»Achtung . . .« Caroline drückte den Selbstauslöserknopf der Kamera und kam auf uns zugestürzt, um sich rechtzeitig neben meine Mutter zu setzen. »Und jetzt – lächeln!«
Samstagmorgen. Meine Schwester war am Vorabend angekommen, nachdem sie den ganzen Tag in Colby verbracht hatte, um mit dem Schreiner über die Renovierung und die Reparaturen zu reden, die in unserem Haus am Meer durchgeführt werden mussten. Mit so was kannte sie sich aus; sie hatte schon ihr eigenes Haus auf Vordermann bringen lassen, plus die Blockhütte, die Wally und sie in den Bergen besaßen. Tief im Herzen fühlte sie sich zur Innenarchitektin berufen, seit ihr ein Kunstlehrer am College ein »gutes Auge« bescheinigt hatte – ein Kompliment, das Caroline ihrer Meinung nach das Recht gab, nicht nur ihre eigenen Häuser, sondern auch die der übrigen Menschheit zu verschönern.
Obwohl also meine Mutter gerade erst einen Fuß an Bord gesetzt hatte – was in sich schon ein kleines Weltwunder war, fand ich jedenfalls –, hatte Caroline den Kessel angeheizt und fuhr bereits mit Volldampf voraus. Sie hatte nicht nur ihre gesammelten Bücher über Innenarchitektur und Renovierung mitgebracht, sondern mit Wallys Digitalkamera in unserem Haus am Meer jede Menge Bilder aufgenommen, damit wir die geplanten Neuerungen und Veränderungen gleich buchstäblich vor Augen hatten.
»Wenn man eine Renovierung aus der Ferne beaufsichtigen muss, kommt man ohne die Dinger nicht mehr aus.« Beim Sprechen schloss Caroline die Digitalkamera an den Fernseher an. »Ich weiß gar nicht mehr, wie wir das früher ohne geschafft haben.«
Sie drückte auf einen Knopf. Der Bildschirm wurde schwarz. Doch plötzlich tauchte wie aus dem Nichts das Ferienhaus vor uns auf, und zwar vom Strand aus gesehen. Die Veranda mit der wackeligen Holzbank; die Treppe über die Düne; der alte Grill unter dem Küchenfenster. Auf der einen Seite hatte ich das Gefühl, es wäre ewig her, seit ich das alles gesehen hatte. Andererseits war es mir immer noch so vertraut, dass es fast körperlich schmerzte. Und so konkret, dass man sich gut vorstellen konnte, meinen Vater zu entdecken, wenn man nur genau genug hinsah. Ja, man würde ihn durchs Fenster sehen, wie er sich auf dem Sofa fläzte, Zeitung las und unvermittelt den Kopf drehte, als hätte er gerade gehört, dass jemand seinen Namen rief.
Meine Mutter hielt sich mit beiden Händen an ihrem Kaffeebecher fest und starrte stumm auf das Bild. Zum wiederholten Mal fragte ich mich, ob und wie sie diese Aktion wohl durchstehen würde. Ich warf einen Blick zu meiner Schwester hinüber und bemerkte, dass sie unsere Mutter ebenfalls beobachtete. Schließlich sagte sie behutsam: »So sieht es jetzt dort aus. Auf der einen Seite hängt das Dach ein bisschen durch, und zwar anscheinend schon seit dem letzten großen Sturm.«
Meine Mutter nickte stumm.
»Es braucht neue Stützen, Sparren und auch ein paar Schindeln. Außerdem meint der Schreiner, da sowieso ein Gerüst gebaut werden müsse, sollten wir gleich überlegen, ob wir vielleicht ein Oberlicht einbauen lassen oder so etwas. Ihr wisst ja, die Fenster sind so klein, dass es im Wohnzimmer ziemlich dunkel ist. Darüber hast du dich doch sowieso dauernd beschwert, Mama.«
Ja, meine Mutter hatte im Wohnzimmer eigentlich immer alle Lampen angemacht, auch tagsüber, weil sie fand, es wäre da drinnen so finster wie in einer Höhle. (»Ist doch prima, kann man besser ein Nickerchen halten«, hatte mein Vater jedes Mal dagegengehalten und war prompt leise schnarchend auf dem Sofa eingeschlafen.) Meine Mutter hielt sich deshalb lieber im vorderen Schlafzimmer auf, das ein großes Fenster hatte. Außerdem fand sie den Elchkopf gruselig. Was sie wohl gerade dachte? Es war bestimmt schwer für sie. Für mich ebenfalls. Doch im Stillen klammerte ich mich an das, was Kristy gestern Abend zu mir gesagt hatte, nämlich dass man keine Angst haben sollte. Und daran, was ich verpasst hätte, wenn ich in dem Moment, als ich Angst bekam, nach Hause gefahren wäre.
»Allerdings habe ich mich mit Oberlichtern noch nie beschäftigt«, meinte Caroline. »Deshalb habe ich keine Ahnung, wie viel man investieren muss oder ob sich der Aufwand überhaupt lohnt.«
»Kommt auf den Hersteller an.« Die Augen meiner Mutter waren fest auf den Bildschirm gerichtet. »Und auf die Größe. Die Preise variieren stark.«
Eines musste ich meiner Schwester lassen: Bei aller Hartnäckigkeit, allem Drängen wusste sie genau, wie sie es anstellen musste, um das Thema einigermaßen erträglich zu verpacken. Sie kombinierte einfach einen schwierigen Schritt mit einem leichten; zeigte uns beispielsweise ein Bild, von dem sie ahnte, dass meiner Mutter bei dem Anblick schwer ums Herz werden würde, und verband es gleichzeitig mit einer Frage, bei der sie sich auf sicherem Terrain bewegte: ihrer Arbeit.
In der Art ging es die nächste halbe Stunde weiter, während Caroline uns behutsam durchs Ferienhaus führte, im wahrsten Sinne des Wortes ein Zimmer nach dem anderen mit uns durchging. Am Anfang musste ich ständig einen neuen Kloß im Hals runterschlucken, zum Beispiel wenn ich den Blick aufs Meer von der Veranda aus sah oder das Zimmer mit den Etagenbetten, wo ich immer geschlafen hatte. Es machte mich so fertig, dass ich kaum etwas anderes wahrnahm. Am schlimmsten waren die Bilder vom Elternschlafzimmer, denn an der Wand neben der Tür stand noch ein Paar alter Laufschuhe meines Vaters.
Doch jedes Mal wenn die Erinnerungen über unseren Köpfen zusammenzuschlagen drohten, holte Caroline uns an die Oberfläche zurück. Langsam, vorsichtig, beharrlich. Jedes Mal wenn uns vor lauter Trauer die Luft wegblieb, jedes Mal wenn ich glaubte, ich würde diese Prozedur keine Sekunde länger aushalten, warf sie eine Frage in den Raum, irgendetwas Konkretes, Rationales, an dem man sich festhalten konnte. Was haltet ihr davon, fragte sie beispielsweise, wenn wir das Fenster im Bad durch Glasbausteine ersetzen? Oder: Seht ihr, wie wellig das Linoleum in der Küche geworden ist? Ich habe da Fliesen in einem tollen Blau entdeckt, mit denen wir es ersetzen könnten. Oder würden Fliesen zu teuer? Und jedes Mal wenn meine Mutter sachkundig antworten konnte, hielt sie sich an der Antwort fest wie an einem Rettungsring auf hoher, schwerer See. Sobald sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, ging’s weiter.
Als die Vorführung vorbei war, überließ ich die beiden sich selbst sowie einer angeregten Diskussion über Oberlichter, um meine Wäsche aus dem Trockner zu holen, weil ich mir noch was für meinen nächsten Arbeitstag in der Bibliothek bügeln wollte. Ich war fast fertig, da erschien meine Mutter in der Waschküche und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen.
»Sieht so aus, als hätte deine Schwester ein neues Projekt gefunden«, meinte sie.
»Wo ist sie?«
»Bei ihrem Wagen. Sie hat ein paar Stoff- und Farbmuster mitgebracht, die sie mir unbedingt zeigen will.« Seufzend strich meine Mutter mit einer Hand den Türrahmen entlang. »Anscheinend sind Polsterbezüge aus Kord derzeit der neueste Schrei.«
Ich lächelte, während ich eine Falte in der Hose glättete, die ich gerade in der Hand hielt. »Sie kennt sich wirklich aus auf dem Gebiet«, sagte ich. »Denk doch mal dran, was sie aus ihrem eigenen Haus gemacht hat. Und aus dem Ferienhaus in den Bergen. Ist doch gut geworden, findest du nicht?«
»Ja, schon.« Schweigend sah sie einen Augenblick lang zu, wie ich ein T-Shirt faltete und es in den Korb legte, der neben mir auf dem Boden stand. »Trotzdem . . . es ist schon eine Menge Geld und Arbeit, um sie in ein so altes Haus zu investieren. Ich kann mir nicht helfen, aber das geht mir die ganze Zeit im Kopf herum. Dein Vater hat immer gesagt, es sei nur noch eine Frage von ein paar Jahren, bis die Grundmauern wegsacken würden. Ich bin mir einfach unsicher, ob das Ganze die Mühe und den Aufwand, den Caroline betreibt, tatsächlich lohnt.«
Ich holte Kristys Jeans aus dem Trockner und faltete sie zusammen. Das Herz auf dem Knie war genauso pechschwarz wie vor der Wäsche. »Aber vielleicht wird es ja auch schön.« Ich überlegte mir jedes Wort sehr genau. »Ich meine, wieder etwas zu haben, wo wir hinfahren können. Unser Haus am Meer.«
»Ich weiß nicht.« Meine Mutter fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Falls die Grundmauern tatsächlich marode sind, wäre es möglicherweise einfacher, das Haus insgesamt abzureißen und auf dem Grundstück etwas Neues aufzubauen.«
Ich hatte mich gerade zum Trockner hinuntergebeugt, um die letzten Klamotten rauszuholen, als sie das sagte, und erstarrte. Vor ein paar Minuten hatte ich zum ersten Mal seit über einem Jahr unser Ferienhaus wiedergesehen. Mir jetzt vorstellen, dass es genau wie so vieles andere eines Tages einfach weg sein könnte – das konnte ich nicht. »Ich weiß nicht. Meinst du wirklich, die Grundmauern sind schon so kaputt? Also, ich kann das irgendwie nicht so recht glauben.«
»Mama?«, rief Caroline aus der Küche. »Ich habe jetzt die Muster. Wo steckst du?«
»Ich komme«, rief meine Mutter über ihre Schulter hinweg. An mich gewandt, sagte sie mit etwas leiserer Stimme: »War bloß eine Idee. Nur ein Gedanke, nichts weiter.«
Eigentlich hätte es mich gar nicht wundern dürfen, dass meine Mutter auf so eine Idee kam. Schließlich plante und verkaufte sie Neubauten, das war ihr Beruf. Es war bloß logisch, dass ihr der Gedanke an etwas Perfektes, Unberührtes, Jungfräuliches besser gefiel als die Idee, etwas Altes neu herzurichten. Tag für Tag versuchte sie ihren Kunden den Traum von einem völlig neuen Anfang zu verkaufen. Was ihr nur gelang, wenn sie selbst an diesen Traum glaubte.
»Ist das neu?«, fragte sie.
»Was meinst du?«
Sie deutete auf das Top, das ich gerade in den Korb gelegt hatte. »Das habe ich noch nie an dir gesehen.«
Natürlich nicht, denn es gehörte Kristy und sah unter dem grellen Neonlicht in unserer Waschküche noch unpassender aus als an dem Abend, an dem ich mich darauf eingelassen hatte, es zu tragen. Obwohl ich es zusammengefaltet hatte, war nicht zu übersehen, dass es viel zu tief ausgeschnitten war, auf jeden Fall tiefer, als meiner Mutter lieb sein würde. Und die Glitzerfäden an den Trägern funkelten geradezu aufdringlich. In Kristys Zimmer, in Kristys Leben war es ungefähr so schockierend wie ein simples weißes T-Shirt. In unserer Waschküche dagegen fiel es total aus dem Rahmen.
»Das gehört nicht mir«, antwortete ich. »Ich habe es mir . . . äh . . . von einer Freundin geliehen.«
»Tatsächlich?« Meine Mutter beugte sich vor, um genauer hinsehen zu können. Anscheinend versuchte sie gerade – etwas mühsam – nachzuvollziehen, wie es dazu kommen konnte, dass eine meiner Freundinnen aus der Schülermitverwaltung so ein verwegenes Teil besaß. »Von wem denn?«
Unvermittelt tauchte Kristys Gesicht vor mir auf, ihr offenes, unbekümmertes Lächeln, ihre Narben, ihre großen blauen Augen. Wenn meine Mutter sich schon wegen dieses Glitzertops ansatzweise aufregte – wie würde sie dann wohl reagieren, wenn sie Kristy in voller Montur gegenüberstand oder meine anderen neuen Freunde von Wish Catering kennen lernte? Da ich mir ihre Reaktion lebhaft vorstellen konnte, erschien es mir ratsam und einfacher, zu antworten: »Von einer meiner Kolleginnen beim Catering. Gestern Abend habe ich mich mit Salatsauce bekleckert, deshalb hat sie mir das geliehen, sonst hätte ich in einem durchweichten T-Shirt heimfahren müssen.«
»Ach so«, sagte sie. Richtig erleichtert klang sie zwar nicht gerade, doch mit dieser Erklärung konnte sie offensichtlich leben. »Nett von ihr.«
»Ja«, antwortete ich, während sie sich abwandte, um in die Küche zu gehen, wo meine Schwester und ihre Dekostoffmuster auf sie warteten. »Finde ich auch.«
Als ich auf dem Weg zu meinem Zimmer an der Küche vorbeikam, hörte meine Mutter gerade mit skeptischem Gesichtsausdruck zu, wie Caroline ihr wortreich erklärte, dass Kord als Möbelstoff wieder voll im Kommen sei. Ich ließ die beiden mit diesem hoch spannenden Thema allein, ging nach oben, stellte den Wäschekorb auf mein Bett. Nachdem ich meine T-Shirts, Jeans und Shorts in den Fächern meines Kleiderschranks verstaut und mir meine guten Sachen für die Bibliothek zum Bügeln zurechtgelegt hatte, befanden sich bloß noch Kristys Jeans und das Top im Korb. Ich wollte die Sachen gerade auf den Tisch legen, damit ich beim nächsten Mal, wenn ich Kristy sah, daran denken würde, sie mitzunehmen. Doch plötzlich hielt ich mitten in der Bewegung inne und ließ die dünnen Glitzerträger durch meine Finger gleiten. Das Teil war so anders als alles andere, was ich besaß – kein Wunder, dass es meiner Mutter sofort aufgefallen war. Und deshalb hätte ich es Kristy eigentlich noch am selben Abend zurückgeben müssen. Doch aus genau diesem Grund würde ich es überhaupt nicht mehr zurückgeben. Stattdessen versteckte ich es in der untersten Schublade, wo es außer mir niemand finden würde.
Am Sonntagabend wollte meine Schwester für uns drei kochen. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie dafür Rauke brauchte. Ich wusste zwar nicht genau, was das war; trotzdem bestand sie darauf, dass ich mit einkaufen kam. Ich sollte ihr nämlich helfen, das Zeug zu finden.
Wir fuhren also zum Markt und machten uns auf die Suche. Als Erstes liefen wir durch den mittleren Gang. Meine Schwester erklärte mir gerade detailliert den Unterschied zwischen Rauke und sämtlichen anderen Salatsorten, als ich auf einmal Wes entdeckte. Mist, dachte ich, und strich mir unwillkürlich übers Haar, das ich ausgerechnet an dem Tag noch nicht gewaschen hatte. Was mir eigentlich gar nicht ähnlich sah. Aber Caroline hatte ja unbedingt direkt nach dem Frühstück losfahren wollen; offenbar rechnete sie mit einem massiven Andrang auf exotisches Grünzeug und hatte Angst, wir würden nichts mehr abbekommen, wenn wir zu spät auf dem Markt auftauchten. Bei den ungewaschenen Haaren hörte das Problem allerdings noch nicht auf: Als Nächstes wanderte meine Hand zu meinem Uralt-Shirt, einem Relikt aus Wettkampfzeiten, als ich bei jedem Lauf ein Shirt mit dem Logo des Veranstalters bekommen hatte. Shorts und Flipflops vervollständigten meine exquisite Garderobe, denn ich hatte mich natürlich in die erstbesten Klamotten geschmissen ohne daran zu denken, dass ich beim Einkaufen zufällig irgendjemanden treffen könnte, den ich kannte. Von Wes ganz zu schweigen. Wenn wir zusammen arbeiteten, sah ich in der Hitze des Catering-Gefechts auch manchmal ganz schön zerrupft aus, aber da war ich nicht die Einzige. Hier und jetzt dagegen, in einer normalen Alltagssituation, überfielen mich schlagartig alle meine alten Unsicherheiten.
». . . auf keinen Fall mit Feldsalat zu verwechseln«, erklärte Caroline gerade. »Das ist etwas ganz anderes.«
Wes stand, umgeben von Skulpturen, am Ende der Reihe von Verkaufsständen und unterhielt sich mit einer Frau, die einen großen Schlapphut trug und ihr Scheckheft in der Hand hielt. Als ich genauer hinsah, merkte ich, dass alle Skulpturen in sich beweglich waren, wie Windspiele. Es gab eine sehr große, an der ein VERKAUFT-Schild befestigt war, und einige kleinere. Die einzelnen Komponenten drehten sich im Luftzug mal rechtsherum, mal linksherum.
Ich schlug einen Haken, was dazu führte, dass ich abrupt vor einem Stand mit gehäkelten Topflappen und selbst gebackenen Napfkuchen endete, während Caroline weiter geradeaus lief und dabei nach wie vor über Salatsorten dozierte. Sie brauchte etwa eine Sekunde, um zu kapieren, dass ich mich abgesetzt hatte. Doch dann drehte sie um und kam auf mich zu.
»Was ist denn los, Macy?«, fragte sie leicht gereizt und entschieden zu laut. Zumindest fand ich das.
»Nichts.« Ich hielt einen der Topflappen hoch. »Die sind doch ganz schön, oder?«
Caroline warf nur einen Blick auf den Topflappen (orange, mit Pailletten bestickt – schön ist was anderes) und fixierte mich scharf. »Okay, was ist los? Erzähl’s mir.«
Ich blickte an ihr vorbei unauffällig Richtung Wes, in der wilden Hoffnung, er wäre vielleicht ebenfalls losgezogen, um Rauke aufzutreiben, oder zumindest mit der Frau zu ihrem Wagen gegangen, um ihr beim Tragen der Skulptur zu helfen. Aber nein, Pech gehabt. Im Gegenteil – er blickte zu uns herüber.
Zu mir, um genau zu sein. Die Frau mit dem Schlapphut war verschwunden. Wes stand einfach bloß da und sah mich an. Hob die Hand, winkte grüßend. Ich legte den Topflappen wieder zu seinen ästhetisch ebenso ansprechenden Gefährten und spürte, dass ich knallrot wurde.
»Macy, was ist los mit dir? Alles in Ordnung?« Caroline musterte mich durch ihre Designer-Sonnenbrille hindurch forschend, bevor sie den Kopf wandte, um nachzusehen, was mich so heiß hatte erröten lassen. Ich folgte ihrem Blick; er wanderte über Verkaufstische mit Zuckermais, frischem Ziegenkäse und Hängematten, bis sie schließlich nur einen Laut ausstieß: »Oh!«
Ich wusste, was sie dachte, hörte Kristys Stimme in meinem Kopf: Bäng!
»Kennst du den?« Caroline starrte Wes wie gebannt an.
»Äh, ja«, antwortete ich. Nachdem wir uns alle gegenseitig gesehen hatten, war mir klar, dass mich jetzt nichts mehr retten konnte, egal wie viele Topflappen oder Hängematten den Weg versperrten. Also kapitulierte ich und hakte mich bei Caroline unter: »Komm.«
Während wir uns zu Wes hinüberschlängelten, hatte ich genügend Zeit, mir die Skulpturen anzuschauen. Mir fiel auf, dass keine Herzhand dabei war, sondern ein anderes Motiv dominierte: Engel mit Heiligenscheinen. Die kleineren Skulpturen ähnelten Stockpuppen, nur hatte Wes sie aus Metall, nicht aus Holz gemacht, mit Gesichtern aus Zahnrädern, Fingern und Zehen aus winzigen Nägeln. Über jedem Kopf hing ein kreisförmiges Gebilde aus unterschiedlichen Materialien und mit unterschiedlicher Struktur. Ein Heiligenschein war beispielsweise mit bunten Glasscherben besetzt, aus einem anderen ragten lange Zimmermannsnägel in verschiedene Richtungen – ein Medusa-Engel. Bei der großen Skulptur, der mit dem VERKAUFT-Schild, rankte sich Stacheldraht um den Heiligenschein, ähnlich wie bei der gigantischen Herzhand, die am Sweetbud Drive stand. Ich musste plötzlich an Myers denken, die Einrichtung für straffällig gewordene Jugendliche. Wie der Stacheldraht dort sich um den Zaun gewunden hatte. Genau so. Als wären die Gitterstangen mit spitzem, gezacktem Schleifenband umwickelt.
»Hallo«, meinte Wes, als wir bei ihm ankamen. »Dacht ich mir, dass du das bist.«
»Hi«, sagte ich.
»Die sind ja irre.« Caroline streckte die Hand aus und ließ ihre Finger an dem großen Zahnrad entlangfahren, das den Bauch der Figur bildete. »Ich liebe diese Art von Materialien.«
»Danke«, erwiderte Wes. »Kommt alles vom Schrottplatz.«
»Das ist Wes«, sagte ich, während Caroline bewundernd um die Skulptur herumlief. »Wes, das ist meine Schwester Caroline.«
»Freut mich dich kennen zu lernen«, sagte Caroline mit ihrer Smalltalk-Stimme und reichte Wes die Hand. Doch nachdem die beiden sich kurz die Hände geschüttelt hatten, fuhr Caroline augenblicklich mit ihrer eingehenden Betrachtung der Skulptur fort. Sie nahm sogar die Sonnenbrille ab und beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Das Besondere und besonders Schöne hieran ist der Kontrast.« Sie redete wie bei einer Museumsführung. »Der komplementäre Gegensatz zwischen Motiv und Material.«
Wes warf mir einen leicht befremdeten Blick zu. Ich schüttelte nur den Kopf. Wenn meine Schwester auf die Tour erst mal losgelegt hatte, war sie nicht mehr zu bremsen. Schließlich war Kunst im College ihr Hauptfach gewesen.
»Im Prinzip kann jeder darauf kommen, Engel zu gestalten«, sagte sie zu mir, als stünde Wes nicht daneben und hörte zu. »Aber entscheidend ist, wie bei diesen Skulpturen die Wahl des Materials die Aussage transportiert. Engel gelten von Natur aus als vollkommene Geschöpfe. Doch indem der Künstler sie aus unvollkommenem Werkstoff erschafft, aus verrosteten Bruchstücken, aus Abfällen und Schrott, drückt er etwas über die Fehlbarkeit selbst der vollkommensten Wesen aus.«
»Wow«, sagte ich zu Wes, während Caroline sich den kleineren Skulpturen zuwandte und dabei anerkennend vor sich hin murmelte. »Ich bin schwer beeindruckt.«
»Ich auch«, antwortete er. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so ist. Als ich anfing Skulpturen zu machen, konnte ich mir einfach nichts anderes leisten als Metall vom Schrottplatz.«
Zu meiner eigenen Überraschung musste ich lachen. Und war dann noch überraschter – nein, geradezu geschockt –, als Wes mich plötzlich anlächelte. Das Lächeln eines Herzensbrechers. In dem Moment existierte wirklich nichts anderes mehr als genau dieser Moment: ich und Wes an einem Sonntag, umgeben von Engeln und Sonnenschein.
»Wahnsinn«, rief Caroline und holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. »Hast du für das Gesicht hier eine Metallplatte verwendet?«
Wes blickte zu ihr hinüber. Sie hockte vor einer Figur, deren Heiligenschein aus Kronkorken bestand.
»Das war ursprünglich ein altes Werbeschild für Coca-Cola. Habe ich im Sperrmüllcontainer entdeckt und rund zugeschnitten«, antwortete er.
»Ein Werbeschild für Coca-Cola«, wiederholte sie ehrfürchtig. »Und die Kronkorken . . . die unvermeidliche Vermischung von Religion und Kommerz. Das finde ich klasse, ziemlich klasse!«
Wes nickte. Er kapierte schnell und hatte längst gemerkt, wie man am besten mit meiner Schwester umging: Indem man sie einfach machen ließ. Deshalb antwortete er bloß: »Aha.« Und fügte an mich gewandt mit gedämpfter Stimme hinzu: »Mir hat einfach das alte Schild gefallen.«
»Kann ich mir vorstellen«, antwortete ich.
Ein leichter Wind kam auf, so dass die Heiligenscheine der kleineren Figuren sich wieder in Bewegung setzten. Bei einem hatte Wes mehrere Glöckchen eingearbeitet, die jetzt leise bimmelten. Ich beugte mich vor, schaute genauer hin: Hinter den Glöckchen, die wie auf einem Karussell an mir vorbeisausten, entdeckte ich eine etwas größere Skulptur, die sich entsprechend langsamer drehte. Ein kleiner Engel mit einem Heiligenschein aus flachen Steinen. Doch als ich einen davon berührte, merkte ich, dass es sich gar nicht um einen Stein handelte, konnte jedoch nicht sofort einordnen, was genau es war.
»Was ist das?«, fragte ich Wes.
»Abgeschliffene Glasscherben. Vom Meer.« Wes stand dicht neben mir, beugte sich mit mir zusammen vor. »Siehst du die Formen? So glatt, fast weich. Überhaupt keine scharfe Kanten mehr.«
»Natürlich, Strandglas. Das ist ja super.«
»Und schwer zu finden«, meinte er. Der Wind flaute wieder ab. Wes streckte die Hand aus und stupste den Heiligenschein mit einem Finger an, damit er sich weiterdrehte und das Sonnenlicht sich im Glas brach. Er stand so dicht neben mir, dass sich unsere Knie beinahe berührten. »Ich habe eine ganze Sammlung davon auf dem Flohmarkt gekauft, für zwei Dollar oder so. In dem Moment wusste ich zwar noch gar nicht, was ich damit anstellen sollte, aber die Dinger waren einfach zu cool, um sie nicht mitzunehmen.«
»Diese Skulptur ist wunderschön«, sagte ich. Und das war absolut die Wahrheit. Je schneller der Heiligenschein sich drehte, umso mehr verschwammen die Farben ineinander, vermischten sich die Lichtbrechungen im Glas. Wie beim Meer, dachte ich, und betrachtete das Gesicht des Engels. Er hatte Augen aus Dichtungsringen, und sein Mund war ein winziger Schlüssel, genauso einer wie der, den ich früher gehabt hatte, um mein Tagebuch abzuschließen. Was mir jetzt erst auffiel.
»Möchtest du ihn haben?«
»Das geht nicht«, antwortete ich.
»Natürlich geht das. Ich schenke ihn dir.« Er hob den Engel hoch, ließ seine Finger über die winzigen Zehen gleiten. »Hier, nimm.«
»Wes, nein.«
»Doch. Irgendwann schenkst du mir dafür was anderes, okay?«
»Was denn?«
Er überlegte kurz, bevor er antwortete: »Wir laufen einen Kilometer zusammen und finden raus, ob du mich schlägst oder nicht.«
»Ich würde dir lieber was dafür bezahlen.« Ich holte mein Portemonnaie aus meiner Hosentasche. »Wie viel?«
»Macy, ich habe nur Spaß gemacht. Ich weiß, dass du schneller bist als ich.« Wieder lächelte er mich an. Bäng, dachte ich.
»Jetzt nimm schon.« Er hielt mir den Engel hin.
Ich wollte gerade noch einmal widersprechen, doch dann überlegte ich es mir anders. Warum nicht ausnahmsweise mal was geschehen lassen, fragte ich mich und betrachtete den Engel in seiner Hand, die funkelnden Glasstücke. Ich wollte diese Skulptur. Ich hätte zwar nicht erklären können, warum, hätte nicht gewusst, was ich sagen sollte, wenn ich danach gefragt worden wäre. Aber ich wollte den Engel, Punkt.
»Okay«, erwiderte ich. »Aber irgendwann und irgendwie bezahle ich dir was dafür.«
»Wie du willst.« Er drückte mir den Engel in die Hand.
Caroline näherte sich, wobei sie vor jeder einzelnen der kleineren Skulpturen stehen blieb, um sie genauestens zu betrachten. Gleichzeitig telefonierte sie auf ihrem Handy, das sie aus der Handtasche geholt hatte ohne diese wieder zu schließen: ». . . nein, eher so was wie Freilichtskulpturen. Sie würden wunderbar auf die hintere Terrasse in den Bergen passen, du weißt schon, oberhalb des Steingartens, den ich anlegen will. Schade, dass du nicht hier bist, um sie dir selbst anzuschauen. Sie sind tausendmal schöner als die gusseisernen Reiher, die sie bei uns im Gartencenter für Hunderte von Dollar verhökern. – Ich weiß, Liebling, dir haben die Reiher gut gefallen, aber diese Skulpturen sind viel besser, glaub mir.«
»Gusseiserne Reiher?« Wes blickte mich fragend an.
»Sie wohnt in Atlanta«, sagte ich, als würde das alles erklären.
»Okay, Schatz, ich muss Schluss machen. Bis später. Ich liebe dich, tschü-üs.« Sie klappte das Handy zusammen, ließ es in ihre Tasche fallen, klappte diese ebenfalls zu und hängte sie sich wieder über die Schulter. »Okay, dann reden wir mal über Geld«, sagte sie zu Wes.
Ich stand mit meinem Engel ein wenig abseits und sah zu, wie sie die verschiedenen Skulpturen durchgingen, um über Preise zu verhandeln, was allerdings des Öfteren durch einen kleinen Vortrag Carolines über die Bedeutung dieser oder jener Skulptur unterbrochen wurde, während Wes höflich zuhörte. Als das Ganze endlich vorbei war, hatte meine Schwester drei Engel erworben, unter anderem den mit dem Cola-Schild und dem Kronkorken-Heiligenschein, sowie Wes seine Telefonnummer abgeluchst, weil sie fest vorhatte, einen Termin mit ihm zu vereinbaren. Bei nächster Gelegenheit wollte sie zu ihm in die Werkstatt rausfahren und seine größeren Stücke begutachten.
»Ein Schnäppchen«, sagte sie, riss einen Scheck über eine nicht unbeträchtliche Summe aus ihrem Scheckheft und gab ihn Wes. »Wirklich, du solltest mehr für deine Sachen verlangen.«
»Wenn ich meine Skulpturen mal woanders ausstellen könnte, dann vielleicht.« Er faltete den Scheck zusammen, steckte ihn in die Tasche. »Aber wenn man von hausgemachten Backwaren umzingelt ist, darf man es mit den Preisen nicht übertreiben.«
»Du wirst bestimmt mal richtige, hochwertige Ausstellungen haben.« Caroline klemmte sich zwei ihrer Engel unter den Arm. »Das ist bloß eine Frage der Zeit.« Sie blickte auf die Uhr. »Macy, wir müssen dringend los. Ich habe Mama gesagt, wir wären mittags wieder daheim, damit wir genug Zeit haben, uns noch ein paar weitere Farben anzuschauen.«
Ich hatte das dumpfe Gefühl, meine Mutter würde nicht allzu traurig sein, wenn ihr das erspart blieb. Schließlich hatte sie schon heute Morgen beim Frühstück ausgesehen wie bei einer Wurzelbehandlung, als sie mit Caroline – die sie sanft, aber beharrlich dazu gebracht hatte mitzumachen – Kataloge wälzen musste, um Fenster und ein Oberlicht auszusuchen. Aber selbst wenn ich Caroline darauf aufmerksam machte, dass meine Mutter vermutlich gut auf Muster und Ähnliches verzichten konnte – bringen würde es sowieso nichts. Deshalb hielt ich den Mund, zumal meine Schwester gerade schon wieder was anderes im Kopf hatte, nämlich einen Engel mit einem Heiligenschein aus Heftzwecken, der ihr bisher entgangen war.
»Vielen Dank noch mal für den Engel«, sagte ich zu Wes.
»Danke dir, dass du deine Schwester vorbeigebracht hast. Ich habe ein gutes Geschäft gemacht.« Er warf einen Blick zu Caroline hinüber, die immer noch völlig verzückt vor dem Heftzwecken-Engel hockte.
»Das liegt an ihr, nicht an mir.«
»Schon klar«, meinte er. »Trotzdem danke.«
»Entschuldigung«, rief eine Frau, die neben der großen Skulptur stand, mit lauter, schriller Stimme. »Haben Sie von denen noch mehr?«
Wes blickte zu ihr hinüber. »Ich glaube, ich muss.«
»Ja, lauf. Bis bald«, sagte ich.
»Okay. Man sieht sich.«
Ich blickte ihm nach, während er auf die Frau zuging und sich höflich ihre Fragen anhörte. Dann betrachtete ich den Engel in meiner Hand. Fuhr mit dem Finger die glatt geschliffenen Glasscherben an seinem Heiligenschein entlang.
»Können wir?«, fragte Caroline hinter mir.
»Ja«, antwortete ich.