Nie wieder Ostsee

 

Auf Usedom waren Ostdeutsche noch ein paar schöne Jahre fast unter sich. Spätestens nach diesem Sommer kann man auch die letzte Insel der Glückseligen vergessen. Ein Abschied.

 

Wie der schon guckt! Gleich wird er die Polizei rufen oder uns persönlich belehren, dass da, wo wir schon immer liegen, keine FKK-Badestelle ist. Oder will er nur fragen, was hier der Quadratmeter Handtuch kostet? Sich neben uns ausbreiten womöglich! Es sind vielleicht die letzten schönen Tage dieses Sommers. Wir müssen auf alles gefasst sein.

Zum Glück erkennt man sie immer noch von weitem: Die ganze Familie in Weiß, Krokodile auf der Brust, gebügelte Bundfalten. Er zieht einen Bollerwagen voller Strandspielzeug hinter sich her. Seine blasse Frau sprüht ihre Kinder auf Schritt und Tritt mit irgendeiner Flüssigkeit ein, wahrscheinlich Lichtschutzfaktor 70 Plus. Barfuß – immerhin – laufen sie schon ewig hin und her, bleiben stehen, glotzen rüber, fühlen sich ertappt und finden offenbar nicht den richtigen Abstand zwischen uns und der nächsten Familie, die mindestes 50 Meter entfernt liegt.

Geht weiter, zische ich, hier ist kein Platz mehr für Euch! Meine Frau schaut besorgt von der Super-Illu auf, die sie um ihre Brigitte gefaltet hat – schließlich wollen wir selbst auch nicht unangenehm auffallen. Unsere Jungs ducken sich hinter dem Windschutz, der schon Oma und Opa über 40 Jahre diente. Alle wissen, was jetzt wieder kommt: Vati wird gleich zum Äußersten greifen. Zu seiner ausgeleierten DDR-Badehose. Und nur meiner Familie zuliebe behalte ich sie diesmal noch ein paar Minuten länger an.

Den ganzen Urlaub geht das schon so. Die Stimmung war im Eimer, seit wir in Wolgast vor der Peenebrücke standen. Vor uns Kölner, hinter uns Hessen, dazwischen meine Stoßgebete: Bitte nicht! Bitte nicht auch noch Usedom! Vergebens, wie ich seitdem Tag für Tag feststellen muss und mir vorkomme wie Thilo Sarrazin in seinen schlimmsten Alpträumen: Seit die Autobahn 2o fertig ist, vermehren sie sich hier ungebremst. Mieten uns die Strandkörbe weg, wenn der Strandkorbvermieter nicht auch schon einer von ihnen ist. Halten beim Bäcker den Verkehr auf, weil sie die Sprache nicht beherrschen oder erst die Herkunft jedes Sesamkorns klären müssen. Wie in finsteren Zeiten der Urlauberversorgung bekommt man ohne Reservierung keinen Tisch im »Deutschen Haus«. Am liebsten wäre ich wieder abgereist, wenn es nicht einer Kapitulation gleichkäme – und die Falschen träfe. Uns.

»Du hast Urlaub«, sagt meine Frau, und dass ich mich entspannen soll. Als könnte ich was dafür, dass sie hier sind! Können die nicht an ihre eigene Küste fahren, wo die Strände aus Schlamm sind und die Kurorte aussehen wie Recklinghausen? Heißt das Meer hier etwa Westsee?!

Erst fiel der Darß, dann haben wir Rügen und schweren Herzens Hiddensee aufgegeben, um vor etwa zehn Jahren auf den letzten Streifen Sand vor Polen auszuweichen. Es war die Zeit, als Tourismusmanager mit 52 Prozent erstmals mehr Westler als Ostler an der Mecklenburger Küste zählten und die Bild-Zeitung nach drei oder vier Beschwerden bei der Kurverwaltung Warnemünde den »Nackt-Krieg« ausrief. Ein paar Wochen schien der Freikörperkultur-Kampf das Land unversöhnlicher zu spalten, als es die Mauer je vermochte. »Ostdeutsche«, so der Berliner Tagesspiegel damals pauschal, »wollen sich das Nacktbaden nicht verbieten lassen.« Prüde Eroberer, nackte Ureinwohner – was sich westdeutsche Fachleute für DDR-Kultur eben so ausdenken, die sich auch bei der Ursachenforschung für ihre selbst erfundenen Massenphänomene selten lumpen lassen: Von der kleinen Ersatz-Freiheit, einem Akt der Opposition gewissermaßen bis zum Stoffmangel in der volkseigenen Bikini-Fabrik konnte man jeden Unsinn lesen. So ein nackiger Broiler, das vor allem blieb bei mir hängen, muss sehr verstörend auf sie wirken. Und deshalb ziehe ich neuerdings selbst bei jeder Gelegenheit blank und ermuntere auch meine Familie nach Kräften dazu:

Wenn sie durch die Dünen joggen – Hose runter und sie rennen sofort weg. Wenn ihre Golden Retriever zwischen unsere Tröpfelburgen scheißen – setzt Euch ungeniert daneben! Wenn sie die unberührte Natur loben und gleichzeitig jede Wiese dahinter bebauen. Wenn sie so tun, als hätte es mit ihrem Solidaritätszuschlag zu tun, dass ihnen inzwischen alle Villen der Strandpromenade, ja ganze Ostseebäder gehören. Wenn sie sich selbstgefällig entrüsten, dass ein Drittel ihrer Landsleute noch nie im Osten war und die das mit dem Service hier sicher auch noch lernen … Zeigt ihnen, was die einheimischen Drei-Euro-Kellner über sie denken und welches Drittel uns lieber ist! Gegen Unverschämtheit hilft nur Schamlosigkeit.

Na bitte: Familie Krokodil hat sogar ein Fernglas dabei, diese Spanner – wie ich durch meins genau erkenne. Erst ziehen sie einem das letzte Hemd aus, dann sollen wir es wieder anziehen. Ist doch wahr! Da braucht sich meine Frau gar nicht gelangweilt auf den Bauch zu drehen. Glaubt sie etwa, mir macht es Spaß, sie auf diese Weise einzuschüchtern? Keine Kunst, schon klar: Jeder weiß, dass es die Natur mit unseren malerischen Küsten und Körpern besser gemeint hat, so wie die Geschichte den Westen bevorzugte. Natürlich würde auch ich gern Rücksicht auf unsere pubertierenden Jungs nehmen, die sich zurzeit sogar beim Umziehen lieber unter Handtüchern verrenken. Aber wenn es Notwehr ist, nackte Verzweiflung? Wenn sie sich nicht mal mehr von Neonazis oder der einheimischen Küche abschrecken lassen? Aber dafür Nackten in die Tasche greifen!

Die Bußgelder belasten zwar unsere Urlaubskasse. Doch wenn man einmal begriffen hat, dass dahinter auch bloß die Interessen der westdeutschen Badehosenindustrie stecken, tragen sich selbst hängende Hintern wieder mit Stolz und wie von allein. Nicht zuletzt geht es auch um Zimmerpreise, Parkgebühren und die Tasse Kaffee für vier Euro. Darum, dass sich Adam aus Leipzig und Eva aus Magdeburg ihr Paradies nicht mehr leisten können, seit jeder kleine Hafen am Achterwasser eine Marina sein will. Sogar die Möwen sehen so fett aus, als stammten sie vom Timmendorfer Strand, während die hiesigen – jetzt rege ich mich schon wieder auf – in Polen verhungern. Gar nicht zu reden von unserem alten Eisverkäufer Knut.

Vor einem Jahr noch hat er uns verraten, wie er sie erkennt: »Wir lecken – sie lutschen.« Dabei nickte er wohlwollend, weil wir sein Eis besonders vorsichtig mit der Zunge umkreisten. Sie dagegen würden ihre Lippen gierig über die Kugel stülpen, als bekämen sie nie genug. Knut wusste, wovon er sprach: Er war Genossenschaftsfischer, bevor ihre Kutter alles leer fischten, und eine zeitlang unser Vermieter, bis sein ausgebauter Hühnerstall einem Hotel weichen musste. Der neue Besitzer aus Kiel duldete den Eisstand noch ein paar Jahre. Diesen Sommer war nun auch Knut nicht mehr da. Billige Studenten aus Litauen verkaufen nun abgepacktes Tankstellen-Eis am Strand. Und für wen? Genau: Für den gierigen Lutscher aus Kiel.

Da passiert es: Die Krokodile stutzen und marschieren sofort auf uns zu. Während ich noch routiniert meinen Nackt-Kriegstanz aufführe, denke ich darüber nach, ob sich die Ferien nicht so weit entzerren ließen, dass solche Begegnungen ganz wegfallen. Familien aus den alten Ländern könnten doch zum Beispiel im Herbst an die Ostsee fahren und wir aus den annektierten dafür im August auf ihre Skigebiete verzichten. Voller Freude über diese Lösung nehme ich den Kroko-Mann erst wieder wahr, als er seinen Krempel fallen lässt und sich vor mir aufbaut wie vor einer Schlägerei. Dann öffnet er plötzlich seinen Krokodil-Gürtel und strahlt. »Na bloß guat,« sagt er und winkt seine Familie näher. »Hät scho denkt, hier schdracked nur noch brüde Schwobe rum«. Und was noch erschreckender ist: »Näggich« sehen sie uns beinahe ähnlich. Schnell ziehe ich meine Hose wieder an, und nächstes Jahr probieren wir es einfach mal an der Nordsee. Im Grunde dürfte dort ja niemand mehr sein.

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land
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