Wettrüsten beim Abendbrot

 

Wenigstens unsere Kinder sollten wir da raushalten. Vielleicht werden sie ja eines Tages den Ost-West-Graben überwinden? Irgendwann, im Jahr 2066 oder so. Eine Hoffnung.

 

Finn-Ole hat jetzt eine Pumpgun. Ganz beiläufig erwähnt das Kevin beim Abendbrot, aber bei aufmerksamen Eltern schrillen natürlich trotzdem alle Alarmglocken. Normalerweise planen Kinder mit Elf selbst in Ostdeutschland noch keine Amokläufe. Und selbstverständlich  – damit auch das gleich klar ist – heißt unser Sohn auch nicht Kevin. Meine Familie droht allerdings mit eingeschränktem Umgang, falls ich hier echte Namen benutze. »Kevin« soll außerdem für westdeutsche Leser die Orientierung erleichtern, die glauben, alle Kinder im Osten würden so genannt, sofern sie nicht gleich in einer Kühltruhe enden oder Justin heißen – so wie Kevins Bruder.

»Eine Pumpgun also«, antworte ich im gleichen lässigen Ton und reiche meiner Frau die Butter. »Na, und? Müssen wir uns Sorgen machen?«

Müssen wir nicht. Die Rede ist nur wieder mal von einer so genannten Soft-Air-Waffe, die Plastikkugeln schießt, ein altes Thema: Es war gewissermaßen schon vom Abendbrottisch. Kein Spielzeug. Kevin hatte das auch verstanden. Eigentlich. Das Problem ist sein neuer Schulfreund Finn-Ole.

Im Gegensatz zu Kevin heißt der wirklich so und genießt auch sonst kaum Persönlichkeitsrechte in der Klasse. Die anderen feixen immer noch über seinen Dialekt. Als ihn die Lehrerin vorstellte, wollte Finn-Ole seinen Namen lieber tanzen. Anfangs staunten zwar alle noch, dass er auf seiner alten Schule angeblich machen konnte, was er wollte – spielen, tanzen, ganz egal. Aber als sie merkten, dass er in der fünften Klasse noch nicht mal richtig lesen kann, war seine große Klappe bei den meisten schnell durch.

Wir wissen nicht genau, wo seine Familie herkommt und warum es unbedingt Leipzig sein musste. Aber das spielt ja nach 20 Jahren auch keine Rolle mehr: Er ist Kevins Freund – oder sagen wir mal so: Unser Sohn kümmert sich um Finn-Oles Integration, weil ihn alle anderen doof finden. Ziemlich nett, oder? Soziale Kompetenz und so weiter. Wir können stolz auf ihn sein.

Finn-Oles Eltern sind das sicher auch. Irgendwo muss er sein Auftreten ja herhaben: Die Bestechungsversuche am Schulkiosk. Die Drohung mit einer Klage seines Vaters, falls ihn die Mathe-Lehrerin noch einmal öffentlich mit den Malfolgen der Acht bloßstellt … Kevin fand das vor allem cool und erklärte Finn-Ole erst mal, was Hausaufgaben sind – und uns, dass sein Freund schon mehrfach die Schule wechseln musste, weil er immer gemobbt wurde, immer von den anderen. Wenigstens aber, so der subtile Vorwurf an uns, halten Finn-Oles Eltern zu ihm, wenn es um angemessene Bewaffnung auf dem Schulhof geht oder die neue Gesten-Steuerung für die Xbox, über die Kevin bei der Gelegenheit auch gleich noch mal reden will.

Sein Bruder verdreht die Augen. Justin ist schon 13 und »hasst« solche Debatten am Abendbrottisch. Abendbrot neuerdings auch. Er will lieber zurück in den Chat und den anderen mitteilen, dass in der letzten halben Stunde nichts Mitteilenswertes passiert ist, außer dass ihm ein paar unnötige Kalorien aufgenötigt wurden. Leider fühlt auch er sich nicht nur zu den einheimischen Mandys und Chantals hingezogen. Den Ton in seiner Klasse gibt ein schwindsüchtiges Mädchen an, deren Eltern aus … – aber lassen wir das.

Es sagt sich immer so leicht: Wenigstens unsere Kinder sollten wir damit nicht auch noch vergiften. Sie hätten doch nichts mehr zu tun mit dem kalten Krieg, zweiter Besatzung und dritter Enteignung. Für sie soll Herkunft eines Tages keine Rolle mehr spielen: Ost oder West – im Jahr 2066 vielleicht. Ein ehrgeiziges Ziel, ich weiß, aber wir geben uns Mühe.

Schon im Kindergarten war nicht zu übersehen, wer am lautesten »ich« schrie und sich auch sonst auffallend asozial aufführte. Fast immer zeigen dazugehörige Eltern bei Sommerfesten oder Elternabenden (siehe Seite 76) ähnliche Verhaltensmuster. Ich möchte nicht so weit gehen wie Thilo Sarrazin mit seiner Genforschung, aber manches geben wir selbst sicher auch weiter. Fleiß und Hilfsbereitschaft etwa oder zweifelhafte Erblasten einer Diktatur wie diesen ohnmächtigen Zorn.

Nach meinem »letzten Wort« zur Pumpgun rennt der kleine Amokläufer jedenfalls wütend in sein Zimmer. Justin deckt ab, trägt den Müll runter und fragt, ob sonst noch was zu tun sei. Alles ganz normal bei uns. Bevor er sich ins Internet zurückzieht, »um noch ein paar Vokabeln zu lernen«, möchte er außerdem wissen, was denn nun mit diesem Wochenende sei.

Ausgerechnet das verhaltensauffälligste Mädchen seiner Klasse hat zu einer Pool-Party eingeladen, mit Reiten und Übernachten – angeblich ohne Alkohol. Offenbar sind wir die einzigen Eltern, die noch nicht Ja gesagt haben. Meine Frau erinnert sich, dass ich dort mal anrufen wollte. Ich erinnere mich, dass sie das vorhatte. Nur Justin erinnert sich nicht mal mehr, wie verstört er schon einmal aus der gleichen Villa heimkam.

Da waren sie noch in der Grundschule. Die Gastgeber hatten den slowakischen Staatszirkus engagiert und Justin kannte die Regel nicht, nach der das Geburtstagskind jedes Spiel gewinnen muss. Und natürlich durfte auch nur eine auf dem weißen Tiger reiten. Damals konnten wir ihn noch damit trösten, dass solche Kinder anders keine Freunde fänden. Dass ihre Eltern Selbstbewusstsein kaufen – Westdeutsche eben. Wir hätten es gern pädagogisch korrekter ausgedrückt, aber sollten wir etwa lügen? Wie soll man Kindern auch erklären, dass Finn-Ole bei einer Angina wochenlang zu Hause bleiben und Zuckerkugeln lutschen darf, aber unsere Jungs nach einer ordentlichen Dosis Antibiotika wieder in die Schule müssen? Dass wir bei schlechten Noten weder Atteste noch Anwälte bemühen. Dass sie durch die Sozialisation ihrer Eltern von Haus aus benachteiligt sind, was kranken Ehrgeiz, falsche Bescheidenheit, Egoismus und Ungeduld betrifft …

»Was denn nun?«, fragt Justin. Meine Frau schüttelt ebenfalls tadelnd den Kopf. Dabei kennt sie die Reportagen über westdeutsche Flatrate-Teenies auch! Zu unseren Zeiten gab es höchstens mal einen Kanister Obstwein. Und so einfach ist das mit einer Abtreibung heute schließlich auch nicht mehr.

Sonst reden wir vor unseren Kindern selten von früher. Niemand klingt gern wie Opa, der sich nur noch an den Vollmond im Schützengraben erinnert. Wenn ihre West-Schulbücher Quatsch über die DDR verbreiten, korrigieren wir das und fertig. Als die Soft-Air-Diskussion aufkam, habe ich Kevin gezeigt, wie wir mit leeren Tic-Tac-Schachteln aus dem Intershop Erbsenpistolen bastelten. Wenn Finn-Ole oder die Tiger-Reiterin sinnlos teure Klamotten vorgeben, setzt es eine Predigt über die armen Kinder in Vietnam, die das nähen mussten, oder den Marken-Imperialismus allgemein. Aber sonst, wie gesagt, wollen wir sie mit dem alten Zeug nicht weiter belasten. Und ich verstehe sogar, dass man sich gegenüber schwer bewaffneten Analphabeten aus dem Westen nicht mit Erbsenpistolen lächerlich machen darf.

Später im Bett fängt Kevin noch mal von der Pumpgun an: Es ist offenbar nicht irgendeine, sondern eine »M3.000« mit »1,3 Joule«. Ich erkläre erneut, was ich über die Gefahren von Anscheinswaffen gelesen habe und suche dann verzweifelt Absolution bei Justin. Gut, sage ich, wir vertrauen dir. Es folgt eine strenge Belehrung über Mädchen und Alkohol. Und wenn es gar nicht anders geht: Hauptsache, ihre Eltern stammen nicht aus dem Westen! Dafür bekomme ich immerhin einen Gute-Nacht-Kuss, aber starre an diesem Abend trotzdem noch lange an die eigene Schlafzimmerdecke.

Eigentlich müsste man Finn-Oles Eltern anzeigen – Vernachlässigung, Waffengesetz, irgendwas in der Art. Aber sein Vater ist Anwalt ... Wir könnten unseren Kindern solchen Umgang ganz verbieten, aber sie sollen ja irgendwann ihren eigenen Weg aus dem Ost-West-Konflikt finden … Es hilft alles nichts. Wir müssen nachrüsten. 1,3 Joule, besser mehr. Ob es die Dinger wohl auch als Kalaschnikow gibt?

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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