». . . also sage ich zu ihm: Ich lasse mich doch von dir nicht dafür fertig machen, wie ich aussehe. Ich meine, ich halte ja einiges aus, aber alles muss ich mir nicht anhören. Irgendwo ist eine Grenze. Bestimmte Dinge darf man sich als Mädchen einfach nicht bieten lassen.«
Okay, dachte ich, vielleicht doch keine so gute Idee?
Nachdem ich dreimal beinahe umgedreht hätte und weggefahren wäre, zweimal tatsächlich nur vorbeigefahren war und mich einmal eine plötzliche Anwandlung von Mut überkommen hatte, stand ich nun vor der Villa McKimmon, einem historischen Gebäude in der Altstadt. Und vor mir, achtlos am Bordstein geparkt: der Lieferwagen mit der Aufschrift WISH CATERING. Die Hintertüren standen weit offen und gaben den Blick auf mehrere Regale mit Containern und Tabletts, mit Unmengen Serviettenpackungen und ein paar verbeulten Servierwagen aus Metall frei. Aus dem Inneren des Wagens drang die Stimme eines Mädchens.
»Deshalb habe ich die Konsequenzen gezogen. Was allerdings dazu geführt hat, dass ich drei Kilometer zu Fuß laufen musste. In meinen neuen Plateauschuhen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für Blasen ich habe.« Ihre Stimme schallte laut und klar über die stille Straße. »Weit und breit kein Mensch, kein Auto. Ich latsche so vor mich hin und kann an nichts anderes denken als – nimmst du bitte noch die Löffel mit, nein, nicht die, die anderen, genau vor deiner Nase – das war unter Garantie das schlimmste erste Rendezvous aller Zeiten.«
Ich trat einen Schritt vom Lieferwagen zurück, dann noch einen – was hatte ich mir bloß gedacht? –, wollte gerade zu meinem Auto zurück; glücklicherweise war es noch nicht zu spät, meine verrückte Spontanidee ungeschehen zu machen.
Doch in dem Moment erschien ein Mädchen an der geöffneten Tür des Lieferwagens. Sie war nicht besonders groß und hatte eine lange, blonde Lockenmähne, die ihr den Rücken hinunterfloss. Ich wusste sofort, dass sie es war, deren Stimme ich gehört hatte. Warum ich das wusste? Weil sie aussah, wie sie aussah: schwarz glänzender Minirock, tailliertes, tief ausgeschnittenes weißes Top, schenkelhohe schwarze Plateaustiefel, knallroter Lippenstift. Die helle Haut ihres Gesichts leuchtete im Schein der Straßenlaterne, die hinter mir stand.
»Hallo«, sagte sie zu mir. Wandte sich kurz ab, schnappte sich einen Stapel Geschirrtücher und sprang von der Ladefläche auf die Straße.
»Hallo.« Eigentlich hatte ich noch mehr sagen wollen, ein paar zusammenhängende Worte, vielleicht sogar einen ganzen Satz. Doch aus irgendeinem Grund stand ich stocksteif und stumm da und rührte mich nicht. Als hätte ich es gerade eben so bis hierher geschafft und könnte nun kein Stückchen weiter.
Ihr schien das gar nicht weiter aufzufallen. Außerdem war sie zu sehr damit beschäftigt, weiteres Zeug aus dem Lieferwagen zu räumen, wobei sie leise vor sich hin summte. Als sie sich schließlich wieder umdrehte und merkte, dass ich immer noch hinter ihr stand, fragte sie: »Hast du dich verfahren oder was?«
Wieder hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte. Wobei das dieses Mal einen anderen Grund hatte als zuvor. Denn erst jetzt konnte ich ihr Gesicht, das bis dahin im Halbdunkel des Lieferwagens verborgen gewesen war, deutlich erkennen und war wie magisch angezogen von den zwei Narben, die sie hatte: Die eine, ziemlich dünn und leicht gebogen, verlief parallel zu ihrem Unterkiefer; es sah aus, als hätte jemand ihren Mund unterstrichen. Die andere schlängelte sich vom Haaransatz über die Schläfe zum Ohr. Außerdem hatte sie hellblaue Augen, trug an jedem Finger einen Ring und roch nach Melonenkaugummi, aber das fiel mir erst später auf. Alles, was ich zunächst wahrnehmen konnte, waren die Narben.
Hör auf, sie anzustarren, ermahnte ich mich und war entsetzt über mein eigenes Verhalten. Das Mädchen dagegen schien es entweder kaum zu merken oder es war ihr egal. Sie wartete nur geduldig darauf, dass ich antwortete.
Ein Äh war das Erste, was ich schließlich zustande brachte. Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, den Mund aufzumachen. »Eigentlich wollte ich wissen, wo Delia ist.«
Die Vordertür des Lieferwagens fiel ins Schloss. Im nächsten Moment tauchte Monica auf, die ich schon von dem Empfang bei meiner Mutter kannte. Genau wie damals bewegte sie sich wie in Zeitlupe. Sie trug ein großes Schneidebrett und machte ein Gesicht, als wöge das Teil mindestens fünfzig Kilo. Während sie im Schneckentempo über den Bürgersteig kroch, blies sie sich die langen Ponyfransen aus dem Gesicht.
Die Blonde warf ihr einen Blick zu. »Serviergabeln nicht vergessen, Miss Monoton.«
Monica hielt inne, drehte sich langsam um die eigene Achse und verschwand wieder hinter dem Lieferwagen. Ganz gemächlich natürlich.
»Delia ist schon in der Küche.« Die Blonde legte den Stapel Geschirrtücher von einem Arm auf den anderen. »Du musst bloß die Auffahrt bis ganz nach oben laufen, dann landest du am Seiteneingang.«
»Ach so«, sagte ich. Monica tauchte wieder auf. Jetzt trug sie nicht mehr nur das Schneidebrett, sondern zusätzlich ein paar großzinkige Gabeln. »Danke«, sagte ich.
Ich wollte gerade aufs Haus zulaufen, war vielleicht zwei Meter weit gekommen, als die Blonde mir nachrief: »Wenn du sowieso in die Richtung gehst, würdest du bittebittebitte was mitnehmen? Sei so lieb, ja? Wir sind spät dran, was ehrlich gesagt meine Schuld ist, deshalb wäre es echt toll, wenn du mir kurz helfen könntest. Natürlich nur, falls es dir nichts ausmacht.«
»Kein Problem.« Auf dem Rückweg zum Lieferwagen passierte ich Monica, die beim Vorsichhinschlurfen irgendwas vor sich hin murmelte. Das blonde Mädchen hatte mittlerweile zwei der Servierwagen von der Ladefläche gezerrt und belud sie zack zack zack mit abgedeckten Aluminiumbehältern für den Backofen. Als sie fertig war, legte sie den Stapel Geschirrtücher auf einem der Wagen ab und versetzte dem anderen einen leichten Schubs, so dass er zu mir rollte.
»Komm einfach hinter mir her«, sagte sie. Ich schob den Servierwagen vor mir her und folgte ihr. Als wir die Zufahrt zum Haus erreichten, blieben wir erst einmal stehen, denn sie war steil. Sehr steil. Monica hatte gerade mal die Hälfte des Anstiegs geschafft. Sie sah beim Gehen aus, als lehnte sie sich gegen den Wind.
Das blonde Mädchen sah erst mich und dann noch einmal die Auffahrt an. Immer wieder sprangen mir ihre Narben ins Auge; je mehr ich mich bemühte, nicht hinzuschauen, umso auffälliger wurden sie.
»Mist«, sagte sie und strich sich seufzend das Haar aus dem Gesicht. »Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, die ganze verdammte Welt ist ein steiler Hügel, den man hochklettern muss?«
»Allerdings.« Ich dachte an alles, was mir an dem Abend schon passiert war. »So ist es.«
Da drehte sie den Kopf und lächelte mich an, wodurch sich ihr Gesicht schlagartig änderte. Es war, als explodierte ein Funken und würde zur Flamme, die alles so hell erleuchtete, dass ich nicht einmal mehr die Narben wahrnahm.
»Na dann.« Sie beugte sich über den Servierwagen und schloss die Finger fester um den Griff. »Zumindest können wir uns auf den Rückweg freuen. Auf geht’s.«
Sie hieß Kristy. Kristy Palmetto.
Wir stellten uns einander etwa auf der Hälfte des Anstiegs vor, als wir keuchend stehen blieben, um wieder zu Atem zu kommen. »Macy?«, fragte sie nach. »Wie das Kaufhaus?«
»Ja«, antwortete ich. »In meiner Familie heißen viele Frauen so.«
»Gefällt mir«, meinte sie. »Ich will meinen Namen übrigens ändern, wollte ich schon immer. Sobald ich kann, ziehe ich von hier weg, irgendwohin, wo mich niemand kennt, wo ich ganz wer anders werden kann. Ich glaube, ich hätte Lust, eine Veronique zu sein. Oder vielleicht Bianca. Du weißt schon, jemand mit Esprit und Glamour. Kristy ist ein Allerweltsname. Kristy sein kann echt jeder.«
Vielleicht, dachte ich, vielleicht aber auch nicht. Denn obwohl ich sie erst seit fünf Minuten kannte, wusste ich: Eine Allerwelts-Kristy war sie nicht.
Sie setzte sich wieder in Bewegung und schob den Servierwagen weiter die steile Auffahrt hoch.
Als wir endlich oben ankamen, öffnete sich prompt die Tür des Seiteneingangs. Delia steckte den Kopf raus. Sie hatte eine rote Schürze mit dem Wish-Catering-Logo umgebunden und auf ihrer linken Wange prangte ein Mehlfleck. »Sind das die Schinkenmuffins? Oder der Shrimpssalat?«
»Muffins«, meinte Kristy, schob ihren Servierwagen dichter an die Hauswand und signalisierte mir, das Gleiche zu tun. »Oder Shrimps.«
Delia warf ihr einen Blick zu.
»Entweder das eine oder das andere«, sagte Kristy. »Zumindest so viel kann ich garantieren.«
Delia seufzte und begann, in die diversen Alubehälter auf den beiden Wagen zu schauen.
Kristy lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. »Der Weg hier rauf bringt einen fast um«, sagte sie zu Delia. »Wir müssen den Lieferwagen vor die Tür fahren, sonst schaffen wir es nie, das Zeug rechtzeitig in die Küche zu bringen.«
Delia hob eine der Abdeckungen aus Alufolie an, warf einen Blick darunter. »Wenn wir pünktlich von zu Hause losgekommen wären, hätten wir es auf jeden Fall geschafft, so oder so.«
»Ich habe mich doch entschuldigt«, verteidigte sich Kristy. Zu mir sagte sie: »Ich hatte eine Klamottenkrise. Nichts sah aus, absolut nichts! Du kennst doch diesen Zustand. Ätzend, was?«
Delia ließ sich von diesem kleinen Einwurf nicht beirren, sondern fuhr fort: »Außerdem haben die Leute hier strikte Vorschriften, was Fahrzeuge in der Nähe des Gartens angeht. Anscheinend ist der Rasen sehr empfindlich.«
»Meine Lungen auch«, sagte Kristy. »Wir müssen bloß schnell sein, dann kriegen sie es gar nicht erst mit.«
Monica tauchte mit einem Alubehälter in der offen stehenden Tür auf. »Pilze?«
»Fleischklopse.« Delia sah nicht mal hin. »Schieb drei davon in den Ofen, bereite die nächsten drei vor.«
Monica drehte sich um – und zwar nicht nur den Kopf, sondern den gesamten Körper –, weil sie einen Blick auf den Ofen werfen wollte. Wandte sich dann wieder uns zu. Blickte Delia an. »Fleischklopse«, wiederholte sie, als wäre es ein Fremdwort.
»Monica, wir machen jedes Wochenende dasselbe«, sagte Delia. »Kannst du nicht einfach mal versuchen, wenigstens etwas von dem zu behalten, das du am Wochenende vorher gelernt hast, bittebittebitte, sei so lieb, okay?«
»Sie behält doch, was sie gelernt hat«, meinte Kristy leicht zerknirscht. »Sie ist bloß sauer auf mich, weil ich heute Abend die Superbremse war, und das ist ihre Art, es auszudrücken. Du weißt doch, dass sie Schwierigkeiten hat, ihre Gefühle zu zeigen.«
»Könntest du ihr bitte helfen?«, fragte Delia, die schon wieder völlig durch den Wind wirkte. »Mit den Fleischklopsen, nicht mit ihren Gefühlen. Okay?«
»Okay«, erwiderte Kristy frohgemut und ging durch die Tür, durch die Monica inzwischen verschwunden war.
Delia stützte sich mit einer Hand den Rücken und sah mich leicht verwundert an. »Hallo. Macy, stimmt’s?«
»Ja«, antwortete ich. »Anscheinend komme ich in einem ungünstigen Moment, aber –«
Delia unterbrach mich lächelnd: »Es gibt keinen günstigen Moment. Das ist in meinem Gewerbe nun einmal so. Aber es war meine Entscheidung, diesen Catering-Service zu übernehmen, also darf ich mich auch nicht beschweren. Was kann ich für dich tun?«
»Ich wollte bloß fragen . . .« Doch ich unterbrach mich. Plötzlich kam ich mir total dämlich dabei vor, ihre Zeit in Anspruch zu nehmen, wo sie gerade so viel um die Ohren hatte. Außerdem – vielleicht war sie ja auch bloß höflich und nett gewesen, als sie mir anbot, ich könne für sie arbeiten. Andererseits war ich nun schon mal so weit gekommen, hatte mich nicht einmal von der steilen Auffahrt abschrecken lassen. Was hatte ich also zu verlieren? Schlimmstenfalls war ich den Berg umsonst hochgelaufen. Ich unternahm einen zweiten Anlauf: »Ich wollte bloß fragen, ob Ihr Angebot noch gilt. Wegen des Jobs, meine ich.«
Bevor Delia antworten konnte, tauchte Kristy im Türrahmen auf. »Die Fleischklopse sind im Ofen«, verkündete sie. »Kann ich jetzt den Wagen hochholen?«
Delia blickte die Auffahrt entlang nach unten und dann nach oben zum Haus, genauer gesagt zu den vorderen Fenstern, hinter denen sich der Salon befand. »Ob du den Wagen hochholen kannst? Nein.«
»Ist doch bloß ein Minihügel.« Kristy verdrehte die Augen und sagte zu mir: »Ich bin eine miserable Autofahrerin, aber immerhin gebe ich es offen zu. Das ist doch schon mal was oder etwa nicht?«
»Nein.« Delias Blick wanderte zwischen der Auffahrt und dem Haus hin und her; anscheinend wog sie das Für und Wider von Kristys Vorschlag ab. Schließlich zog sie einen Schlüsselbund aus der Schürzentasche. »Sobald der Wagen hier oben steht, fangt ihr an auszuladen, und zwar schnell«, sagte sie zu Kristy. »Und falls irgendwer meckert, tut einfach so, als hättet ihr keine Ahnung von den Vorschriften.«
»Was für Vorschriften?« Kristy streckte die Hand aus, um den Schlüsselbund an sich zu nehmen.
Doch Delia schwenkte den Arm, so dass der Schlüsselbund nicht mehr in Kristys Reichweite war, und hielt ihn mir hin. »Macy fährt. Basta. Keine Diskussion.«
»Okay«, antwortete Kristy. »Kein Problem. Solange es endlich losgeht . . .«
Sie drehte sich abrupt um und ging die Auffahrt hinunter, jeder Schritt ein beschwingter kleiner Hüpfer. Ich schaute ihr einen Moment nach und realisierte, dass man ihr nachschauen musste, denn sie hatte einfach was. Vielleicht lag es an den Stiefeln oder den Haaren oder dem Minirock oder an allem zusammen, aber für mich lag es an etwas ganz anderem. Kristy war wie ein Stromschlag, so kraftvoll und lebendig. Und ich konnte nicht anders als es wahrzunehmen – vielleicht gerade deswegen, weil ich diese Qualität von mir selbst nicht kannte.
Auch Delia blickte Kristy – allerdings eher ermattet – nach, bevor sie sich wieder an mich wandte: »Falls du den Job noch willst, kannst du ihn gern haben.« Sie drückte mir den Schlüssel in die Hand. »Geld gibt’s alle zwei Wochen freitags und in der Regel kann ich dir eine Woche vorher sagen, wann ich dich einsetzen möchte. Falls du weder schwarze Hosen noch weiße T-Shirts oder andere weiße Oberteile besitzt, besorg dir bitte welche. Montags arbeiten wir grundsätzlich nicht. Wahrscheinlich muss ich dir später noch tausend Kleinigkeiten erklären, aber das wäre erst mal das Wichtigste. Außerdem haben wir dazu jetzt keine Zeit, ich muss dich leider ins kalte Wasser schmeißen. Alles klar?«
Kristy war schon halb unten. Wandte den Kopf, blickte zu uns hoch und rief: »Komm schon, Macy, beeil dich.«
Kopfschüttelnd öffnete Delia die Fliegengittertür und meinte lakonisch: »Anders ausgedrückt: Willkommen an Bord!«
In der Bibliothek war ich zwei Wochen lang eingearbeitet worden. Bei diesem – meinem neuen – Job dauerte diese Phase exakt zwei Minuten.
»Oberste Regel: Du musst immer wissen, was du auf dem Tablett hast«, erklärte Kristy. Wir standen nebeneinander an der Küchentheke und beluden Servierplatten mit Mini-Schinkenmuffins. »Und pass auf, dass keine verknüllten Servietten drauf landen, solange noch was Essbares daliegt. Kein Mensch nimmt irgendwas in den Mund, das neben einer gebrauchten Papierserviette gelegen hat.«
Ich nickte. Sie setzte ihren Vortrag fort: »Und denk immer dran: Du bist gar nicht da . . .«
Delia flitzte geschäftig an uns vorbei und stellte ein weiteres Blech mit Fleischklopsen auf die Arbeitsplatte.
». . . halte ihnen die Platte hin, lächle, sag ›Schinkenmuffins mit Dijonsenf‹ und geh zum Nächsten. Mach dich unsichtbar.«
»Aha«, sagte ich.
»Was Kristy meint, ist Folgendes . . .« Delia, die schon wieder am Backofen stand, hatte anscheinend das Gefühl, eingreifen zu müssen. »Du musst beim Servieren versuchen dich der Umgebung und der Atmosphäre anzupassen, damit die Gäste sich so wohl wie möglich fühlen. Du bist nicht eingeladen, sondern gehörst zu denen, die diese Einladung zu einem angenehmen Erlebnis werden lassen.«
Kristy reichte mir eine Platte mit Schinkenmuffins und legte einen kleinen Serviettenstapel auf den Rand. Immer wieder ertappte ich mich dabei, dass meine Augen zu ihren Narben wanderten, vor allem in Momenten wie diesem, wo wir so dicht nebeneinander standen. Gleichzeitig merkte ich aber auch, dass ich mich allmählich an die Narben gewöhnte und mir noch andere Dinge an Kristy auffielen: die Glitzerpunkte auf ihrer Haut, die kleinen Silberringe an ihren Ohren, zwei an jedem. »Fang am Rand an und arbeitete dich dann langsam durch den Raum. Falls du einem Schlinger in die Quere kommst, bleib höchstens eine Sekunde stehen, geh dann so schnell wie möglich weiter – lächeln nicht vergessen – und bleib auf jeden Fall in Bewegung, selbst wenn er die Hand nach deiner Platte ausstreckt.«
»Schlinger?«
»Schlinger sind Partygäste, die dir die gesamte Platte abräumen, sofern du sie lässt. Eiserne Grundregel, wenn du einem Schlinger begegnest: zwei Stück von egal was und weiter. Bevor er sich ein drittes angeln kann, bist du weg.«
»Zwei Stück, dann weitergehen«, sagte ich. »Kapiert.«
»Wenn sie dich nicht weglassen wollen«, fuhr Kristy fort, »überschreiten sie eine entscheidende Grenze, nämlich die vom Schlinger zum Grabscher. Und das ist vollkommen inakzeptables Partygastverhalten. In so einem Fall ist es dein gutes Recht als Kellnerin, ihnen auf den Fuß zu treten.«
»Nein, ist es nicht«, verkündete Delia über ihre Schulter hinweg. »Ausgeschlossen. In so einem Fall ist es dein gutes Recht, dich höflich zu entschuldigen und außer Reichweite zu gehen.«
Kristy warf mir einen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Tritt sie«, meinte sie halblaut. »Das ist deine einzige Chance.«
In der Küche herrschte die totale Hektik. Delia sauste zwischen dem Ofen und der Arbeitsplatte hin und her. Monica packte einen Alubehälter nach dem anderen aus, zum Vorschein kamen Lachs, Steaks, Kartoffelmousse. Eine Art elektrische Spannung lag in der Luft. Als würde die Zeit beschleunigt und alles sich in einem höheren Tempo abspielen als normalerweise. Das absolute Gegenteil zur Atmosphäre am Infoschalter in der Bibliothek. Ich kam gar nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, ob ich überhaupt etwas anderes gewollt hatte als das ewige Schweigen dort. Denn ich steckte bereits mittendrin.
»Wenn ältere Leute unter den Gästen sind, warte nicht darauf, dass sie zu dir kommen, sondern geh mit deiner Servierplatte zu ihnen, vor allem wenn sie sitzen.« Kristys Vortrag war noch nicht zu Ende, doch gleichzeitig schien sie loslegen zu wollen, denn sie warf einen Blick Richtung Tür. »Wenn Omilein nicht zufrieden ist oder ihr gar der Magen knurrt, weil sie nicht genug zu essen kriegt, fällt das unangenehm auf. Achte auf alles und jeden im Raum, vor allem darauf, wer was isst und wer nicht. Wenn du einmal die große Runde gemacht hast und die mit Ziegenfrischkäse und Johannisbeergelee gefüllten Selleriestangen trotzdem keinen Abnehmer gefunden haben, lass es sein und halt den Leuten die Dinger auf keinen Fall noch mal unter die Nase.«
»Ziegenfrischkäse, Sellerie und Johannisbeergelee?«, fragte ich ungläubig.
Kristy bestätigte mit bedeutsamem Gesicht.
»Das war nur ein einziges Mal, bei einem Empfang«, fauchte Delia in unserem Rücken. »Warum müsst ihr bis heute darauf rumreiten, warum?«
»Wenn etwas ein Reinfall ist, ist es ein Reinfall, Punkt«, sagte Kristy. »Zur Not kannst du dir jederzeit eine Platte Fleischklopse schnappen und damit rumlaufen. Fleischklopse mag einfach jeder.«
»Wie spät ist es?« Delia knallte die Ofentür zu. »Schon sieben?«
»Viertel vor.« Kristy strich sich eine Locke hinters Ohr. »Wir müssen allmählich raus.«
Ich hob meine Servierplatte an und hielt still, während Kristy einen Minimuffin davor rettete, über den Rand zu stürzen.
»Fertig?«, fragte sie.
Ich nickte.
Kristy öffnete mit der freien Hand die Tür. Ein paar Leute, die in der Nähe an der Bar standen und auf Getränke warteten, drehten sich um und sahen – nein, nicht direkt uns an, denn ihr Blick wanderte sofort zu den Platten, die wir trugen. Unsichtbar, dachte ich, nicht schlecht. Ich hatte im vergangenen Jahr so viel Aufmerksamkeit bekommen – unsichtbar zu sein tat zur Abwechslung bestimmt gut. Deshalb richtete ich mich auf – Brust raus, Bauch rein, Schultern zurück –, hob meine Platte ein wenig höher und stürzte mich ins Gewühl.
Eine halbe Stunde später hatte ich noch ein paar Dinge dazugelernt. Erstens mag tatsächlich jeder Mensch Fleischklopse. Zweitens lauern einem die meisten Schlinger immer direkt an der Tür auf, damit sie als Erste Zugriff auf was auch immer haben, das man gerade reinträgt; und wenn man versucht ihnen auszuweichen, werden sie blitzschnell zu Grabschern. Getreten hatte ich allerdings noch niemanden. Und drittens stimmte absolut, was Kristy gesagt hatte: Man war unsichtbar. Stand unmittelbar neben den Gästen, kriegte alles mit, was sie sagten, jedes Wort. Trotzdem redeten sie über ohne Hemmungen alles, als wäre man gar nicht da.
Auf diese Weise erfuhr ich, dass das Hochzeitspaar, Molly und Roger, schon seit drei Jahren in wilder Ehe zusammenlebte, was nach Meinung einer lieben Verwandten das weibliche Familienoberhaupt direkt ins Grab gebracht hatte. (Besagte Verwandte gehörte übrigens zur Kategorie der Schlinger.) Weil auf der Junggesellinnenparty irgendetwas vorgefallen war, redeten Molly und ihre Trauzeugin kein Wort mehr miteinander, und der Vater des Bräutigams, der sich angeblich das Saufen abgewöhnt hatte, schmuggelte einen Martini nach dem anderen auf die Toilette. Ach ja, und mit den Servietten war auch irgendwas nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht.
»Tut mir Leid, ich habe immer noch nicht begriffen, wo genau das Problem liegt«, sagte Delia, als ich gerade in die Küche reingeflitzt kam, um mir eine letzte Runde gratinierten Ziegenkäse auf Toast zu holen.
Delia und Monica hatten sich vor der Anrichte postiert, weil sie allmählich die Salatbeilage für den Hauptgang in Angriff nehmen wollten. Neben Delia standen die Braut, Molly, und ihre Mutter.
»Das, was auf die Servietten gedruckt wurde, geht so nicht!« Mollys Stimme zitterte und kletterte gleichzeitig in die Höhe. Sie war ein hübsches Blondchen mit Kurven genau an den richtigen Stellen, hatte allerdings, soweit ich es mitbekommen hatte, auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier die ganze Zeit mit verkniffenem Gesichtsausdruck neben der Bar gestanden, während die Gäste an ihr vorbeidefilierten, ihr mitleidig über den Arm strichen und tröstende Ist-doch-alles-halb-so-schlimm-Laute von sich gaben. Der Bräutigam stand derweil draußen im Garten und rauchte eine Zigarre nach der anderen. Molly fuhr fort: »Auf den Servietten sollte Molly und Roger stehen, dann das Datum und darunter Für immer.«
Delia blickte sich kurz suchend um. »Sorry, ich habe gerade keine hier, aber . . . steht das denn nicht drauf? Ich bin mir so gut wie sicher, dass doch. Zumindest stand es auf denen, die ich gesehen habe.«
Mollys Mutter schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus ihrem Cocktailglas. Die Tür ging auf und Kristy kam mit ihrer Platte herein, auf der ein paar benutzte Servietten lagen; als sie die kleine Konferenz an der Anrichte bemerkte, blieb sie abrupt stehen und fragte: »Was ist los?« Ich sah, wie Mollys Mutter auf die Narben starrte und dann rasch wegschaute, als Kristy ihren Blick erwiderte. Kristy ließ sich nicht anmerken, ob ihr das Starren etwas ausgemacht, ob sie es überhaupt wahrgenommen hatte. Sie stellte ihre Platte ab und strich sich eine Locke hinters Ohr.
Ich klärte sie auf: »Serviettenprobleme.«
Molly unterdrückte ein Schluchzen. »Da steht nicht Für immer, sondern Für immer . . .« Die Stimme versagte ihr fast und sie wedelte mit der Hand, als wollte sie die aufsteigenden Tränen wegwischen. »Das Pünktchen-Pünktchen-Pünktchen-Dingsda.«
»Pünktchen-Pünktchen-Pünktchen-Dingsda?« Delia sah sie verwirrt an.
»Sie wissen schon, dieses Zeichen, die drei Punkte, die man setzt, wenn ein Satz unvollendet bleiben soll oder man ein offenes Ende andeuten will. Diese drei Punkte eben, man nennt das –« Vor lauter Grübeln legte sie ihre Stirn in Falten. »Sie wissen doch, was ich meine. Dieses Punkteding eben!«
»Eine Auslassung«, sagte ich quer durch den Raum.
Plötzlich richteten sich alle Augen auf mich. Ich merkte, dass ich rot wurde.
»Auslassung?«, wiederholte Delia.
»Drei Punkte hintereinander«, erklärte ich, aber weil sie mich immer noch verständnislos anschaute, fügte ich hinzu: »Mit drei Punkten kann man entweder einen Übergang oder einen Gedanken, der quasi in der Luft hängen bleibt, markieren, vor allem innerhalb eines Dialogs.«
»Wahnsinn!«, meinte Kristy neben mir. »Gib’s ihnen, Macy.«
»Genau!« Molly deutete zustimmend auf mich. »Da steht nicht Molly und Roger. Für immer, sondern Molly und Roger. Für immer . . . Pünktchen Pünktchen Pünktchen!« Mit ihrem Finger malte sie jeden einzelnen Punkt in die Luft. »Als sollte ausgedrückt werden: Vielleicht hält diese Ehe ja für immer, vielleicht aber auch nicht.«
»Heiraten heißt doch sowieso Für immer, oder etwa nicht?«, murmelte Kristy leise, so dass nur ich es hören konnte.
Molly hatte von irgendwoher ein Taschentuch hervorgeholt und tupfte sich das Gesicht ab. Ihr Atem kam stoßweise, in kleinen Schluchzern. Ich wollte sie trösten: »Ich glaube nicht, dass die Leute bei einer Auslassung automatisch denken: Ah, mal sehen, ob diese Ehe hält, anscheinend gibt’s da große Zweifel. Eine Auslassung ist in dem Zusammenhang viel eher ein Hinweis auf die Zukunft, auf das, was vor einem liegt.«
Mit gerötetem Gesicht blinzelte Molly mich an. Und brach endgültig in Tränen aus.
»Mannomann«, sagte Kristy.
»Tut mir Leid«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich wollte Sie nicht –«
Mollys Mutter fiel mir ins Wort: »Es geht nicht um das Für-Immer.« Sie legte den Arm um Mollys Schulter.
»Natürlich geht es um das Für-Immer, worum sonst? Es geht um nichts anderes«, jammerte Molly laut, wurde jedoch jetzt von ihrer Mutter aus der Küche bugsiert; sanft und beruhigend redete die ältere Frau auf die jüngere ein. Schweigend blickten wir den beiden nach. Ich fühlte mich fürchterlich schuldig. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt gewesen, meine Interpunktionskenntnisse vorzuführen.
Delia rieb sich mit der Hand übers Gesicht und schüttelte den Kopf. »Du meine Güte«, sagte sie, als die beiden außer Hörweite waren. »Was machen wir denn jetzt?«
Einen Moment lang herrschte erneut Schweigen, dann schob Kristy ihr Tablett ein Stück zur Seite und verkündete: »Was wir jetzt machen? Salat.« Sie schnappte sich einen Stapel Salatteller und verteilte sie einzeln auf der Arbeitsplatte. Monica zog die große Schüssel mit den Salatblättern näher zu sich, nahm sich eine Servierzange und gemeinsam machten sich die beiden an die Arbeit.
Ich blickte noch einmal Richtung Tür und fühlte mich elend. Wer hätte gedacht, dass drei Punkte einen solchen Unterschied ausmachen konnten? Es hing wie immer davon ab, was man hineinlas – wie bei der Liebe oder einem Wunsch oder bei was auch immer.
»Macy?« Ich blickte auf. Kristy warf mir einen aufmunternden Blick zu. »Mach dir keinen Kopf. Es war nicht deine Schuld.«
Vielleicht war es ja wirklich nicht meine Schuld. Trotzdem – das war nun mal das Problem, wenn man alle Antworten kannte. Erst wenn man sie gegeben hatte, merkte man, dass die richtige, wahrheitsgemäße Antwort nicht immer das war, was die Menschen hören wollten.
»Alles in allem lief es einigermaßen heute Abend«, sagte Delia drei Stunden später, als wir den letzten Servierwagen, beladen mit Vorlegelöffeln und -gabeln sowie leeren Weinkühlern in den Lieferwagen schoben. »Keine größeren, nicht mal mittlere Katastrophen. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass es halbwegs gut lief.«
»Bis auf die Sache mit den Steaks.« Kristy spielte auf einen Moment absoluter Panik an, als wir gerade den Salat serviert hatten und entdeckten, dass die Hälfte der Filets noch im Lieferwagen und entsprechend kalt war.
»Stimmt, hätte ich fast vergessen.« Delia seufzte. »Zumindest ist auch dieser Abend jetzt vorbei und beim nächsten Mal klappt alles besser. Wie am Schnürchen, würde ich sagen. Als wären wir eine gut geölte Maschine.«
Selbst ich als blutige Anfängerin wusste: Das war mehr als unwahrscheinlich. Denn den ganzen Abend über hatte sich ein Problem ans andere gereiht. Krisen, die sich ankündigten, sich steigerten und dann doch irgendwie bewältigt wurden. Und das alles in atemberaubender Geschwindigkeit. Ich war so daran gewöhnt, die Dinge um jeden Preis zu kontrollieren, um gegen alles Unerwartete gewappnet zu sein, dass ich richtig spüren konnte, wie mein Stresspegel jedes Mal stieg und wieder sank, weil ich auf jede Krise, jede sich anbahnende Katastrophe sofort reagierte. Für die anderen drei hingegen schienen die ständigen Turbulenzen das Normalste von der Welt zu sein. Außerdem waren sie offenbar fest davon überzeugt, dass am Ende schon alles irgendwie funktionieren würde. Und das Seltsame war: Am Ende funktionierte auch alles. Irgendwie. Irgendwann. Obwohl ich nie hätte sagen können, wie, auch wenn ich selbst dabei gewesen war.
Kristy schnappte sich ihre schwarze Fransenhandtasche, die sie auf der Ladefläche des Lieferwagens deponiert hatte. »Tut mir Leid, wenn ich unke«, meinte sie, »aber ich gebe der Ehe von den beiden maximal ein Jahr. Auf dieser Hochzeit herrschte ganz klar das Gefühl vor, dass die Braut kalte Füße hatte – als ob sie die ganze Zeit denken würde: Um Himmels willen, tu’s nicht. Die Braut wäre doch vor lauter Schiss beinahe durchgedreht.«
»Mmm-hmmm.« Das kam von Monica, die auf der Stoßstange hockte und hiermit einen der drei Kommentare von sich gegeben hatte, aus denen – wie ich inzwischen mitbekommen hatte – ihr Repertoire bestand. Ihre beiden anderen Standardbeiträge zu jeder Unterhaltung lauteten »Hör bloß auf« und »Lass stecken«. Keine Ahnung, wer den Spitznamen Miss Monoton erfunden hatte, aber er passte gut zu ihr.
»Dein T-Shirt solltest du in kaltem Wasser und etwas Chlorbleiche einweichen«, sagte Delia zu mir. Sie strich sich mit der Hand über ihren runden Schwangerenbauch und ließ sie mit gespreizten Fingern dort liegen. »Dann müsste der Fleck beim Waschen rausgehen.«
Ich sah an mir herunter; den Fleck auf meinem T-Shirt hatte ich längst vergessen. »Ach so, ja. Mach ich.«
Als der Trauzeuge des Bräutigams beim Essen aufgestanden war, um einen Trinkspruch auf das Brautpaar auszubringen, fuchtelte er vor lauter Eifer und Begeisterung so mit den Armen und vergaß dabei das Rotweinglas in seiner Hand, dass sich der Rotwein über mich ergoss. Über Schlinger und Grabscher wusste ich ja bereits Bescheid, doch dieser Herr lehrte mich alles, was ich über Fummler wissen musste, denn er tupfte und wischte geschlagene fünf Minuten an mir herum – angeblich um den Fleck rauszureiben. Aber eigentlich führte es nur dazu, dass sich zwischen mir und diesem Mann in fünf Minuten mehr abspielte, als ich mit Jason je erlebt hatte.
Jason. Der Gedanke an ihn zerrte und zog in meiner Bauchgegend. Gleichzeitig realisierte ich allerdings, dass ich seit drei Stunden nicht mehr an ihn, unsere Beziehungspause und meinen neuen Status als Freundin in der Warteschleife gedacht hatte. Aber es war passiert, war Realität; ich hatte vor lauter Hektik bloß nicht mehr daran gedacht.
Ein Wagen fuhr an uns vorbei. Als er wendete, strich das Licht der Scheinwerfer über uns hinweg. Dann fuhr das Auto langsam – unendlich langsam – auf uns zu. Ich blinzelte, um besser erkennen zu können, was da herankroch. Auf jeden Fall war es kein normales Auto, sondern eine Art Lieferwagen, weiß mit grauen Flecken. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis das seltsame Fahrzeug uns erreicht hatte, doch schließlich fuhr es vorsichtig dicht an den Bordstein heran und blieb stehen. Der Motor wurde ausgemacht. Im nächsten Augenblick erschien ein Kopf am Fenster vorn auf der Fahrerseite.
»Meine Damen«, ertönte eine tiefe, feierliche Stimme. »Darf ich Ihnen das Bertmobil präsentieren?«
Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen.
Delia zog scharf die Luft ein.
»Das gibt’s nicht«, sagte Kristy. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
Die Fahrertür öffnete sich quietschend, Bert stieg schwungvoll aus. »Was?«
»Ich dachte, du würdest Onkel Henrys Auto bekommen.« Delia trat näher an Bert heran, während Wes auf der anderen Seite ausstieg. »Hattet ihr das nicht so ausgemacht?«
»Ich hab’s mir eben anders überlegt.« Bert klimperte mit den Wagenschlüsseln. Er trug ein gestreiftes Hemd, Khakihosen, einen Gürtel und Mokassins, sah also definitiv so aus wie jemand, der sich extra schick gemacht hat.
»Warum?« Delia legte den Kopf zur Seite und musterte das Bertmobil aufmerksam. Trat plötzlich einen Schritt zurück, stemmte die Hände in die Hüften. »Moment mal«, sagte sie langsam, »ist das etwa –«
»Ein Kraftfahrzeug mit Charakter? Das etwas hermacht? Die Antwort lautet Ja«, verkündete Bert.
»Ist das ein Krankenwagen?«, fragte Delia ungläubig. »Das war mal ein Krankenwagen, nicht wahr?«
»Ich fasse es nicht.« Kristy lachte. »Bert, ich glaube, du bist so ungefähr der einzige Mensch auf der Welt, der denkt, er könnte mit einer Karre was hermachen, in der Leute gestorben sind.«
»Woher hast du den Wagen?«, erkundigte sich Delia. »Darf man mit so was überhaupt offiziell herumfahren?«
Wes, der mittlerweile neben der vorderen Stoßstange stand, schüttelte bloß den Kopf. Frag nicht, schien das Kopfschütteln zu sagen. Ich trat dichter ran, um mir das Bertmobil genauer anzuschauen. Auf der Kühlerhaube konnte man gerade so die Umrisse eines As und eines Ms erkennen.
»Ich habe das Teil bei dem Autoschrotthändler am Flughafen gekauft.« Bert strahlte, als redete er vom allerneuesten Porsche-Modell. »Und der hat’s auf einer Gemeindeauktion ersteigert. Ist doch ultrascharf oder etwa nicht?«
Delia sah Wes an. »Und was ist mit Onkel Henrys altem Sedan?«
»Ich habe versucht es ihm auszureden«, meinte Wes. »Aber du kennst ihn ja. Stur bis zum Anschlag. Außerdem ist es sein Geld.«
»Und ein Sedan hat weder Charakter noch kann man damit was hermachen«, fügte Bert hinzu.
»Du machst nichts her, Bert, egal was für ein Auto du fährst«, sagte Kristy. »Ich meine, schau dich doch mal an. Diese Klamotten! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht rumlaufen wie der letzte Opa. Echt, ich fasse es nicht. Dieses Hemd . . . ist das etwa aus Nylon?«
Ihr Kommentar schien Bert nicht weiter zu stören; er blickte an sich runter und strich mit der Hand über die Brusttasche seines Hemdes. »Nylon und noch was. Ein Kunststoffgemisch. Frauen stehen nun mal auf gut gekleidete Männer.«
Kristy verdrehte die Augen. Wes wischte sich mit der Hand über die Stirn. Monica sagte: »Lass stecken.«
»Ein Krankenwagen«, sagte Delia so neutral wie möglich. Als könnte sie sich daran gewöhnen, wenn sie es nur oft genug aussprach.
Bert beeilte sich sie zu korrigieren: »Ein ehemaliger Krankenwagen. Ein Auto mit Geschichte. Mit einer Persönlichkeit, mit –«
Wes fiel seinem Bruder ins Wort: »Der Kauf ist nicht rückgängig zu machen. Kein Umtausch möglich. Als er damit vom Parkplatz des Händlers fuhr, waren die Würfel gefallen.«
Delia schüttelte seufzend den Kopf.
»Aber ich wollte genau so ein Auto«, bekräftigte Bert.
Pause. Gegen diese klare Ansage schien niemandem ein Argument einzufallen.
Schließlich trat Delia auf Bert zu, nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, junger Mann.« Sie wuschelte ihm durchs Haar. »Ich kann gar nicht glauben, dass du schon sechzehn bist. Vor allem weil ich mir dadurch uralt vorkomme.«
»Du bist nicht alt«, sagte er.
»Alt genug, um mich an den Tag zu erinnern, an dem du geboren wurdest.« Sie trat einen Schritt zurück und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Deine Mutter war so glücklich. Du warst ein absolutes Wunschkind.«
Bert senkte plötzlich den Kopf und drehte verhalten den Schlüsselbund zwischen seinen Fingern. Delia beugte sich vor und flüsterte ihm etwas zu. Er nickte. Als er wieder aufblickte, war sein Gesicht leicht gerötet und für einen flüchtigen Moment entdeckte ich darin etwas Vertrautes, etwas, das mir bekannt vorkam. Doch dann wandte er den Kopf ab. Und das Etwas war wieder fort.
»Darf ich euch Macy vorstellen?« Delia deutete beim Sprechen auf mich. »Macy, das sind meine Neffen, Bert und Wes.«
»Wir sind uns schon begegnet, neulich bei uns zu Hause«, sagte ich.
»Ja, Bert ist hinter den Mülltonnen hervorgehüpft und hat sie zu Tode erschreckt«, meinte Wes.
»Ich fasse es nicht. Zieht ihr beide den Scheiß etwa immer noch ab?«, fragte Kristy. »So was Bescheuertes.«
»Es ist bloß passiert, weil ich hinten liege.« Bert warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Drei Punkte, um genau zu sein.«
Kristy zog eine Nagelfeile aus ihrer Handtasche und meinte ungerührt: »Der Nächste, der hinter einer Tür oder sonst was hervorspringt und mich erschreckt, kriegt eins auf die Mütze, egal ob er nun hinten liegt oder nicht.«
»Mmm-hmmm.« Zustimmung von Monica.
»Ich dachte, sie wäre Wes«, grummelte Bert. »Außerdem würde ich nie hinter einer Tür hervorspringen, das ist unter unserem Niveau. Wir haben unsere Technik schon viel weiter entwickelt.«
»Ach?«, meinte Kristy, doch Bert ignorierte ihren spöttischen Ton und sagte gar nichts mehr, deshalb wandte Kristy sich an mich: »Seit Wochen spielen sie dieses ultradämliche Buh-Spielchen. Hüpfen wie Springteufel von irgendwoher auf einen zu, erschrecken einander, erschrecken uns, bis man fast einen Herzinfarkt bekommt.«
»Es ist vielleicht ein Spiel, aber eins, für das man echt Köpfchen haben muss«, sagte Bert zu mir.
»Eher eins für Leute, die überhaupt kein Köpfchen haben«, stichelte Kristy.
»Es geht nichts über eine gute Erschreck-Aktion«, meinte Bert beharrlich.
Delia gähnte kopfschüttelnd und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. »Tut mir Leid, dass ich dieses interessante Gespräch unterbreche, aber ich fahre jetzt heim«, verkündete sie. »Alte, schwangere Damen müssen um Mitternacht im Bett sein. Bauernweisheit.«
»Ach, komm doch noch mit.« Schwungvoll ließ Bert seine Hand über die Kühlerhaube gleiten. »Die Nacht ist jung! Das Bertmobil braucht einen ordentlichen Einstand.«
»Du schlägst im Ernst vor, wir sollen in einem Krankenwagen durch die Gegend düsen?«, fragte Kristy.
»Es hat alles, was ein anständiges Auto braucht«, antwortete Bert. »Es ist wie jeder normale Wagen. Nein, besser.«
»Hat es einen CD-Spieler?«, fragte Kristy.
»Also, das ist so –«
»Nein«, antwortete Wes an Berts Stelle. »Aber eine nicht funktionierende Gegensprechanlage.«
»Na dann«, sagte Kristy großzügig. »Ihr habt mich überzeugt. Ich bin dabei.«
Bert warf ihr einen erbosten Blick zu, aber sie lächelte ihn entwaffnend an und drückte im Vorbeigehen seinen Arm. Monica stand auf und folgte ihr; gemeinsam gingen sie um das Bertmobil herum und öffneten die hinteren Türen.
»Viel Spaß!«, rief Delia. »Und fahr nicht zu schnell, Bert, hörst du?«
Worauf allgemeines Gelächter ertönte. Das heißt, Wes lachte nicht, konnte es sich allerdings nur mit Mühe verkneifen. Bert ignorierte das Gelächter und ging schnurstracks zur Fahrertür.
»Wes, kommst du mal eben?«, rief Delia.
Wes wollte auf sie zugehen, aber ich stand im Weg. Deshalb ergab sich dieser komische kleine Eiertanz, wie immer, wenn zwei Leute, die einander ausweichen wollen, erst gleichzeitig zur einen Seite gehen und dann zur anderen. Während ich etwas unbeholfen vor ihm her von einem Bein aufs andere trat, fiel mir auf, dass er aus der Nähe noch viel besser aussah: Diese dunklen Augen mit ihren langen Wimpern! Dazu lockiges Haar, das bis zum Kragen reichte, tief sitzende Jeans und eine Tätowierung am Arm, irgendein keltisches Symbol, das unter dem Ärmel seines T-Shirts hervorlugte.
Schließlich blieb ich stehen, so dass er an mir vorbeikonnte. »Sorry.« Er lächelte mich an. Als ich ihm nachblickte, merkte ich, wie mein Gesicht aus irgendeinem Grund ganz heiß wurde. Dann verschwand er auf der anderen Seite des Lieferwagens.
»Und wo sollen wir bitte schön sitzen?« Kristys Stimme, vom hinteren Ende des Bertmobils. »Sag mal, ist das – ist das etwa eine Bahre?«
»Nein«, antwortete Bert. »In der Ecke war zwar mal eine Trageliege befestigt, aber das ist bloß ein Feldbett, das ich erst mal reingestellt habe, bis ich etwas Bequemeres finde.«
»Ein Feldbett?«, fragte Kristy. »Bert, ich glaube, du machst dir echt Illusionen darüber, was du mit diesem Auto reißen kannst.«
»Jetzt steig schon ein«, sagte Bert beleidigt. »Mein Geburtstag ist bald vorbei. Die Zeit läuft.«
Ich holte meinen Autoschlüssel aus der Tasche und machte mich auf den Weg zu meinem Auto. Dabei kam ich an Wes vorbei, der hinter dem Lieferwagen hervorgekommen war und nun wieder das Bertmobil ansteuerte.
»Schönen Abend noch«, sagte er. Ich nickte, doch bei dem Versuch, eine angemessene Antwort zu geben, verhedderte sich meine Zunge. Als ich endlich kapiert hatte, dass ich seine Worte einfach nur hätte wiederholen müssen, um genau das Passende zu sagen – was war bloß mit mir los? –, war der Moment auch schon vorbei: Wes hatte das Bertmobil erreicht und stieg ein.
Ich kam an dem weißen Lieferwagen vorbei. Delia schnallte sich gerade an. »Hast du gut gemacht, Macy. Wirklich toll.«
»Danke.«
Sie nahm einen Kuli vom Armaturenbrett, zog eine zerknüllte Papierserviette aus der Tasche, kritzelte etwas darauf. »Meine Telefonnummer«, sagte sie. »Ruf mich Montag an, dann kann ich dir sagen, wann ich dich gern das nächste Mal dabeihätte. Einverstanden?«
»Ja.« Ich nahm die Serviette, faltete sie zusammen. »Danke. Hat Spaß gemacht.«
»Ja?« Sie lächelte mich erstaunt an. »Das freut mich. Fahr schön vorsichtig, okay?«
Ich nickte. Sie ließ den Motor an und fuhr los. Ein letztes Hupen, dann bog sie um die Ecke.
Ich hatte gerade aufgeschlossen, als das Bertmobil neben meinem Auto hielt. Kristy saß hinten, drehte aber vorn am Radio rum. Die Sender wechselten rapide, von Popmusik zu atmosphärischem Rauschen zu den dröhnenden Bässen irgendeines Technostücks. Wes durchwühlte das Handschuhfach; Kristy blickte mich über seinen vorgebeugten Rücken hinweg an.
»Hast du Lust mitzukommen?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete ich, »ich muss wirklich . . .«
In dem Moment drehte Kristy wieder am Sendersuchknopf und irgendwer jaulte plötzlich Baaaaaby . . .! – der Beginn einer bombastischen Schnulze. Bert und Wes zuckten simultan zusammen.
». . . nach Hause«, vollendete ich meinen Satz.
Kristy machte die Musik etwas leiser. Aber nicht viel. »Wirklich? Ich meine, willst du echt auf diese Erfahrung verzichten? Wie oft hat man schon die Chance, in einem Krankenwagen mitzufahren?«
Einmal zu oft, dachte ich.
»Ehemaliger Krankenwagen. Umgebaut und aufgerüstet«, grummelte Bert.
»Was auch immer«, meinte Kristy und sagte dann zu mir: »Komm schon, raff dich auf. Ein bisschen Leben kann nie schaden.«
»Ich sollte wirklich besser heimfahren«, antwortete ich. »Trotzdem, danke für das Angebot.«
Kristy zuckte die Schultern. »Wie du willst. Aber beim nächsten Mal bist du dabei, okay?«
»Okay«, antwortete ich. »Bestimmt.«
Ich blieb neben meinem Auto stehen und schaute zu. Wie Bert vorsichtig in der gegenüberliegenden Auffahrt wendete. Wie Wes die Hand hob und winkte, bevor sie endgültig davonfuhren. In einem anderen Leben hätte ich es möglicherweise fertig gebracht, hinten in einen Krankenwagen einzusteigen, ohne dauernd an das bewusste andere Mal zu denken. Aber es wäre ein Risiko gewesen und mit Risiken hatte ich in letzter Zeit kein Glück; um mir das in Erinnerung zu rufen, brauchte ich bloß heimzufahren und einen Blick auf meinen Computerbildschirm zu werfen. Deshalb tat ich, was ich in letzter Zeit immer tat: das Richtige. Doch vorher warf ich noch einen letzten Blick in den seitlichen Rückspiegel und sah, wie das Bertmobil in einiger Entfernung abbog. Erst als sie weg waren, ließ ich den Motor an und fuhr heim.