Als ich am nächsten Tag aufwachte, hatte ich so schlechte Laune wie noch nie. Die ganze Nacht über hatte ich kaum geschlafen, sondern mich hin und her gewälzt und wirres, schreckliches Zeug geträumt. Wobei der letzte Traum der Oberhorror war.
Ich ging während der Mittagspause mit meiner Sandwichtüte die Straße vor der Bibliothek entlang. Plötzlich bremste hupend ein Auto neben mir. Als ich den Kopf drehte, sah ich meinen Vater am Steuer sitzen. Er bedeutete mir mit einer Geste einzusteigen, aber gerade als ich die Tür öffnen wollte, machte der Wagen mit quietschenden Reifen einen Satz vorwärts und raste los. Mein Vater drehte sich zu mir um; ich sah deutlich, dass er Angst hatte, konnte jedoch nichts machen, überhaupt nichts, während das Auto unaufhaltsam auf eine dicht befahrene Kreuzung zusteuerte. Ich fing an zu rennen, und obwohl ich träumte, fühlte es sich vollkommen real an: das leichte Ziehen, das ich bei jedem Start am Knöchel verspürte, und das sichere Gefühl, bei diesem Lauf meinen Rhythmus, mein Tempo nicht zu finden. Jedes Mal, wenn ich meinen Vater fast eingeholt hatte, wenn ich glaubte, das Auto irgendwie, irgendwo festhalten zu können, glitt es mir durch die Finger – und damit auch mein Vater.
Keuchend wachte ich auf. Meine Beine hatten sich in meinen Decken und Laken verheddert. Ich strampelte mich frei und spürte das rasende Pochen meines Pulses im Handgelenk. Kein guter Einstieg in den Tag.
Als ich in die Küche kam, hing meine Mutter am Telefon, um die letzten Einzelheiten für die Wildflower-Ridge-Parade zum Unabhängigkeitstag inklusive Picknick zu klären, die sie seit Wochen minutiös geplant hatte. Mein Job würde es sein, am Informationstisch zu sitzen, die Leute aus der Nachbarschaft zu begrüßen, zu lächeln sowie höflich jede erdenkliche Frage zu beantworten, und das, nachdem ich eine halbe Schicht in der Bibliothek gearbeitet hatte, die trotz des heutigen Feiertags bis eins geöffnet sein würde. Selbst wenn ich gut beziehungsweise überhaupt geschlafen hätte, wäre das ein langer, anstrengender Tag geworden. Aber so hatte ich das Gefühl, der Tag dehnte sich endlos vor mir aus, zumal ich ja – bevor ich mich, vermutlich halb tot, auf meinem Stuhl am Informationstisch niederlassen konnte – erst Jasons Auftauchen, die Bibliothek und wer weiß was sonst noch hinter mich bringen musste.
Ich setzte mich an den Küchentisch, zwang mich, ein paar Löffel Müsli zu essen und nicht an das zu denken, was mir bevorstand. Nachdem meine Mutter aufgelegt hatte, kam sie mit ihrem Kaffeebecher zu mir und setzte sich neben mich. »Ich glaube, wir müssen wegen gestern Abend noch einmal miteinander sprechen.«
Ich legte meinen Löffel auf dem Rand des Schüsselchens ab. »Okay«, antwortete ich.
Sie atmete tief durch. »Ich denke, ich habe dir gegenüber bereits mehr als deutlich gemacht –«
Das Telefon begann zu klingeln. Meine Mutter stand auf, schob ihren Stuhl zurück, durchquerte die Küche und hob ab. Beim zweiten Klingeln.
»Deborah Queen«, sagte sie und hörte einen Moment zu, wobei sie mir den Rücken zuwandte. »Ja. Sehr gut. Ja. Spätestens um halb vier, bitte. Vielen Dank.« Sie legte auf und machte sich rasch eine Notiz, bevor sie zu mir an den Tisch zurückkehrte. Im Hinsetzen meinte sie: »Tut mir Leid.« Nahm ihren Becher, trank einen Schluck Kaffee. »Wir sprachen ja bereits darüber, dass ich über die Veränderungen, die mir in letzter Zeit bei dir aufgefallen sind, nicht eben glücklich bin. Gestern Abend wurde mein Eindruck bestätigt, dass ich allen Grund habe, mir Sorgen zu machen.«
»Mama, du hast keine –«
Aus ihrer Handtasche, die auf der Küchentheke stand, ertönte ein schrilles Klingeln. Meine Mutter schnappte sich die Tasche, wühlte darin herum, drückte auf den Sprechknopf, hielt sich das Handy ans Ohr. »Deborah Queen. Hallo, Marilyn. Nein, Sie stören überhaupt nicht. Lassen Sie mich nur rasch die Zahlen für Sie raussuchen.« Mit erhobenem Finger signalisierte sie mir, mich nicht von der Stelle zu rühren, wobei sie aufstand und durch den Flur in ihr Arbeitszimmer entschwand. Dieses Gespräch war als solches schon grausam genug. Durch die ständigen Unterbrechungen wurde es die reinste Folter.
Als meine Mutter das Gespräch beendet hatte und wieder in die Küche kam, hatte ich bereits meine Müslischüssel unter den Wasserhahn gehalten und in die Spülmaschine gestellt.
»Langer Rede kurzer Sinn . . .«, sagte sie im Hinsetzen und als hätte es überhaupt keine Unterbrechung gegeben, ». . . ich wünsche, dass du deine Freizeit in Zukunft nicht mehr mit diesen Leuten verbringst. Du kannst von mir aus weiter für den Catering-Service arbeiten, aber sonst nichts.«
Vielleicht lag es daran, dass ich müde war. Oder daran, dass sie nicht ein einziges Mal mit mir reden konnte, und dann auch noch über ein so schwieriges Thema, ohne das Gespräch alle paar Sekunden zu unterbrechen. Egal. Was ich als Nächstes sagte, verblüffte jedenfalls uns beide.
»Warum?«
Nur ein einziges Wort. Aber mit diesem einen Wort hatte ich meiner Mutter, soweit ich zurückdenken konnte, zum ersten Mal in meinem Leben bewusst widersprochen, und sei es auch noch so dezent.
»Macy, dieser junge Mann ist schon einmal verhaftet worden.« Meine Mutter betonte jedes Wort. »Ich bin dagegen, dass du mit so jemandem zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Gegend rumfährst –«
Wieder begann das Telefon zu klingeln. Sie wollte schon aufstehen, hielt jedoch inne. Das Telefon klingelte noch zweimal und verstummte.
»Hör zu, mein Schatz«, sagte sie und ihre Stimme klang erschöpft. »Ich weiß, was passiert, wenn sich jemand mit den falschen Leuten rumtreibt. Bei deiner Schwester habe ich das zur Genüge durchgemacht.«
»Aber es ist nicht fair«, antwortete ich. »Ich habe nichts verbrochen.«
»Es geht nicht um Bestrafung«, entgegnete sie, »sondern um Vorbeugung.« Als dozierte sie über Waldbrandbekämpfung oder eine ansteckende Krankheit. Ich wandte den Kopf ab und sah durchs Fenster hinaus in den Garten, wo das Gras im hellen Sonnenlicht glänzte.
»Macy, bitte mach dir Folgendes klar.« Meine Mutter sprach leise, aber eindringlich. »Was du jetzt tust, prägt dein ganzes Leben. Die Menschen, mit denen du dich umgibst, die Entscheidungen, die du triffst, können dich, deine Persönlichkeit, deine Zukunft unwiderruflich verändern. Verstehst du, was ich meine?«
Und wie ich es verstand. Besser als je zuvor. Denn in den wenigen Wochen, seit ich mich mit Kristy und – noch viel wichtiger – mit Wes angefreundet hatte, hatte ich mich verändert. Sie halfen mir zu erkennen, dass die Welt aus mehr bestand als aus Angst. In dem Sinne hatten sie mich tatsächlich geprägt. Allerdings nicht in der Art und Weise, vor der meine Mutter sich fürchtete.
»Ich verstehe dich genau.« Ich hätte es ihr so gern erklärt. »Aber –«
Sie fiel mir ins Wort. »Dann bin ich ja zufrieden.« In diesem Augenblick begann das Telefon erneut zu klingeln. »Und ich bin sehr froh, dass wir einer Meinung sind.«
Dann stand sie auf, ging zum Telefon, hob ab. War weg. »Deborah Queen«, sagte sie. »Harry. Hallo. Ja, ich dachte auch gerade, dass ich unbedingt noch mit Ihnen sprechen muss . . .« Telefonierend ging sie durch den Flur davon. Ich saß in der Küche, in der es plötzlich sehr still geworden war. Meine Mutter war für alle und jeden zu erreichen. Man musste nichts weiter tun als eine Nummer zu wählen und zu warten, bis sie abhob. Wenn es für mich doch auch nur so einfach wäre.
Als ich zur Arbeit aufbrechen wollte, musste ich feststellen, dass mein Auto in unserer Auffahrt von einem Lieferwagen voller Klappstühle blockiert wurde. Also ging ich wieder ins Haus und schaffte es sogar, meine Mutter bei einem ihrer vielen Telefonate zu unterbrechen. Viel weiter half mir das allerdings nicht, denn der Mensch, der den Lieferwagen dort abgestellt hatte (und der für meine Mutter arbeitete), hatte den Schlüssel mit nach Hause genommen.
»Ich fahre dich schnell zur Bibliothek.« Meine Mutter schnappte sich ihre Handtasche von der Küchentheke. »Aber wir müssen uns beeilen, ich habe noch irrsinnig viel zu tun.«
Da saßen wir nun in dem kleinen beengten Raum, der ihr Wagen war. Und schwiegen. Die ganze Fahrt über. Dieses Schweigen wurde noch verstärkt, als der Wagen im Stau stecken blieb. Immer noch saßen wir schweigend da, eingezwängt zwischen anderen gereizten Menschen in ihren Autos. Vermutlich war meiner Mutter überhaupt nicht bewusst, dass ich sauer war. Bis wir in ihr Auto eingestiegen waren, hatte ich es selbst kaum bemerkt, doch mittlerweile spürte ich, wie ich mit jeder Sekunde saurer wurde. Sie hatte mir die Sachen meines Vaters weggenommen, meine Erinnerungen an ihn, und jetzt wollte sie mir auch noch meine Freunde wegnehmen. Ich musste zumindest versuchen, mich dagegen zu wehren.
»Du siehst müde aus, mein Schatz«, sagte sie schließlich, nachdem ein paar weitere Minuten ohne ein Wort vergangen waren. Ich wusste, dass sie mich ansah, hatte ihren Blick jedoch noch nicht erwidert. »Hast du nicht gut geschlafen?«
Mein übliches Nein-alles-okay-mir-geht-es-gut lag mir schon auf der Zunge, doch dann hielt ich inne. Nichts ist okay, dachte ich. Und antwortete deshalb: »Nein, habe ich nicht. Ich habe schlecht geträumt.«
Hinter uns hupte jemand.
»Wirklich?«, sagte sie. »Wovon?«
»Von Dad, wenn du es genau wissen willst.« Während ich das sagte, sah ich sie dann doch an. Sah, wie ihre Finger, die sich ums Lenkrad krampften, für einen Moment ganz weiß wurden, bevor sie sich wieder ein wenig entspannten. Ich verspürte ein bohrendes Gefühl in der Magengrube. Fast so, als würde ich gerade etwas ganz und gar Falsches tun.
»Ach wirklich?« Sie schaute stur geradeaus auf die Straße. Der Verkehr kam allmählich wieder ins Rollen.
»Ja«, antwortete ich. »Es war ziemlich unheimlich. Er saß in einem Auto und –«
»Wahrscheinlich war es in deinem Zimmer zu heiß.« Meine Mutter beugte sich vor und drehte am Regler der Klimaanlage. »Ich habe dir schon immer gesagt, du hast zu viele Decken auf deinem Bett. Du weißt doch, wenn dir zu heiß wird, hast du Alpträume.«
Ich wusste, was sie vorhatte: mich durch gezielte Sätze dieser Art behutsam wieder auf Spur bringen.
»Trotzdem ist es komisch.« Ich musste mich regelrecht zwingen weiterzusprechen. »Nachdem er gestorben war, habe ich oft von ihm geträumt, in letzter Zeit allerdings überhaupt nicht mehr. Wahrscheinlich hat es mich deshalb letzte Nacht auch so aufgewühlt. Er steckte in großen Schwierigkeiten, aber ich konnte ihm nicht helfen, was mir totale Angst eingejagt hat.«
Ich redete viel zu schnell, doch da standen sie zwischen uns – diese paar Sätze. So viel hatte ich mit meiner Mutter über meinen Vater seit dessen Tod nicht mehr gesprochen. Schon dass ich es überhaupt gesagt hatte, schon dass die Worte die Kluft zwischen innen und außen überwunden hatten, grenzte an ein Wunder. In einer Mischung aus Angst und Aufgekratztheit wartete ich darauf, was als Nächstes passieren würde.
Meine Mutter atmete tief durch. Ich krallte meine Fingernägel in meine Handflächen.
»Es war nur ein Traum«, sagte sie.
Und das war’s. Die ganze Anspannung umsonst. Ich hatte mich so angestrengt, um den Mut zum Springen aufzubringen – und nichts geschah. Ich fiel nicht, stürzte nicht, flog nicht. Stattdessen stand ich wieder am Rand des Abgrunds, rieb mir verwundert die Augen und fragte mich, ob ich überhaupt je gesprungen war. Irgendwas läuft hier falsch, dachte ich. Meine Mutter saß neben mir am Steuer, die Augen unverwandt auf die Straße gerichtet.
Sie hielt vor der Bibliothek. Ich nahm meine Handtasche, öffnete die Tür, stieg aus. Glühende Hitze schlug mir vom Asphalt entgegen.
»Wie kommst du nach Hause?«, fragte sie mich. »Soll ich dich abholen?«
»Ich finde bestimmt jemanden, der mich schnell fährt«, antwortete ich.
»Wenn ich nichts anderes von dir höre«, sagte sie, »erwarte ich dich um Punkt sechs am Eingang zum Park, wo der Begrüßungstisch aufgebaut sein wird.«
Ich nickte und schloss die Tür. Meine Mutter fuhr davon. Ich stand da, blickte ihr nach und merkte auf einmal: Das war ja wie in meinem Traum. Ich stand an derselben Stelle vor der Bibliothek und ein Wagen fuhr davon. Als wäre ich überhaupt nicht aufgewacht. Als würde ich jeden Moment meine Augen aufschlagen und ein anderer Morgen beginnen, an dem alles völlig anders laufen würde. Doch als meine Mutter, kurz bevor sie um die Ecke bog, sich umwandte, um mir zuzuwinken, wirkte sie im Gegensatz zu meinem Vater in meinem Traum nicht so, als hätte sie Angst oder würde mich brauchen. Mit ihr war alles okay. Nein, mir geht’s gut, alles in Ordnung.
Um zwölf Minuten nach neun betrat ich die Bibliothek. Bethany und Amanda, die schon auf ihren Plätzen saßen, blickten auf. Bethany warf erst einen Blick auf die Uhr an der Wand und danach auf mich.
»Da war ein Stau auf der Cloverdale Road.« Ich stieß die Schwingtür auf und mir das Knie an ihrem Stuhl. Wartete, dass sie etwas zur Seite rückte, damit ich vorbeikam, doch vergeblich. Deshalb schlängelte ich mich um sie herum, mit der Folge, dass mir nun Amandas Stuhl im Weg stand. Die üblichen kleinen Schikanen eben.
»Ich bin die Strecke auch langgefahren«, meinte Amanda kühl und verrückte ihren Stuhl auf leise quietschenden Rollen so, dass sie mir den Weg noch weiter blockierte. »Ich hatte keine Probleme.«
Ich manövrierte um sie herum, wobei ich nun dem Papierkorb ausweichen musste, und stellte meine Tasche auf den Boden neben meinem Stuhl, auf dem sich Zeitschriften stapelten. Bevor ich mich hinsetzen konnte, musste ich sie erst einmal auf den Tisch bei meinem Computer legen. Seit Wochen ließ ich mir das gefallen. Seit Wochen. Warum? Weil ich mich verpflichtet fühlte? Wem überhaupt? Etwa Jason? Schließlich hatte er seine Verpflichtungen mir gegenüber so problemlos abgeschüttelt wie eine schlecht sitzende zweite Haut. Und meiner Mutter, die mich für nicht pflichtbewusst genug hielt, obwohl ich in der Bibliothek die ganze Zeit still und tapfer vor mich hin gelitten hatte, schuldete ich meines Erachtens erst recht nichts.
Es stand einfach nicht dafür. Absolut nicht.
Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die von Jasons überraschender Stippvisite erfahren hatte. Den ganzen Morgen über waren Bethany und Amanda richtiggehend ausgelassen, wirbelten und schwatzten, sortierten Rechnungen der Zeitschriften, die in seiner Abwesenheit eingegangen waren, brachten das System auf den neuesten Stand. Meine Wenigkeit wurde ins hintere Zimmer verbannt, um alte, halb verschimmelte Zeitschriften mit Stockflecken zu ordnen. Ich hatte noch etwa zwei Stunden Zeit, um über Jason nachzudenken und darüber, was ich zu ihm sagen sollte, wenn ich ihn sah. Aber je mehr ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, umso hartnäckiger wanderten meine Gedanken zu Wish Catering und Wes und allem, was in den letzten Wochen passiert war. An dem Abend, als Jason mir die Mail schrieb, er wolle sich von mir trennen, hatte ich an nichts anderes denken können als daran, wie ich die Sache zwischen uns wieder in Ordnung bringen konnte. Doch jetzt war ich mir nicht mehr sicher, was ich eigentlich wollte.
Nachdem ich mit dem Sortieren der Zeitschriften fertig war, setzte ich mich wieder an meinen Platz an der Theke und starrte durchs Fenster zu der Mauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Countdown bis zu Jasons Ankunft lief. Immer wieder schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass sich die große gläserne Eingangstür jeden Moment öffnen und etwas geschehen würde. Ich wusste bloß nicht, was.
Amanda und Bethany unterhielten sich eifrig auf Französisch; sie wollten in den letzten Wochen der Sommerferien einen Sprachkurs machen und übten schon mal. Nervös und durcheinander, wie ich war, trieb mich das Genäsel fast in den Wahnsinn. Nur deshalb fiel es mir wahrscheinlich überhaupt auf, als sie endlich damit aufhörten. Vollkommen unvermittelt.
Gut festhalten, Macy, dachte ich, jetzt geht’s los. Gerade hatte Amanda noch irgendetwas von den Champs-Élysées geflötet, doch im nächsten Moment starrten beide zur Eingangstür. Sprachlos.
Ich blickte auf, hatte Jason bereits vor meinem geistigen Auge. Aber es war nicht Jason. Es war Wes.
Er war gerade hereingekommen, stand an der Eingangstür und schaute sich um, als müsste er sich erst einmal sammeln. Dann entdeckte er mich und bewegte sich in seinem wohl bekannten Schlendergang auf uns drei zu.
Während er sich näherte, hörte ich die Rollen an Bethanys und Amandas Stühlen aufgeregt quietschen: Die beiden rückten näher an die Theke heran, setzten sich aufrecht und erwartungsvoll hin. Doch Wes trat direkt auf mich zu.
»Hallo«, sagte er.
In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nicht so gefreut jemanden zu sehen. »Hallo.«
Wes beugte sich ein wenig vor. »Ich wollte dich bloß –«
»Entschuldigung«, sagte Bethany mit lauter, klarer Stimme.
Wes wandte sich um und sah sie an. Ich nahm alles an ihm genau wahr: sein Profil, seinen Arm, das kleine Stück Herzhand, das unter seinem Ärmel hervorguckte.
»Wir helfen dir gerne«, fuhr Bethany fort. »Hast du irgendeine Frage?«
»Äh . . . ja . . .« Wes blickte mich an. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber –«
»Die kann ich bestimmt auch beantworten.« Bethanys Stimme klang so fest, so von sich selbst überzeugt. Amanda nickte zustimmend.
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Wes, bevor er sich wieder mir zuwandte und fragend die Augenbrauen hob. Ich zuckte nur die Schultern.
»Okay, also –«
Bethany fiel ihm ins Wort. »Sie ist bloß Praktikantin und kann dir ganz sicher nicht weiterhelfen.« Rutschte auf ihrem Stuhl etwas näher an Wes heran und sagte in chefmäßigem Ton: »Es wäre wirklich besser, wenn du dich an mich wenden würdest beziehungsweise an uns.«
Und jetzt – aber wirklich erst jetzt – bemerkte ich, dass Wes einen Hauch genervt wirkte. »Danke«, antwortete er, »aber ich bin mir sicher, sie kennt die Antwort auf meine Frage.«
»Nein. Frag mich.«
Jetzt war er nicht mehr nur einen Hauch genervt. Als er mich ansah, verengten sich seine Augen wie bei einem Tiger vor dem Sprung. Ich erwiderte seinen Blick. Furchtlos. Was auch immer jetzt geschieht, dachte ich, es ist mir egal. Und zum ersten Mal überhaupt schlich die Zeit an der Infotheke nicht dahin. Nein, sie flog.
»Na gut«, sagte Wes gedehnt. Er trat näher an Bethany heran, stützte sich auf seine Ellbogen und beugte sich zu ihr hinunter. Sie setzte sich noch aufrechter hin als sowieso schon und blickte ihn gespannt an. Genau wie jemand, der bei Wer wird Millionär? nur noch die alles entscheidende Frage beantworten muss, um endgültig abzuräumen. »Meine Frage lautet . . .«
Amanda nahm einen Stift in die Hand, als glaubte sie einen Teil dieser Herausforderung schriftlich erledigen zu müssen.
»Weißt du, wo die großen Servierzangen hingekommen sind, als wir gestern Abend die Sachen weggeräumt haben?«, fragte Wes mit todernster Stimme.
Das Absurde war, dass Bethany für den Bruchteil einer Sekunde tatsächlich aussah, als würde sie den Karteikasten in ihrem Kopf nach der Antwort durchsuchen. Doch dann schluckte sie und spitzte leicht die Lippen. »Nun . . .« Mehr sagte sie nicht.
Ich merkte, dass ich lächelte. Nein: breit, unverhohlen und schamlos grinste.
Wes richtete seinen Blick auf Amanda. »Weißt du’s?«
Amanda schüttelte langsam den Kopf.
»Na dann.« Wes wandte sich wieder mir zu. »Frag ich doch besser die Praktikantin. Macy?«
Ich konnte Amandas und Bethanys Blicke auf meiner Haut spüren wie Stiche. »Auf dem Servierwagen mit dem kaputten Rad, und zwar unter den Schürzen«, antwortete ich. »Bei den anderen Servierbestecken war kein Platz mehr dafür.«
Wes lächelte mich an. »Ach so.« Er schüttelte den Kopf, als hätte er auch selbst darauf kommen können. »Klar, wo sonst?«
Das Quietschen der Räder verriet mir, dass Bethany und Amanda entlang der Theke den Rückzug antraten. Wes sah ihnen ungerührt nach und beugte sich dann ganz dicht zu mir.
»Nette Kolleginnen«, meinte er halblaut.
»Ja, stimmt«, erwiderte ich, jedoch nicht ganz so leise. »Sie können mich nicht ausstehen.«
Die Stühle rollten plötzlich nicht mehr weiter. Stille. Ja und? Als wäre das ein Geheimnis gewesen.
»Und sonst? Wie läuft es so bei euch?«, fragte ich.
»Das übliche Chaos.« Wes fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Delia flippt aus, weil über Nacht eine der Kühlboxen den Geist aufgegeben hat und alles, was drin war, schlecht geworden ist. Kristy und Monica sind wegen des Feiertags ans Meer gefahren, deshalb müssen Delia, Bert und ich mal eben fünf Eimer Kartoffelsalat improvisieren und die ganze Veranstaltung zu dritt managen. Nachdem ich gerade zum Supermarkt geflitzt war, weil wir natürlich nicht mehr genug Mayonnaise hatten, rief Delia völlig verzweifelt an und meinte, sie könne die Servierzangen nirgends finden; ich solle doch bitte hier vorbeifahren und dich fragen.« Er atmete einmal tief durch, bevor er sich erkundigte: »Und wie war dein Tag so bisher?«
»Frag nicht.«
»Ist ein gewisser Freund schon aufgetaucht?«
Er hat es also doch mitgekriegt, dachte ich. Und schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht.«
»Sag dir einfach, es könnte noch viel schlimmer sein«, meinte Wes. »Zum Beispiel, wenn du gerade Kartoffelsalat machen müsstest. Stell dir vor, du würdest bis zu den Ellbogen in Mayonnaise verschwinden.«
Wahrlich keine schöne Vorstellung. Ich schnitt eine übertrieben angewiderte Grimasse.
»Folgendes . . .« Wes fuhr mit der Hand über die Fläche zwischen uns. »Es wäre einfach Spitze, wenn du uns helfen könntest. Schade, dass du hier nicht wegkommst.«
In den Sekunden, die nun vergingen, hörte ich nichts weiter als die ewige Grabesstille der Bibliothek. Das Ticken der Wanduhr. Das leise Knarren von Bethanys Stuhl. Und das gab – nach allem, was in diesem Raum geschehen war, von meinem ersten Tag hier bis zu den letzten fünf Minuten – den Ausschlag.
»Vielleicht ja doch«, erwiderte ich.
Wandte mich um, sah Bethany und Amanda an. Sie taten, als wären sie in irgendwelche Fachzeitschriften vertieft, spitzten aber gleichzeitig die Ohren, um ja kein Wort von unserer Unterhaltung zu verpassen. »Hey«, sagte ich. Sie blickten gleichzeitig auf, ein Wesen mit zwei Köpfen. »Wisst ihr was? Ich glaube, ich gehe jetzt mal.«
Ein paar Sekunden vergingen, während meine Worte langsam einsickerten.
Amanda sah mich verdutzt an. »Aber du hast erst in einer Stunde frei.«
»Ja, deine Schicht endet um eins«, fügte Bethany hinzu.
Ich nahm meine Tasche und meinte lapidar: »Wie komme ich bloß darauf, dass ihr mich nicht weiter vermissen werdet?« Stand auf, schob meinen Stuhl ordentlich an die Theke. Wes, die Hände in den Hosentaschen, betrachtete mich neugierig, geradezu fasziniert.
Ich warf einen letzten langen Blick auf die Infotheke, an der ich so lange vor mich hin vegetiert hatte. Vielleicht mache ich ja einen Riesenfehler, dachte ich. Und wenn schon. Der noch viel größere Fehler ist doch längst passiert. Ich hatte von vielem keine Ahnung, hätte ich nie behauptet, aber eines wusste ich mit Bestimmtheit: Sofern es sich um mein persönliches Immer handelte, wollte ich keine Sekunde länger an diesem Ort verbringen. Auf gar keinen Fall.
»Wenn du jetzt gehst«, presste Bethany hervor, »gibt es kein Zurück. Du kannst nicht wiederkommen.«
»Damit hast du vollkommen Recht«, antwortete ich. Und war unendlich froh, dass sie Recht hatte. »Ich kann nicht zurückkommen.«
Ich wollte hinter der Theke entlang zur Schwingtür laufen, aber wie üblich versperrte mir Amandas Stuhl den Weg. Und dahinter Bethanys. Da ich schon an meinem ersten Arbeitstag – und seitdem an jedem verfluchten Tag – einen wahren Hindernislauf hatte veranstalten müssen, um überhaupt hier reinzukommen, fand ich, dass ich zumindest beim Hinausgehen freie Bahn verdient hatte.
Ich warf meine Handtasche über die Theke. Mit einem dumpfen Klatschen landete sie neben Wes’ Füßen auf dem Boden. Dann hob ich ein Bein und schwang mich in einer einzigen, fließenden Bewegung über die Theke. Selbst meine Schwester, die alte Rebellin, wäre stolz auf mich gewesen! Bethany und Amanda kriegten den Mund überhaupt nicht mehr zu.
»Wow!« Wes hob die Augenbrauen. Ich sammelte meine Handtasche vom Boden auf.
»Nicht schlecht«, sagte er außerdem. »Gekonnter Abschwung.«
»Danke«, entgegnete ich.
»Macy«, zischte Bethany. »Was ist bloß in dich gefahren?«
Doch ich antwortete nicht. Ich blickte nicht ein einziges Mal mehr zurück, während Wes und ich durch die Bibliothek auf den Ausgang zuliefen. Alle starrten uns nach. Es fühlte sich einfach richtig an. Nicht dass ich ging, nein, auch wie ich ging. Ohne groß darüber nachzudenken, ohne es zu bereuen. Und es fühlte sich richtig an, es zusammen mit Wes zu tun. Er hielt mir die Tür auf, ich trat hindurch. Ins Licht.