörderin innerhalb eines Jahres schwerlich neun Babys bekommen und umbringen kann, aber dafür fragte auch niemand mehr nach den wahren Ursachen für harsche Pauschal-Urteile dieser Art. Wie er selbst wurde nämlich auch Schönbohm als Kind aus Brandenburg verschleppt. Offenbar wussten ihre Eltern, was sonst droht: Nachttopf oder Blumentopf. Dann doch lieber Bayern. Wer konnte auch ahnen, was die frühe Entwurzelung für schwere Traumata hinterlässt?

Wann immer ein Thema die Gesellschaft erregt, arbeitet der Kriminologe schon an einer Studie – oder würde gern. Ab November untersucht sein Institut die Personalakten aller 27 deutschen Bistümer nach Hinweisen auf Kinderschänder. Er weiß sofort, was eigentlich hinter den Unruhen in England steckt: Mal eine zu schwache Polizei, wie er im ZDF-Interview erläutert, mal ein zu »hartes Vorgehen« derselben, wie er in der Tagesschau erklärt. Mit jedem Fernsehauftritt wirbt er für neue Forschungsmittel. Oder mit seinen Mitteln um neue Fernsehauftritte – für unreflektierte Fans wie mich ist das oft schwer auseinanderzuhalten. Und einmal habe ich ihn sogar vermisst.

Report Mainz berichtete im April dieses Jahres über die Qualen westdeutscher Heimkinder, die man dort noch 1975 ohne Grund mit Medikamenten ruhigstellte, als Ersatz für frische Luft unter UV-Lampen grillte und – wie sich eine Säuglingsschwester erinnerte – auf Töpfe setzte und festband. War nach einer Stunde noch immer nichts drin, gab es Schläge mit einem nassen Waschlappen ins Gesicht. Und obwohl sich angeblich schon »mehrere wissenschaftliche Untersuchungen« mit den Folgen für die Kinder beschäftigt hatten, warteten die Zuschauer vergeblich auf einen O-Ton des einzigen ernst zu nehmenden Topf-Kriminologen.

Wenn nicht gerade an einem Wochenende London brennt und eine schnelle Ferndiagnose gefragt ist, hören offenbar nur noch ausländische Medien das Pfeiffen im Wald, und so las ich zuletzt – auf dem Weg zu einem meiner geheimen SED-Millionen-Konten – in der Schweizer Pendler-Zeitung 20 Minuten, dass sich vor allem evangelische Jugendliche gern prügeln. »Katholische Gemeinden«, so wurde ein gewisser Professor Pfeiffer aus Deutschland zitiert, erreichen »die Risikogruppe der männlichen Nicht-Gymnasiasten« besser. Vermutlich  – aber das ist jetzt schon wieder so eine unzulässige Laien-Spekulation – ging die Reformation deshalb auch vom deutschen Osten aus. Oder sind die katholischen Geistlichen einfach zärtlicher? Ich jedenfalls schwanke nun, ob es wirklich reicht, einfach zu konvertieren oder ich mich gleich freiwillig zur Sicherungsverwahrung melde. Mit über 40 zähle ich schließlich auch wieder zur »Risikogruppe der männlichen Nicht-Gymnasiasten«. Außerdem nehmen meine Gewaltfantasien zu; manchmal kommt sogar ein Kriminologe darin vor. Bislang habe ich das noch mit Gesprächstherapie im Griff, und die geht so: Schnauze, Wessi!

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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